Jörg Kündig steht im Zentrum des Debakels um das Spital Wetzikon. Es geht um Millionen und die Zukunft einer ganzen Branche.
Er ist einer der einflussreichsten Politiker im Kanton Zürich, und er wirkte stets unerschütterlich. Ein staatstragender Mann von altem Schlag – einer, der sich stolz jede Aufgabe aufbuckelt und dann noch eine obendrauf. Der Kiefer definiert vom Auf-die-Zähne-Beissen.
Jetzt ist Jörg Kündig, 64-jährig, das Gesicht eines Debakels, das Schockwellen durch das ganze Land jagt. Seine Augen wandern ruhelos hin und her, als er bei einem Treffen mit der NZZ nach Antworten sucht. Aus dem Alphatier ist ein Fluchttier geworden.
Kündig und seine Mitstreiter haben sich bei einem Neubau für das Zürcher Regionalspital Wetzikon derart verkalkuliert, dass Investoren, die dafür 170 Millionen Franken geliehen hatten, am Tag der Rückzahlung keinen Franken bekamen. So etwas gab es seit dem Untergang der Swissair nicht mehr. Der Fall droht sich zur landesweiten Krise auszuweiten, weil das Vertrauen der Anleger in die Spitäler erschüttert ist.
Der Einzige, der von Anfang an dabei war, ist Kündig. Er hat als Verwaltungsratspräsident mit seinem Spital einen neuen Weg beschritten und Geld am Kapitalmarkt aufgenommen. Und nun muss er die Folgen dieses Entscheids tragen.
Die Anfänge: die goldenen Zeiten des Zürcher Freisinns
Jörg Kündigs politische Karriere ist tief in den 1990er Jahren verwurzelt, in einer Welt des Zürcher Freisinns, die es so nicht mehr gibt. Als er in den Gemeinderat von Gossau gewählt wird, ist die FDP wählerstärkste Partei des Landes und eng verzahnt mit den grossen Unternehmen des Landes. Es ist eine Zeit, in der es normal ist, dass die Zürcher Ständerätin Vreni Spoerry in den Verwaltungsräten von Swissair, Credit Suisse, Zurich-Versicherung und Nestlé sitzt.
Während diese Welt untergeht, geht es mit Kündig zwanzig Jahre lang bergauf: Der Bank-Kadermann und Treuhänder wird Kantonsrat, Gemeindepräsident, Oberst im Generalstab, Verwaltungsratspräsident des Spitals Wetzikon und schliesslich als Präsident des Verbands der Gemeindepräsidien zum höchsten Vertreter aller Zürcher Gemeinden. Und all das macht er gleichzeitig.
Es sind nicht nur «ein gewisser Ehrgeiz und die Freude an den Aufgaben», die ihn antreiben, immer neue Ämter zu übernehmen. Die Mandate seien auch an ihn herangetragen worden, sagt Kündig, weil man sie ihm zugetraut habe – und er sie sich selbst auch. Er ist überzeugt, dass er überall überdurchschnittlichen Einsatz gezeigt hat und erfolgreich war. Andere hätten ihm dies bestätigt, sagt er im Gespräch. «Vielleicht rede ich zu wenig gerne darüber . . .»
Verwaltungsratspräsident eines Spitals mit 900 Angestellten wird Kündig als direkte Folge seines politischen Amts. Er hat als Gemeindepräsident dafür geworben, den Betrieb von einem Zweckverband mehrerer Gemeinden in eine AG umzuwandeln, damit das Spital unternehmerisch agieren kann. Und als es 2009 so weit ist, wählt man ihn, der schon dem Zweckverband vorstand, an die Spitze des Verwaltungsrats.
Auf dem Zenit: In Gossau laufen viele Fäden zusammen
Kündig ist der richtige Mann zur richtigen Zeit. Denn bald beginnt für die Spitäler ein neues Zeitalter: Sie müssen ihre Bauprojekte, für die früher die öffentliche Hand aufkam, selbst finanzieren. Und Kündig, im Bankenwesen gut vernetzt, hat einen Plan.
