Die deutsche EU-Kommissions-Präsidentin hatte sich in ihrer ersten Amtszeit dem Klimaschutz verschrieben. Nun muss «Madame Europe» eher auf Rüstung, Migrationskontrolle und Industriepolitik setzen, wenn sie im Sommer wiedergewählt werden will.
Dass Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Chefin der Europäischen Kommission anstreben würde, pfiffen die Spatzen in Brüssel längst von allen Dächern. Nur sie selber hatte über Monate geschwiegen und alle Fragen nach ihrer beruflichen Zukunft tapfer weggelächelt. Vielleicht, weil sich die 65-Jährige in Wahrheit noch eine andere Karriere offenhielt?
Nato-Pläne hintertrieben
Tatsächlich hätte die überzeugte Transatlantikerin wohl auch auf den Chefsessel der Nato wechseln können – als Nachfolgerin des scheidenden Generalsekretärs Jens Stoltenberg. Das sollen sich jedenfalls der amerikanische Präsident Joe Biden und sein Aussenminister Antony Blinken gewünscht und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz so vorgeschlagen haben. Laut einem Bericht der «Welt am Sonntag» sträubte sich der deutsche Sozialdemokrat allerdings gegen die Idee.
Demnach sei der Posten des Nato-Generalsekretärs für Scholz zu wichtig, als dass er ihn einer Christlichdemokratin aus Deutschland überlassen wolle, zitiert der Bericht aus vertraulichen Gesprächen mit hochrangigen Beamten und Diplomaten. Zu kritisch sei von der Leyen aus Sicht des Bundeskanzlers zudem gegenüber Russland, was sich für die Allianz «langfristig als Nachteil erweisen» könne.
Von der Leyen kommentierte die Gerüchte selber nie. Hingegen erklärte sie am Montag erstmals öffentlich, wieder als Kommissionspräsidentin antreten zu wollen. Einstimmig hatten sich zuvor in Berlin die Parteioberen der deutschen CDU für sie ausgesprochen. In zwei Wochen soll von der Leyen nun als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) für die Europawahl im Juni nominiert werden.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Christlichdemokraten bei der Wahl wieder als stärkste Fraktion abschneiden. Und so stehen von der Leyens Chancen auf eine zweite Amtszeit gut. Die meisten der 27 Staats- und Regierungschefs unterstützen ihre Wiederwahl; auch solche, die nicht zum Lager der EVP gehören, wie der liberale Franzose Emmanuel Macron oder die rechtskonservative Italienerin Giorgia Meloni. Am Ende muss allerdings das EU-Parlament zustimmen, und hier könnte es knapp werden. Schon 2019 fand von der Leyen mit einer Mehrheit von nur neun Stimmen ins Amt.
Wie will «Madame Europe» dieses Mal ihre Macht sichern, und mit welchen Schwerpunkten ist für ihre nächste Legislaturperiode zu rechnen? Zwei Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine und der damit einhergehenden Sicherheits-, Energie- und Wirtschaftskrise haben sich die Vorzeichen in Brüssel geändert. Der Klimaschutz ist in den Hintergrund gerückt. Unter dem Druck der Bauernproteste wurden ökologische Gesetzesvorhaben kassiert oder entschärft.
Kritik am Green Deal
Aus ihrer eigenen Parteifamilie und von Wirtschaftsverbänden musste von der Leyen im vergangenen Jahr viel Schelte für ihre rot-grüne Agenda einstecken. Besonders der Green Deal, ein Gesetzespaket mit dem Ziel der Dekarbonisierung Europas bis 2050, auf das die Kommission anfänglich so stolz war, stösst auf Ablehnung. Die EU mache den Unternehmen mit immer neuen Regulierungen, Vorgaben und Verboten das Leben schwer, lautet die Kritik.
Zu den grössten parteiinternen Kritikern von der Leyens gehörte lange Zeit der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke, der seiner Parteifreundin nach ihrem ersten Amtsjahr vorwarf, bloss pathetische Überschriften zu setzen, schlecht zu kommunizieren und im Übrigen das «Seelenleben ihrer eigenen politischen Familie zu ignorieren». Heute sagt Radtke im Gespräch, dass es vor allem der linke Niederländer und ehemalige Klima-Kommissar Frans Timmermans sei, der die wirtschaftsfeindliche Politik zu verantworten habe.
Mit von der Leyen hat Radtke hingegen seinen Frieden gemacht, und mehr noch: Er lobt sie mit Blick auf ihre geopolitische Performance als der «Leuchtturm, der Scholz und Macron hätten sein sollen». In einer Phase der multiplen Krisen sei der deutsch-französische Motor vollständig ausgefallen, findet der CDU-Abgeordnete. Dagegen habe die Kommissionschefin ihr Bestes getan, um die EU zusammenzuhalten.
Keine Frage, spätestens mit Ausbruch des Ukraine-Krieges hat von der Leyen international an Statur gewonnen. In enger Abstimmung mit den USA war sie es, die mehrere Sanktionsrunden gegen Russland lancierte, finanzielle und militärische Hilfen für die Ukraine forderte und sich für die EU-Mitgliedschaft des Landes einsetzte.
Dabei ist es eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die frühere deutsche Verteidigungsministerin, die in Berlin bei der Modernisierung der Bundeswehr keine gute Figur machte, in Brüssel heute für eine effizientere Rüstungspolitik trommelt. Auf der anderen Seite gab sich von der Leyen schon als Ministerin, die die Besetzung der Krim-Halbinsel 2014 erlebte und danach Nato-Truppen nach Litauen verlegte, keinen Illusionen gegenüber Russland hin.
Neue Prioritäten
Auch wurde ein milliardenschweres Hilfsprogramm aufgelegt, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise zu stemmen, und es wurden dafür erstmals gemeinsam Schulden aufgenommen, wobei freilich bis heute offen ist, wie diese zurückgezahlt werden sollen.
Sollte von der Leyen wiedergewählt werden, dürfte sie versuchen, es ihren Kritikern recht zu machen, und sich stärker um die Interessen der Industrie kümmern. Auch bei der Rüstungspolitik und der Migration wird sie liefern müssen: Das Ziel, die militärische Unterstützung der Ukraine sicherzustellen, hat sich die Kommission selbst gegeben. Als erste Amtshandlung könnte von der Leyen den Posten eines Kommissars für Verteidigung schaffen, wie sie am Wochenende bei der Münchner Sicherheitskonferenz ankündigte. Von ihrem Versprechen, die Migration zu drosseln, hängt wiederum die Unterstützung von Meloni ab.
Wie sie trotzdem auch die Stimmen liberaler, sozialdemokratischer und grüner Abgeordneter bekommen will, die für ihre Wiederwahl möglicherweise vonnöten sind, ist unklar. Die chancenreichste Anwärterin auf den Chefposten der EU erwartet ein Drahtseilakt.