Die Gewerkschaften klagen über den Verlust von Entscheidungsbefugnissen und viele Überstunden. Der Arbeitskonflikt hat aber auch eine politische Dimension.
Bei der Mailänder Börse gibt es einen heftigen Konflikt zwischen Gewerkschaften und Geschäftsführung, der auch eine politische Dimension hat. Die drei grossen Gewerkschaften der Borsa, die zu der französisch dominierten Mehrländerbörse Euronext gehört, haben für den 27. Juni zu einem zweistündigen Streik aufgerufen. Bis
Mitte Juli sind weitere Aktionen geplant. Es ist der erste Streik in der Geschichte des Mailänder Aktienmarkts.
Der Industrieminister Adolfo Urso hat die Arbeitnehmerorganisationen und die Vertreter der Borsa Italiana für Anfang Juli in sein Ministerium einbestellt. Der Wirtschafts- und Finanzminister Giancarlo Giorgetti sagte, man beobachte das Thema Streik. «Ich glaube, dass auch die (Börsenaufsicht) Consob sich dafür interessiert.»
Gewerkschaften kritisieren den Staat
Welche Auswirkungen der Streik haben wird, ist unklar. Börsen müssen ein einwandfreies Funktionieren des Handels sicherstellen. Pikant ist auch, dass über die zur Borsa gehörende Handelsplattform MTS auch der
Handel mit Staatsanleihen abgewickelt wird. Die Gewerkschaften beklagen «ständige, systematische und umfassende Desinvestitionen in Italien und die Entleerung der italienischen Strukturen von innen
heraus» sowie die Verlagerung von Jobs.
Mailand verliere seine Autonomie. Zentrale Positionen würden abgezogen. Ausserdem kritisieren sie einen «systematischen und strukturellen Rückgriff auf Überstunden, den Verzicht auf die im erneuerten Tarifvertrag vorgesehenen Lohnerhöhungen und fordern
eine bessere Governance».
Lando Maria Sileoni, Generalsekretär der grössten Gewerkschaft Fabi, sagt, es gehe ihm darum, die Interessen der Mitarbeiter zu schützen,
nicht um politische Fragen. Euronext weist die Vorwürfe zurück, räumt
aber ein, dass die neue Organisation verstärkt Überstunden und Wochenendarbeit verlange. Man sei bereit zu einem «konstruktiven Dialog». Seit der Integration seien hundert neue Jobs geschaffen worden.
Das «Clearing House italiana» Euronext Clearing (früher Cassa di Compensazione e Garanzia) sei überdies nun auch für die anderen Börsenplätze von Euronext zuständig, und die Zuständigkeit werde
gerade jetzt auf Finanz- und Rohstoffderivate ausgeweitet. Es gebe eine
Wachstumsstrategie für Mailand, und man wolle die italienische Präsenz innerhalb der Euronext-Gruppe ausbauen.
Bedeutungsverlust der Börse
Mit der Intesa Sanpaolo, die 1,5 Prozent der Anteile hält, und der Cassa Depositi e Prestiti (CDP) mit 7,8 Prozent verfügt Euronext, zu der auch die Börsenplätze in Paris, Oslo, Dublin, Brüssel, Lissabon und Amsterdam gehören, auch über italienische Aktionäre. Chairman ist der Italiener Paolo Novelli, ein Ex-UBS-Banker. Die italienische Seite hat also
Mitspracherechte.
Fakt ist jedoch auch, dass die Borsa Italiana seit dem Verkauf durch die Londoner LSE an Euronext 2021 einen massiven Aderlass bei Managern aus der ersten und der zweiten Reihe zu beklagen hat. Der CEO Fabrizio Testa hat im Vergleich zu seinem langjährigen Vorgänger Raffaele Jerusalmi, der 2021 vor Ablauf seines Vertrages ging, keine klaren Kompetenzen. Jerusalmi beispielsweise sass im Verwaltungsrat der damaligen Mutter LSE.
Die Mailänder Börse hatte unter der LSE auch wesentlich mehr Freiraum. Für grosses Aufsehen sorgten vorübergehend Pläne der Borsa, aus dem historischen Palazzo Mezzanotte in Mailand auszuziehen. Nach heftiger Kritik wurde schliesslich auf das Vorhaben verzichtet. Schmerzlich für die Aktionäre ist die Entwicklung des Euronext-Aktienkurses, der sich seit dem Bekanntwerden der Übernahme im Oktober 2021 deutlich schlechter entwickelt als der der Deutschen Börse. Ausserdem beklagt die Borsa einen Bedeutungsverlust: Immer mehr
Unternehmen wechseln an andere Börsenplätze oder verlassen den
Aktienmarkt.
Minister fühlt sich in seiner Kritik bestätigt
Minister Urso, der zur rechtsnationalen Meloni-Partei Fratelli d’Italia gehört, war von Anfang an Gegner eines Verkaufs der bis 2021 zur Londoner LSE gehörenden Mailänder Börse an Euronext. Die Mehrländerbörse hatte 4,3 Milliarden Euro für die italienische Börse gezahlt. Urso, damals Senator, hatte dafür plädiert, auch Angebote der Deutschen Börse und der Schweizer SIX zu prüfen.
Darauf verzichtete die damalige Regierung unter der Führung von Ministerpräsident Giuseppe Conte, obwohl sowohl die Deutschen als auch die Schweizer einen höheren Preis und Garantien für die Autonomie der Borsa Italiana gegeben hatten. Auch der deutsche Botschafter in Italien schaltete sich damals ein. Der SIX-Chairman Thomas Wellauer zeigte sich verwundert und wies darauf hin, dass man «eine dezentrale Lösung» wie bei der spanischen Börse angeboten habe.
Die jetzige rechte Regierungskoalition vertrat seinerzeit die Meinung, dass der französische Einfluss in Italiens Finanzindustrie zu gross sei. So haben insbesondere Crédit Agricole und BNP Paribas nach diversen Übernahmen eine starke Position im Bel Paese. Der Forderung Ursos, mehr operative Funktionen nach Mailand zu verlagern sowie konkrete
Investitionszusagen zu geben, wurde seinerzeit nicht entsprochen.
Nun fühlt sich der Minister, der damals der Opposition angehörte, bestätigt. Auch Ministerpräsidentin Giorgia Meloni soll den Fall genau beobachten. Angesichts ihres sehr angespannten Verhältnisses zu Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron gibt es hier potenziell auch politischen Zündstoff.