Er schlägt vor, Geld am Kapitalmarkt aufzunehmen. Das Risiko sei vertretbar, glaubt er, und das glauben auch die Investoren. Denn die Spitäler hätten notfalls das Privileg staatlicher Sicherheiten. Eine Fehleinschätzung, wie sich Jahre später zeigen wird.
Im Jahr 2014 setzt das Spital Wetzikon Kündigs Theorie in die Praxis um. Eine Pioniertat: Als erstes privatrechtliches Listenspital im Land beschafft es sich über eine Anleihe am Markt 170 Millionen Franken.
Das Geld soll in einen Neubau gesteckt werden. Kündig bewirbt diesen mit Worten, die wie ein spätes Echo auf die fatalen Expansionspläne der Swissair tönen: Er spricht von einer «klaren Wachstumsstrategie». Im Verwaltungsrat gibt es keinen Widerstand.
Der Hintergrund: Wetzikon befindet sich in Konkurrenz mit dem nahe gelegenen Spital Uster. Vom Neubau verspricht man sich einen Vorteil, falls sich dereinst die Frage stellen sollte, welches von beiden überlebt – wer Beton anrührt, schafft Fakten.
Jörg Kündig befindet sich auf dem Zenit. Seine Stimme hat das Gewicht des Repräsentanten aller Zürcher Gemeinden. Als Gesundheitspolitiker hat er sich bestens vernetzt. Und als Spitalstratege ist er ein Wegbereiter. In seinem Büro in Gossau laufen viele Fäden zusammen.
Kündig sieht nichts dabei, mehrere Hüte gleichzeitig aufzusetzen. Er gibt zum Beispiel bekannt, dass das Spital Wetzikon ausgerechnet in Gossau eine Aussenstelle aufbauen werde – in einem Neubau, den sein Vorgänger im Amt des Gemeindepräsidenten gerade plante. Das Vorhaben wird später verworfen.
Der Fall: zwei Telefonate und ein Netz, das nicht hält
Zur gleichen Zeit zeigen sich erste Spannungsrisse in der Biografie. Kündig bewirbt sich 2014 für die Kantonsregierung, doch der Vorstand der FDP zieht ihm andere vor. Vier Jahre später wird er erneut übergangen.
Dass er nicht nominiert worden sei, habe ihn extrem enttäuscht, sagen Weggefährten. Womöglich stand ihm seine gute Vernetzung sogar im Weg. Man habe seine vielen Ämter hinterfragt, heisst es in der FDP. Einige seien neidisch gewesen. Andere hat er gegen sich aufgebracht, weil er die Interessen der Gemeinden über jene der Partei gestellt habe.
Vielleicht scheiterte er aber auch daran, dass man in ihm nie den charismatischen Wahlkämpfer gesehen hat. Sondern eher den stillen Chrampfer, den Strippenzieher, den Mann im Hintergrund.
Trotz diesen Niederlagen bleibt Kündig eine der starken Figuren in der Zürcher Politik. Einer, der stolz sein kann auf das Erreichte. Doch am Chlausabend 2023 droht dieses Selbstbild plötzlich in sich zusammenzustürzen. Alles, was es dazu braucht, sind zwei Telefonate.
Kündig, so erzählt er es heute, ist bis dahin sicher, dass sein Plan aufgeht. Dass das Spital die 170-Millionen-Anleihe refinanzieren kann. Er hat einen Investor, der Anteile des Spitals kaufen will, um so dessen Eigenkapital zu erhöhen. Letzteres ist die Bedingung anderer Geldgeber.
Ab 2022 hätten sie den Plan Schritt für Schritt umgesetzt, sagt Kündig. Alle Rädchen greifen ineinander. Doch dann kommen in kurzer Folge die Anrufe: Die Geldgeber ziehen ihre Zusage zurück. Die finanzielle Situation des Spitals sei nicht gut genug.
Einen Plan B hat Kündig nicht. Und die Zeit läuft ihm davon: Im Juni 2024 wird das Geld fällig. In der Weihnachtszeit 2023 begibt er sich auf verzweifelte Rettungsmission. Er setzt sich wieder und wieder mit Banken zusammen. Am Ende ist die Botschaft deutlich: Ohne Staatsgarantie gibt es kein Geld.
