Seine erstaunlichste Skulptur ist sein eigenes Leben. Am 9. April wäre der Künstler hundert Jahre alt geworden.
Er meldete sich freiwillig zur Armee, er war erst 17, er fügte sich selbst ein Jahr hinzu. An der Front landete er sofort in einem Strafbataillon – er verprügelte seinen Kommandanten, der ein Mädchen vergewaltigt hatte. Er kämpfte in Rumänien, nahm Budapest und Wien ein. Zwei Wochen vor Kriegsende 1945 führte er einen Zug in einen Angriff und wurde von einer Kugel niedergestreckt. Die Wunde war tödlich: Eine Sprengkugel hatte seine Brust durchbohrt, drei Rippen und drei Bandscheiben herausgeschlagen, seine Eingeweide zerfetzt und ein Loch in seinem Rücken hinterlassen.
Das Lazarett an der Front tat, was es konnte – sein Körper wurde eingegipst, aber es gab keine Überlebenschance. Als die Ärzte den Tod feststellten, wurde die Leiche in den Keller des Krankenhauses gebracht. Die jungen Pfleger konnten den schweren eingegipsten Leichnam nicht mehr tragen – sie warfen ihn die Treppe hinunter zu den anderen Toten und gingen. Seine Eltern in Jekaterinburg erhielten eine offizielle Todesmitteilung. Postum wurde er mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet.
Er wachte auf und schrie.
Der schreiende Mann mit dem aufgerissenen Brustkorb wird in seinen Skulpturen immer wieder neu geboren. Immer geht es in den Skulpturen um Wiedergeburt. «Wenn ich Skulpturen mache, versuche ich, das Gefühl zu vermitteln, dass die Skulptur mit mir schwanger ist. Ich bin ein Embryo, kleiner Ernst, ich drücke nach aussen und drücke nach innen.»
Seine erstaunlichste Skulptur ist sein eigenes Leben. Nach dem Krieg erfüllte er sich seinen Kindheitstraum, Bildhauer zu werden, und sein erstes Werk war sein eigener Körper: Nach drei Jahren auf Krücken hat er sich selbst erschaffen – stark, widerstandsfähig, zäh.
Er legte sich mit Chruschtschow an
Er erhielt seine künstlerische Ausbildung am Moskauer Kunstinstitut, und seine ersten Werke waren bereits ein Erfolg. Die Werke des jungen Bildhauers wurden auf Ausstellungen gezeigt, beim internationalen Festival der Jugend und Studenten in Moskau 1957 erhielt er zwei Medaillen. Sein Projekt gewann den nationalen Wettbewerb für das Siegesdenkmal.
Nach Stalins Tod begann das politische Tauwetter, und eine Zeitlang durften die Künstler Werke schaffen, die sich von den Fesseln des sozialistischen Realismus lösten. Doch das Tauwetter war schnell vorbei und endete mit dem Zusammenstoss zwischen Ernst Neiswestny und Nikita Chruschtschow auf der Manege-Ausstellung 1962. Der sowjetische Zar brüllte Künstler an, die «degenerierte Kunst» schufen. Alle schwiegen aus Angst, und nur Neiswestny wagte es, sich mit der obersten Macht anzulegen.
Man wird über ihn schreiben, dass er sich gegenüber Chruschtschow heroisch verhalten habe – er habe sich so verhalten, wie sich ein Künstler gegenüber einer aggressiven, allmächtigen Null verhalten sollte. Von aussen betrachtet sah es wie Selbstmord aus. Sein Körper hatte den Tod bereits erfahren, und nun ging es um etwas Wichtigeres – die Wahrung seiner Menschenwürde. Die Strafe folgte sofort: Er wurde für viele Jahre von staatlichen Aufträgen ausgeschlossen.
Später tat der gestürzte Generalsekretär Busse vor dem Künstler. Nach Chruschtschows Tod kam sein Sohn Sergei zum Bildhauer und überbrachte den letzten Willen seines Vaters: Neiswestny sollte den Grabstein anfertigen.
