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Das vom Bundesrat vorgeschlagene Modell einer obligatorischen Erdbebenversicherung für Hauseigentümer stösst bei den Betroffenen und den Privatversicherern auf heftigen Widerstand. Im Parlament könnte es knapp werden.
Die Erde bebt täglich. Auch unterhalb der Schweiz. So dokumentierte der Erdbebendienst der ETH Zürich allein für Freitagmorgen dieser Woche sechs lokale Erdbeben in der Schweiz und total über 400 seit Jahresbeginn. Seltener sind spürbare Beben; die ETH dokumentierte für diesen Monat bisher zwei. Noch viel seltener sind Grossbeben mit bedeutenden Schäden. Aber nicht so selten, als dass man die Risiken ignorieren sollte.
In der Schweiz kommen laut Bundesangaben lokale Erdbeben mit kleinen bis mittleren Gebäudeschäden (Magnitude 5) im Mittel alle 8 bis 15 Jahre vor. Ein Beben mit Magnitude 5,5 kommt etwa alle 30 Jahre vor, und ein regionales Beben mit Magnitude 6 ist einmal alle 50 bis 150 Jahre zu erwarten. Klein scheinende Zahlendifferenzen fallen in der Wirkung stark ins Gewicht: Ein Beben «schüttelt» mit Magnitude 5,5 etwa dreimal so stark wie mit Magnitude 5 und setzt fünf- bis sechsmal so viel Energie frei.
Für einen Zeitraum von 100 Jahren ist laut Risikoanalysen für die Schweiz bei Gebäuden und deren Inhalten mit Erdbebenschäden von 11 bis 44 Milliarden Franken zu rechnen. Eines der letzten grossen Erdbeben in der Schweiz gab es 1946 im Wallis (Magnitude 5,8). 1964 folgte ein Beben in Obwalden mit Magnitude 5,3. Das bisher grösste dokumentierte Schweizer Erdbeben ereignete sich 1356 in Basel (Magnitude 6,6). Ein solches Beben würde heute in der Schweiz laut Bundesangaben etwa 3000 Todesopfer fordern und Gebäudeschäden von ungefähr 45 Milliarden Franken verursachen.
Geringe Abdeckung
Doch zurzeit sind nur etwa 15 Prozent der Gebäude in der Schweiz gegen Erdbeben versichert. Die kantonalen Gebäudeversicherungen stellen zwar zusätzlich für einen Erdbeben-Schadenpool freiwillig bis zu 2 Milliarden Franken zur Verfügung, doch bei einem Grossbeben reicht ein solcher Betrag bei weitem nicht. Ein Obligatorium gibt es derzeit nur im Kanton Zürich, wo die Gebäudeversicherung zur Deckung von Erdbebenschäden bis zu 1 Milliarde Franken in Aussicht stellt.
Manchen Gebäudebesitzern dürfte gar nicht bewusst sein, dass sie keine Erdbebenversicherung haben. Andere mögen spekulieren, dass bei einem Grossbeben ohnehin der Staat zu Hilfe eilt – dies erst recht nach den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie. Im Parlament hatten in den letzten fünfzehn Jahren wiederholt Vorstösse die Einführung einer obligatorischen Erdbebenversicherung gefordert.
2021 fand eine Motion für ein relativ schlankes Modell eine Mehrheit. Der Bundesrat hat im Dezember 2023 den Auftrag des Parlaments ausgeführt und einen Vorschlag für eine Änderung der Bundesverfassung in die Vernehmlassung geschickt. Die Verfassung gibt dem Bund zurzeit keine Kompetenz zur Einführung eines Versicherungsobligatoriums in Sachen Erdbeben.
Ohne Prämienzahlung
Im vorgeschlagenen Modell gibt es keine Prämienzahlungen während Hunderten von Jahren. Stattdessen müssen sich alle Hauseigentümer verpflichten, bei einem gravierenden inländischen Erdbeben maximal 0,7 Prozent des Gebäudeversicherungswerts zur Schadendeckung beizutragen. Bei einem Einfamilienhaus mit Versicherungswert von 800 000 Franken entspräche dies einem Beitrag von maximal 5600 Franken – unabhängig davon, ob man selber einen Schaden hat oder nicht. Diese Eventualverpflichtung der Gebäudeeigentümer wäre im Grundbuch einzutragen.
Die geplante Versicherung soll Schäden von bis zu 22 Milliarden Franken abdecken. Diese Grenze entspräche der Schadenerwartung bei einem schweren Beben, das etwa alle 500 Jahre einmal vorkommt. Bei einem Jahrtausendbeben in der Schweiz mit erwarteten Schäden von Hunderten von Milliarden Franken wäre auch diese Versicherung weit überfordert.