Ihm bleibt als Ausweg nur noch, den Kanton um Hilfe zu bitten. Er, der wenige Jahre zuvor unrentable Spitäler tadelte, die in der Not zu «Dr. Steuerzahler» rennen, muss dies nun selbst tun. Denn auf dem Spiel steht die Zukunft des Spitals mit seinen 900 Mitarbeitern – und sein guter Ruf.
Kündig verfügt über beste Verbindungen in den Regierungsrat. Das ist sein Sicherheitsnetz, auf das er zählt. Doch es hält nicht. Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli zerreisst es mit wenigen Worten, als sie am 4. April 2024 vor die Öffentlichkeit tritt. Sie macht klar: Der Kanton wird das Spital Wetzikon nicht unterstützen – selbst wenn dies sein Ende bedeutet. Der Betrieb sei für den Kanton entbehrlich.
Es ist ein Satz, der Kündig den Boden unter den Füssen wegzieht. Und der ihn persönlich trifft. Er würde das nie so direkt sagen, dazu ist er zu kontrolliert. Er will das Emotionale und das Geschäftliche sauber trennen. «Das fällt einem manchmal leichter und manchmal weniger.» Es habe ihn getroffen, dass sein Einsatz für den Kanton während der Pandemie und danach unbeachtet geblieben sei: beim Impfbus, bei der Pflegeinitiative, in Bundesbern – die Liste ist lang.
Trotz dieser Enttäuschung sei er dem Auftrag verpflichtet und loyal. In diesem Satz klingt noch eine andere Seite von Kündig an: die des Stabsoffiziers der Armee. Vielleicht ist es dieser Charakterzug, der ihn durch die kommenden Monate trägt. Nach dem harten Entscheid der Gesundheitsdirektion rechnen alle damit, dass er im Spital den Hut nimmt. Doch er bleibt. Er sagt, es sei nicht seine Art, sich aus dem Staub zu machen, wenn es schwierig werde.
Freilich geht es hier nicht nur um Moral. Es geht auch um sein Vermächtnis. Und so greift er auf eine Losung zurück, die er im Militär gelernt hat: «Schnauze tief, Leistung erbringen.»
Das letzte Kapitel: die Suche nach einem Ausweg
Und tatsächlich zaubert Kündig nochmals eine Lösung aus dem Hut – oder das, was er dafür hält. Denn schnell zeigt sich, dass ihm inzwischen als Schwäche ausgelegt wird, was einst seine Stärke war: sein dichtes Netz, sein Einfluss auf allen Ebenen. Er wird zur Zielscheibe in einem erbitterten Ringen, in dem es um viele Millionen Franken geht.
An einem trüben Morgen Ende Oktober präsentiert Kündig einen Sanierungsplan – und zwei sehr ungleiche Zahlen, die einen Aufschrei auslösen. Die Aktionärsgemeinden, die als Eigentümer des Spitals dessen Kurs verantworteten, sollen 50 Millionen Franken zur Rettung beitragen. Die Gläubiger, die dem Spital Geld geliehen haben oder auf der Baustelle tätig waren, sollen die Riesensumme von 180 Millionen Franken aus ihren Büchern streichen.
Jörg Kündig spricht von einer «ausgewogenen Lösung». Nur: Was an diesen Zahlen ausgewogen sein soll, kann er nicht schlüssig erklären.
Spätestens jetzt gilt der Verwaltungsratspräsident vielen Gläubigern als Pokerspieler mit gezinkten Karten. Als Tausendsassa, der nicht neutral sein kann, weil er selbst einer betroffenen Gemeinde vorsteht.
Den Filz-Vorwurf machen sie unter anderem daran fest, dass die Gemeinden früh eine rote Linie ziehen konnten – und das Spital dies akzeptiert hat. Dabei ging es den Gemeinden nie um Ausgewogenheit. Sondern darum, dass sie die Zustimmung des Stimmvolks brauchen. Sie sagten deshalb, es dürfe kein Steuergeld zur Tilgung der Schulden verwendet werden. Und das Spital passte seine Forderung an.