Selbst in den Jahren der Verfolgung hörte Neiswestny nicht auf zu schaffen. Er musste jeden beliebigen Job annehmen, sei es als Maurer oder Restaurator. Das erhaltene Geld gab er für die Umsetzung seiner kreativen Ideen aus, aber es reichte nie, er musste Altmetall und Schrott für seine Werke sammeln. Viele Jahre lang war seine Werkstatt im Zentrum Moskaus ein Kommunikationszentrum für Dissidenten, Dichter, Schriftsteller und Künstler.
Manchmal erlaubten ihm die Behörden, etwas dazuzuverdienen, und er erhielt Aufträge, zum Beispiel für ein Flachrelief für das Pionierlager Artek, aber der Künstler konnte nicht frei atmen. Er sagte über die Rolle der Kunst in der totalitären Gesellschaft: «Die Funktion der sowjetischen Kunst: nicht sakral, nicht ästhetisch, sondern so, dass es keine andere geben konnte. Die Funktion, den Platz zu besetzen.»
In der Schweiz hielt er es nicht aus
1976 verliess Neiswestny die UdSSR. Das erste Jahr seiner Emigration verbrachte er in der Schweiz. Paul Sacher half dem Bildhauer finanziell. Seine Frau Maya Sacher, ebenfalls Bildhauerin, verehrte Neiswestny und überliess ihm ihr Atelier mit allen Werkzeugen und der gesamten Bibliothek. In der Schweiz schuf er die Schostakowitsch-Büste für das Kennedy Center in Washington. Am Zürcher Schauspielhaus inszenierte er gemeinsam mit dem Regisseur und Schauspieler Ingold Wildenauer das gefeierte Theaterstück «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch» nach Dostojewski.
Doch der Künstler hielt es in der Schweiz nicht lange aus. Aus den Memoiren von Neiswestny: «Picasso und Henry Moore kamen, um sich vor diesen Leuten zu verneigen. Sich mit Paul Sacher zu treffen – das war, als würde man den Herrgott sehen (. . .) Und hier war ich, vor dem Karrieregott. Aber ich bin abgehauen, aus meinen eigenen Gründen. Ich konnte es nicht ertragen, im Haus eines reichen Mannes zu leben.»
Der Künstler zog nach New York. Er wurde bekannt und reich. Prominente suchten seine Freundschaft. Seine Werke wurden von Präsidenten und dem Papst gekauft. Seine Zentaurstatue steht in Genf im Ariana-Park in der Nähe des Palais des Nations. Von Andy Warhol stammt der Satz: «Chruschtschow ist ein durchschnittlicher Politiker der Ära Ernst Neiswestny.»
Aber auch in New York hielt er es nicht lange aus, das gesellschaftliche Leben war nichts für ihn. «Man kommt zu einer ‹Party›, bekommt zwanzig Visitenkarten in die Hand gedrückt und ist verpflichtet, darauf zu antworten. Der einsame Beruf des Bildhauers hält solchen Belastungen nicht stand. Ich habe die Visitenkarten verbrannt.» Er liess sich auf Shelter Island nieder.
Nach der Perestroika kam die späte Anerkennung in seinem Heimatland: Staatspreise, Auszeichnungen. Der Bildhauer wurde eingeladen, sein Projekt dreier Denkmäler für die Opfer der sowjetischen Repressionen «Dreieck des Grams» in seiner Heimatstadt Jekaterinburg, Magadan und Workuta umzusetzen. Das erste der Denkmäler, «Maske der Trauer», wurde in Magadan 1996 auf Kosten des Autors errichtet.
Die Einweihung des Denkmals «Masken des Kummers: Europa-Asien» fand erst nach dem Tod des Bildhauers statt, und zwar nicht wie geplant im Zentrum von Jekaterinburg, sondern ausserhalb der Stadt. Ein Gesicht der «Maske des Kummers» blickt nach Europa, das andere nach Asien. Das Denkmal in Workuta wurde nie errichtet, in Putins Russland will man das Andenken an den Gulag ausradieren.
In der Hand von Putins Propagandisten
Eines seiner berühmtesten Werke ist «Orpheus». Die Brust ist aufgerissen – der mythologische Held spielt weiter auf den Saiten seiner Seele. Es ist kein Lied, es ist ein Schrei unaussprechlicher Trauer, Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht. Ein Schrei über die Unmöglichkeit der Existenz in diesem Leben ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Hoffnung.
