Unter dem Motto «Open End» ergründen die Musikfestspiele in Luzern diesen Sommer ein reizvolles Paradox. In Werken von Gustav Mahler und Pierre Boulez wird das im Eröffnungskonzert mit Riccardo Chailly und dem Festivalorchester eindrucksvoll greifbar.
Ein Kommissar war auch im Publikum. Allerdings kein echter. Der Schweizer Schauspieler Pasquale Aleardi, bekannt als Kommissar Dupin aus den Verfilmungen der Krimireihe von Jean-Luc Bannalec, hatte sich nebst zahlreichen weiteren Prominenten zur Eröffnung des Lucerne Festival eingefunden. Das sorgte bei seinen Fans für Aufsehen und umgehendes Handy-Zücken – es passte aber ironischerweise auch zum Anlass. Denn dieser Abend warf allerhand Fragen auf, und bei der Beantwortung konnte ein wenig kriminalistischer Spürsinn nicht schaden.
Am Eröffnungstag geht es in Luzern nämlich nicht nur um den gesellschaftlichen Event, sondern zentral um das Leitthema der jeweiligen Sommersaison. Es wird hier erstmals exemplarisch dem Publikum vorgestellt, in Worten und in Tönen. Die Worte blieben diesmal allerdings vage. Was es mit dem Motto «Open End» auf sich haben könnte? Festivalintendant Michael Haefliger und Stiftungsratspräsident Markus Hongler wollten es offenbar nicht vorschnell verraten. Sie umkreisten das Thema lieber, warfen sich genüsslich ein paar bedeutungsschwere Begriffe wie «Abschied», «Zukunft», «Erinnerung» und «Neubeginn» zu und sorgten erst einmal für fragende Blicke im KKL.
Klarer wurde die Sache auch nicht durch die Begrüssungsansprache des Bundesrats Albert Rösti. Er dankte dem Intendanten im Namen der Landesregierung für die in Luzern geleistete Arbeit – Haefliger wird die Leitung des Festivals bekanntlich Ende Jahr, nach dann 26 Spielzeiten, an Sebastian Nordmann übergeben. Viel konkreter wollte sich indes auch der Verkehrs- und Kommunikationsminister nicht auf das Motto einlassen. Er erinnerte stattdessen an die Geschichte der 1938 begründeten Festspieltradition in Luzern; in deren Verlauf hätten «immer neue Namen» an der Spitze der Institution gestanden – «wie in der Politik», scherzte Rösti.
Ein Paradox als Festspielmotto
Aha, ein Indiz, denkt sich da der imaginäre Ermittler im Publikum – «Open End», das meint eigentlich: Kontinuität. Auch und gerade in Zeiten des Wandels. Und hatte Haefliger nicht anfangs kühn behauptet, es gehe gar nicht so sehr um seinen persönlichen Abschied vom Festival? Alles mehr oder weniger bewusst gelegte falsche Fährten. Sie erreichten jedoch das Ziel, die Besucher für die Vieldeutigkeit des Mottos zu sensibilisieren. In Wahrheit wird es in den kommenden Wochen bis zum 14. September nämlich um ein Paradox gehen: um die Frage, wie man aufhört, ohne zu enden. Oder, in der Sprache des Theaters, wie man den Vorhang fallen lässt, ohne dem Publikum zu suggerieren, es sei alles gesagt.
Ein Paradox als Festspielmotto – das ist neu und reizvoll, aber auch eine intellektuelle Herausforderung. Zum Glück machte das Musikprogramm die Idee am Eröffnungsabend viel anschaulicher als die Redner. Denn in der Musik sind «offene Enden» von jeher ein zentrales Thema. Und zwar nicht nur bei berühmten Fragmenten wie dem Mozart-Requiem oder Schuberts «Unvollendeter», sondern auch in Werken, die abgeschlossen sind, also äusserlich «vollendet» erscheinen. Den Weg weist in Luzern eine Komposition von Pierre Boulez, dem Mitgründer und ersten Leiter der Festivalakademie, dem aus Anlass seines 100. Geburtstags ein eigener Schwerpunkt gewidmet ist.
Das Ensemblestück «Mémoriale (. . . explosante-fixe. . . Originel)», das der Flötist Jacques Zoon zusammen mit acht Kollegen aus dem Lucerne Festival Orchestra zur Aufführung bringt, greift Material aus einem älteren Werk auf, denkt es weiter und kleidet es dabei gewissermassen neu ein. Es ist Musik über Musik, sehr typisch für Boulez, die deutlich macht: Eine kompositorische Idee muss nicht immer nur die eine, für immer gültige Erscheinungsform haben; es sind beliebig viele weitere kreative Einkleidungen vorstellbar.