Die Gemeinden zählten darauf, dass der Verwaltungsratspräsident sie verstehen würde. Er war ja einer der ihren. «Das hat geholfen», sagt ihr Verhandlungsführer, der Wetziker Stadtpräsident Pascal Bassu.
Den Gläubigern – Banken, Pensionskassen und Krankenversicherungen – fehlt dieser direkte Draht. «Sie fühlen sich betrogen», sagt Marc Meili von Independent Credit View. Er vertritt mehrere Geldgeber, die rund 40 Millionen Franken zu verlieren drohen. Deren Vertreter machen hinter vorgehaltener Hand klar, dass sie Kündig nicht als Teil der Lösung sehen, sondern als Teil des Problems. Weil er den Gemeinden ermögliche, ihr Spital auf Kosten der Gläubiger zu sanieren.
Kündig versteht, warum man ihn für befangen hält. «Das ist diese Rollengeschichte . . .», sagt er. Er könne nicht ändern, dass er wisse, was politisch machbar sei. Er versichert aber, dass er den Gemeinden als Vertreter des Spitals Widerstand geleistet habe. Und nie dabei gewesen sei, wenn sie ihre Strategie besprochen hätten.
Besonderes Misstrauen weckt bei den Gläubigern eine Gossauer Connection, die nach und nach ans Licht kommt: Um Zeit für den Rettungsplan zu gewinnen, wird das Spital per Gerichtsbeschluss temporär vor allen Forderungen geschützt. Während dieser Phase – der Nachlassstundung – wahrt eine Sachwalterin die Interessen der Gläubiger.
Das Spital schlug für diese Aufgabe die Anwältin Brigitte Umbach-Spahn vor, das Gericht hiess dies gut. Was die zuständige Richterin damals nicht wusste: Umbach-Spahn ist die Ehefrau eines Gemeinderatskollegen von Jörg Kündig. Und: Der Ehemann betreibt im gleichen Gebäude in Gossau seine Anwaltskanzlei, in dem auch Kündigs Treuhandbüro domiziliert ist.
Die Gläubiger sind überzeugt, dass Umbach-Spahn befangen ist. Sie selbst bestreitet dies. Die Arbeit sei zu Hause kein Thema, weil: Amtsgeheimnis. Ob das Gericht Umbach-Spahn jedoch eingesetzt hätte, wenn es von den persönlichen Beziehungen gewusst hätte, ist offen. Die Richterin sagt, es stehe ihr nicht zu, dies nachträglich zu beurteilen.
Das Misstrauen gegenüber Umbach-Spahn hält Kündig für unbegründet. Das Spital habe sie vorgeschlagen, da sie eine ausgewiesene Expertin mit sehr gutem Ruf sei. Die Frage des Interessenkonflikts sei sorgfältig geprüft worden. Es liege keiner vor, dies habe das Gericht bestätigt.
Diese Kämpfe zwischen Spital, Gläubigern und Gemeinden dauern an, und für die Spitäler im ganzen Land hängt viel davon ab, wie sie ausgehen. Kündig wird dann nicht mehr im Amt sein: Der gesamte Verwaltungsrat hat inzwischen bekanntgegeben, bald den Platz zu räumen.
Für Kündig geht damit eine Zeit zu Ende, die Spuren hinterlassen hat. Er spricht von Enttäuschungen, die er habe «erdauern» müssen. «Man lernt sein Umfeld ganz anders kennen – es gibt viele, die besser wissen, was man hätte tun sollen.» Und dann waren da diese öffentlichen Angriffe, die er zum Teil niveaulos fand.
Seine Nächte waren kurz, das zehrte an der Energie. Im Dorf haben sie das geahnt, aber gemerkt haben sie nichts. Kündig tritt auf, als ob nichts gewesen wäre: als Gemeindepräsident, als Präsident der Gemeindepräsidien, als Kantonsrat. Kündig beisst sich durch.