1994 machte das russische Fernsehen eine verkleinerte Kopie von «Orpheus» zu einer Preisstatuette, die jährlich im Rahmen des nationalen Tefi-Preises, des Äquivalents zu den amerikanischen Emmy Awards, verliehen wird. Was hätte Neiswestny gefühlt haben müssen, wenn er den russisch-ukrainischen Krieg noch erlebt hätte und erfahren hätte, dass sein «Orpheus» in die Hände von Putins Propagandisten Wladimir Solowjow und Olga Skabejewa gefallen war, die zum Töten von Ukrainern aufriefen?
«Ich stelle mir die Skulptur nicht als einen Menschen, ein Tier oder eine andere natürliche oder geometrische Form vor, die im Raum angeordnet ist: Die Skulptur verkörpert einen Dialog zwischen Geist und Fleisch», so beschrieb Ernst Neiswestny sein Konzept. Nie realisiert wurde sein wichtigstes schöpferisches Projekt, der «Baum des Lebens», eine Riesenskulptur von der Grösse des Kölner Doms.
Die Krone eines Baumes: Sieben Windungen des Möbiusbandes falten sich zu einem riesigen Herzen. Diese Struktur bricht mit der traditionellen Bauweise, da es keine Unterteilung in Innen und Aussen gibt. Innen und Aussen durchdringen sich gegenseitig. Im Inneren erwartet den Betretenden ein Labyrinth aus sieben Wegen, die für die menschlichen Todsünden stehen.
Wer die Wege entlanggeht, wird immer wieder auf das Bild eines blinden Mannes treffen, der sich in seiner Natur verirrt hat. Mit ausgestreckten Armen irrt der Blinde seinerseits durch ein Labyrinth, zusammen mit einer Menschenmenge: Mal geht er unter uns, mal geht er an der Wand, mal an der Decke entlang. Im zentralen Raum befördern sieben Aufzüge die Besucher auf sieben Hochhausplattformen, deren Böden aus Glas bestehen, um ihnen die enorme Höhe und die Angst vor dem Abgrund zu vermitteln. Die Aufzüge sind Glaskörbe, die der Bewegung der DNA-Spirale zusammen mit dem Stamm des Baumes folgen.
Wie das Centre Pompidou
Den Inhalt der Räume sah der Künstler nicht als konstant, sondern als vorübergehend an: Mit dem Wechsel der Epochen ändert sich auch der Inhalt der Möbius-Windungen. In seiner endgültigen Form könnte das entstehende Bauwerk ein Welt-Kunstzentrum werden, wie das Centre Pompidou.
Der Künstler träumte davon, dass jeder diese ungewöhnliche Reise entlang der sieben Windungen unternehmen kann und vielleicht am Ende des Weges sich selbst begegnet, nur ein wenig anders, verwandelt durch dieses erstaunliche Universum, das die menschliche Kreativität ist.
In den letzten Jahren wurde er einer schwierigen Operation unterzogen und erblindete fast. Er konnte nicht mehr bildhauern, zeichnete aber weiter.
Er starb zum letzten Mal am 9. August 2016 im Alter von 91 Jahren. Er hat bereits Erfahrung mit der Auferstehung.
Ernst Neiswestnys letztes Werk waren Illustrationen zur Bibel.
Aus seinen Memoiren: «Es gab keine grossen atheistischen Künstler. Der Punkt ist, dass man eine gewisse Bescheidenheit haben muss. Man muss sich nicht für etwas Aussergewöhnliches halten, losgelöst vom Flug der Enten, von der Bewegung der Sterne, vom Auf und Ab der Gezeiten. Das einzige Geschöpf, das sich plötzlich für etwas Besonderes hält, ist der Mensch. Das heisst nicht, dass du von Gott auserwählt bist! Das ist Unsinn, Gott ernennt niemanden. Er nimmt an.»
Der 1961 in Moskau geborene Schriftsteller Michail Schischkin lebt seit 1995 in der Schweiz. Seine Romane und Sachbücher (u. a. «Venushaar», «Briefsteller», «Tote Seelen, lebende Nasen») wurden in dreissig Sprachen übersetzt.