Das Erdbeben vom Mittwoch in Taiwan war das stärkste in 25 Jahren. Doch die Opferzahl ist erstaunlich tief. Die Gründe dafür liegen im politischen System des Landes.
Das Erdbeben von Mittwochmorgen in Taiwan war heftig: Selbst in der Hauptstadt Taipeh, 120 Kilometer vom Epizentrum entfernt, stoppte der Verkehr auf Brücken, die wild schwankten. Hohe Gebäude bewegten sich so stark, dass es schwierig war, auf den Beinen zu bleiben.
Dass dabei nur zehn Personen ums Leben gekommen sind, grenzt an ein Wunder. Noch erstaunlicher: Fast alle Opfer starben durch Steinschläge in bergigem Gebiet. Nur eine einzige Person verlor ihr Leben in einem Gebäude, als sie ihre Katze zu retten versuchte.
Gebäude können innert Sekunden zu Todesfallen werden
Die wichtigste Massnahme zur Vermeidung hoher Opferzahlen sind stabil gebaute Häuser. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass man bei einem Erdbeben ins Freie rennen kann, vor allem, wenn Gebäude mehrere Stockwerke hoch sind. Erbeben dauern in der Regel nur ein paar Sekunden, manchmal bis zu einer Minute – dann ist der Schaden angerichtet. Gebäude, die den Belastungen nicht standhalten, werden blitzschnell zu Todesfallen.
Aus Hualien, der am stärksten betroffenen Stadt an der Ostküste der Insel, kamen eindrückliche Bilder: Gebäude, deren unterstes Stockwerk eingebrochen war und die beängstigend schief standen. Doch selbst diese erfüllten die Minimalanforderung: Sie kollabierten nicht, und die Rettungskräfte konnten die Menschen aus den oberen Stockwerken evakuieren.
Insgesamt wurden nur etwas mehr als einhundert Gebäude stark beschädigt, nur ein einziges stürzte ganz ein. Das ist ein Zeichen, dass Taiwans Bauvorschriften nicht nur auf dem neusten Stand sind, sie werden auch konsequent durchgesetzt. Selbst ältere Gebäude müssen nachgerüstet werden, zum Teil unterstützt der Staat Privatbesitzer dabei.
Das war nicht immer so. Am 21. September 1999 wurden durch ein Erdbeben, das noch etwas stärker war als das letzte, mehr als 50 000 Gebäude zerstört. Annähernd 2500 Menschen verloren damals ihr Leben. «921» – das Datum – steht in Taiwan heute für Katastrophenvorsorge. Jedes Jahr werden an dem Tag grosse Zivilschutzübungen durchgeführt.
Die Bauvorschriften wurden seither Schritt für Schritt verschärft, zum letzten Mal vor zwei Jahren, denn 2016 war in Tainan noch einmal ein 17-stöckiges Gebäude bei einem Erdbeben eingestürzt. 115 Personen kamen ums Leben. Fünf Personen, die in den Bau involviert gewesen waren, wurden später verurteilt. Das war ein wichtiges Zeichen.
Was passiert, wenn Bauvorschriften nicht durchgesetzt werden, zeigte sich beim Erdbeben vor gut einem Jahr in der Türkei: Es war ein offenes Geheimnis, dass Bauunternehmer die Gesetze ignorierten und minderwertige Materialien einsetzten. Immer wieder gab es Amnestien, bei denen sich Sünder mit einer Geldstrafe freikaufen konnten. Die unsachgemäss gebauten Gebäude blieben allerdings stehen – der Preis waren über 50 000 Menschenleben.
Dass in Taiwan Bauvorschriften grossmehrheitlich durchgesetzt werden, rührt nicht daher, dass Taiwanerinnen und Taiwaner per se gesetzestreuer wären als Menschen anderswo. Ein paar Minuten an einer Strassenkreuzung reichen als Hinweis, dass man es auch hier mit Vorschriften häufig nicht immer so genau nimmt.
Dank dem Rechtsstaat werden Bauvorschriften durchgesetzt
Taiwans Stärke ist vielmehr sein stabiles demokratisches System. Politiker und Parteien werden abgewählt, wenn sie in der Katastrophenvorsorge und -hilfe versagen. Die Zivilgesellschaft und Medien decken Skandale auf, sündige Bauunternehmer werden an den Pranger gestellt. Gerichte sind grösstenteils unabhängig.
Das ist ein grosser Unterschied zu 1999. Damals war Taiwans Demokratie noch ganz jung und fragil – erst drei Jahre zuvor hatten die ersten freien Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Die allermeisten Häuser, die damals zusammenbrachen, waren noch während der vier Jahrzehnte dauernden Militärdiktatur gebaut worden, in der Willkür herrschte.
Seither entstand nicht nur eine lebendige Demokratie, sondern auch ein Rechtsstaat, der fähig und willig ist, die Bevölkerung vor den Auswirkungen von Naturkatastrophen so gut wie möglich zu schützen. Die tiefe Opferzahl vom Mittwoch ist ein Beleg dafür.