Dieser Gedanke war zugleich der Schlüssel für das Hauptwerk des Eröffnungskonzerts, Gustav Mahlers 10. Sinfonie, die Riccardo Chailly gemeinsam mit dem Lucerne Festival Orchestra (LFO) erstmals seit 2016 wieder im KKL erklingen liess. Das fünfsätzige Stück von 1910 ist ein faszinierender Torso. Mahler hat die Sinfonie vom ersten bis zum letzten Takt skizziert, sie aber nicht mehr zu einer endgültigen Partitur ausgearbeitet. Deshalb sind bis heute (mindestens) sieben Aufführungsfassungen entstanden, die Mahlers reichhaltiges Material auf je eigene Weise aufbereiten – indem sie etwa die Instrumentierung ergänzen – und so für grosses Orchester spielbar machen. Chailly hat sich für die bekannteste und immer noch überzeugendste Bearbeitung entschieden, die «Performing Version» von Deryck Cooke.
Was aber hört man da: Ist das wirklich Mahler? Die Frage kann einen während der gut achtzig Minuten der Aufführung mächtig in Atem halten. Umso mehr, als Chailly die Musik interpretatorisch mit dem bis an die Grenzen geforderten, aber auch aussergewöhnlich engagierten LFO merklich zuspitzt. So sehr, dass sie stellenweise radikaler und fortschrittlicher klingt als alles, womit Schönberg und seine Schüler zur selben Zeit die musikalische Moderne einläuteten.
Doch Chailly, neben Simon Rattle seit Jahren der leidenschaftlichste Verfechter solcher Gesamtaufführungen der Zehnten, verfolgt mit der kompromisslosen Lesart offenkundig einen Plan: Er will das liebgewonnene Bild erschüttern, das in Mahler bloss den todessehnsüchtigen Spätromantiker am Ende einer Epoche sieht. Stattdessen zeichnet er ihn als visionär in die Zukunft blickenden Expressionisten.
Protokoll einer Lebenskrise
Das ist tatsächlich eine neuartige Perspektive, die man nicht zufällig ähnlich in Rattles Interpretationen des Mahlerschen Spätwerks hört. Und man wird auch noch auf andere Weise gut durchgeschüttelt an diesem Abend. Die hohe Emotionalität der Wiedergabe, die bei Chailly wie bei den Musikern spürbar wird, verrät nämlich, dass allen Beteiligten auch der bewegende biografische Hintergrund der Musik bewusst ist.
Seit längerem ist bekannt, dass die Zehnte nahezu Ton für Ton ein Protokoll der Lebenskrise darstellt, in die Mahler im Sommer 1910 durch eine Affäre seiner Frau Alma mit dem späteren Bauhaus-Gründer Walter Gropius geriet. Erst seit kurzem weiss man, dass das Ehepaar Mahler aus Verzweiflung über die Situation sogar erwogen haben könnte, gemeinsam Gift zu nehmen.
Die Diskussion, ob man um derart private Hintergründe bei einem Musikstück wissen muss, ist legitim, im Fall der Zehnten aber müssig. Denn der Avantgardismus des Werks ist in vielen Details nur durch die persönliche Ausnahmesituation zu erklären. Chailly verdeutlicht die Fallhöhe der Krise auf seine Weise: Vor der Zehnten dirigiert er Mahlers Rückert-Lieder in einer kammermusikalisch verfeinerten, auch im Ausdruck verinnerlichten Interpretation mit der Mezzosopranistin Elīna Garanča.
Traumverloren, beinahe distanziert singt Garanča diese Lieder. Nur bei «Liebst du um Schönheit», hier im Zentrum des Zyklus platziert, lässt sie ungebrochene Emotionalität durchklingen. Das wirkt im Kontext des Programms besonders stimmig: Das zauberhafte Liebeslied war ein Geschenk an Alma aus der Frühphase der gemeinsamen Ehe. Acht Jahre später hatte sich das Blatt gewendet, es gab keine Zukunft mehr für diese Ehe. Gustav Mahler aber komponierte Musik, die dennoch weit in die Zukunft wies und die Musikwelt bis heute beschäftigt. Eine denkwürdige Spielart von «Open End».