Erfasst von der geplanten Versicherung wären über 99 Prozent der gut 2,7 Millionen versicherten Gebäude in der Schweiz. Ausgenommen sind Bundesbauten sowie die Gebäude mit Versicherungssumme über 25 Millionen Franken.
Der Staat soll es richten
Die Vernehmlassungsfrist ist diesen Freitag abgelaufen. Die Sache ist kontrovers. Der Versicherungsverband ist für ein Obligatorium, will aber die entsprechenden Prämieneinnahmen bei den privaten Anbietern sehen. Das Erdbebenrisiko sei am Markt gut versicherbar, und dies auch in der vorgesehenen Kapazität von 22 Milliarden Franken.
Das geplante Obligatorium mit Eventualverpflichtung statt Prämienzahlungen würde die bisherigen Angebote der Versicherer für Erdbebendeckung grossenteils überflüssig machen; 2023 machten diese Angebote ein Prämienvolumen von etwa 180 Millionen Franken aus. Ein Versicherungsobligatorium mit jährlichen Prämienzahlungen war in der Vergangenheit politisch nicht mehrheitsfähig.
Der Hauseigentümerverband spricht sich grundsätzlich gegen ein Versicherungsobligatorium aus. Die vorgeschlagene «staatlich verordnete Solidarhaftung» schaffe ein gefährliches Präjudiz für andere Versicherungszweige und sei unnötig. Die Immobilieneigentümer seien selbst in der Lage, das Risiko abzuschätzen und zu entscheiden, ob sie sich versichern wollten.
Doch dann erinnerte der Verband in seiner Stellungnahme ungewollt an die Hauptmotivation der Vorlage: «Es ist davon auszugehen, dass bei einem grösseren Erdbeben mit massiven Schäden die Eidgenossenschaft Unterstützung bieten muss, so wie das in der Schweiz bei massiven und umfassenden Krisen generell der Fall ist.» Verweise auf die Pandemie und Grossbankenrettungen durften nicht fehlen. Im Klartext heisst dies aus Sicht der Hauseigentümer: lieber eine Gratis-Bundesgarantie als eine Zahlungsverpflichtung für den Schadensfall. Das ist verständlich, doch die Steuerzahler mögen das anders sehen.
Laut Kritikern sinkt zudem mit einem Versicherungsobligatorium der Anreiz der Betroffenen zur Selbstvorsorge. Das ist ein generelles Problem von Versicherungen. Dieses Problem gibt es aber auch, wenn die Betroffenen mit Staatshilfen im Krisenfall rechnen.
Versteckte Subventionen
Gratis-Staatsgarantien für eine bestimmte Gruppe sind faktisch Subventionen zulasten von allen anderen. Bei der UBS soll die Regulierung eine solche Staatsgarantie möglichst unwahrscheinlich machen. Bei einer künftigen Pandemie wäre dies auch wünschbar, aber wohl kaum praktikabel. Bei Erdbeben ist es eine Frage des Masses: Jahrtausendbeben sind wohl zu selten (und zu teuer) für eine Lösung auf Vorrat, bei Jahrhundertbeben mögen manche dies anders sehen.
Aus liberaler Sicht sind im Prinzip die Versicherungsentscheide den privaten Akteuren zu überlassen. Aber wo bei Schadensfällen von Unversicherten viele Betroffene in Existenznot geraten können und damit der Sozialstaat zur Kasse kommt, kann es eine Rechtfertigung für ein Versicherungsobligatorium geben. Darum gibt es Zwangsversicherungen etwa für Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Autohaftpflicht und Altersvorsorge. Glaubt man an eine faktische Staatsgarantie auch bei schweren Erdbeben, würde dies für ein Versicherungsobligatorium sprechen.
Im Parlament dürfte die Vorlage des Bundesrats trotz Kritik der Hauseigentümer und der Privatversicherer valable Chancen haben; das Parlament selber hatte ein solches Modell gefordert. Doch vor allem im Nationalrat könnte es knapp werden. Die bisher vorliegenden Vernehmlassungsantworten und inoffiziellen Äusserungen zeigen ein ähnliches Bild wie die früheren Parlamentsdebatten zu diesem Thema: Sukkurs für das vorgeschlagene Modell von der Linken, Ablehnung bei SVP, FDP und den Grünliberalen. Die Mitte-Partei hat am Freitag ihre Unterstützung signalisiert. Der Grad der Geschlossenheit in der Mitte und bei den Grünliberalen dürfte am Ende den Ausschlag für die Mehrheitsverhältnisse geben.