Junge Nachkommen von Einwanderern aus Marokko haben sich an den Tätlichkeiten gegen Fans der Fussballmannschaft Maccabi Tel Aviv beteiligt. Man müsse den Vorfall ernst nehmen, um Schlimmeres zu verhindern, schreibt der niederländische Schriftsteller Leon de Winter.
Die Judenjäger in Amsterdam richteten keinen grossen physischen Schaden an: Ein Dutzend Juden wurden verletzt. Was weitaus grösser war als die Gewalt selbst, war ihre Bedeutung: Auf organisierte Weise wurden Juden in den historischen Strassen und Gassen Amsterdams verfolgt, so wie sie seit tausend Jahren von mörderischen Antisemiten in den Gassen und Strassen Europas verfolgt worden waren.
Der Schock, den die niederländische Gesellschaft am vergangenen Donnerstag erlebte, war enorm. Antisemitismus gab es in den Niederlanden immer, aber Pogrome ereigneten sich dort nie. Das änderte sich im Zweiten Weltkrieg, der immer noch als das grosse Trauma der Niederländer gilt. Den Nazis gelang es, den niederländischen Regierungsapparat für sich arbeiten zu lassen. Die Jagd auf Juden wurde zu einer der Hauptaufgaben der niederländischen Polizei, die diese Aufgabe diszipliniert erledigte. Der österreichische SS-Mann, der Anne Frank verhaftete, wurde von niederländischen Polizisten unterstützt.
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in den Niederlanden 140 000 Juden. Über 100 000 wurden ermordet, unter ihnen auch die Grossfamilien meiner Eltern, die mithilfe einer Widerstandsgruppe von Nonnen und Mönchen in Verstecken überlebt hatten.
Blutige Geschichte der Pogrome
In der jüdischen Geschichte gab es zahllose Pogrome. Zwischen 1918 und 2023 fanden auf dem russischen Gebiet 1100 Pogrome statt. Dabei wurden 100 000 Juden getötet. Bei Pogromen sind Vergewaltigungen ein fester Bestandteil. Das Pogrom von 1903 in Chisinau ist trotz seiner geringen Opferzahl – 49 Juden wurden ermordet – vielleicht das berüchtigtste. Es dauerte nur drei Tage, aber die Geschichten über die Vergewaltigung von 600 Frauen gingen in das kollektive Gedächtnis des europäischen Judentums ein. Es wurde zu einer Art Wendepunkt in der jüdisch-europäischen Geschichte, zu einem Moment der Fassungslosigkeit angesichts der barbarischen Greueltaten.
Das Pogrom von Chisinau begann mit einer Geschichte über ein totes Kind: Juden wurden beschuldigt, ein christliches Kind getötet zu haben. Angeblich wollten die Juden das Blut des Kindes für ihre Rituale verwenden. Steven J. Zipperstein, Professor für jüdische Geschichte an der Stanford University, schrieb in seinem Buch über dieses Pogrom zu den Tätern: «Von Anfang an wurde ihr Angriff auf die Juden als Selbstverteidigung gerechtfertigt, als vernünftige Reaktion auf ein Volk von Parias, das zu allen Straftaten fähig ist.»
Die Muster wiederholen sich heute in den Strassen Europas und Nordamerikas: Die Juden sind kindermordende Parias, die die Organe der von ihnen ermordeten Palästinenser stehlen. Was die Hamas und ihre westlichen Bewunderer tun, ist darum nichts anderes, als sich gegen die teuflischen Praktiken der Juden zu verteidigen.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war es in den Niederlanden nicht unanständig, als guter Bürger Antisemit zu sein, da die Abneigung gegen Juden nach den vorherrschenden Normen und Werten nicht als negative Eigenschaft angesehen wurde. Dies war keine Eigenheit der Niederlande. Ganz Europa erlebte diese Form des Antisemitismus, nachdem die Tore der Ghettos während der napoleonischen Ära geöffnet worden waren.
Wenn sie ehrgeizig waren und Möglichkeiten sahen, sich gesellschaftlich zu verbessern, konvertierten Juden zum Christentum. Diejenigen, die an den Traditionen der Väter festhielten, zahlten oft den Preis von Ausgrenzung, Unterdrückung und Beschimpfungen. Doch all diese Formen des Judenhasses blieben in den Niederlanden im Allgemeinen milde, auch wenn ich mich an grausame Geschichten über Diskriminierung erinnere, die mir meine Mutter erzählt hat.
Der alte Antisemitismus weicht dem neuen
Ich war neun Jahre alt, als ich zum ersten Mal als «mieser Jude» beschimpft wurde. Es geschah in der Schule, und der Schulleiter wollte mir nicht glauben, so dass die Bemerkung eines Mitschülers ungestraft blieb. Zu keinem Zeitpunkt meines Lebens war ich gegen Judenhass gefeit. Aber ich habe mich daran gewöhnt, wie an einen körperlichen Defekt, mit dem man sich abfinden muss, wie mit einem Klumpfuss.
In meiner Heimatstadt wurde mein Vater «Jude de Winter» genannt – dort war das Wort Jude ein Synonym für billig, schmutzig, verschlagen. Es war unangenehm, als ich das erfuhr, aber im Vergleich zu den Kriegsgeschichten, die meine Mutter erzählte, war es ein winziger Fleck. Zunehmend wurde der Judenhass zu einem versteckten Makel des Hassers selbst: Die Hasser gaben sich nicht zu erkennen, schwiegen darüber, und wenn sie sich äusserten, taten sie es unter vier Augen. Aber hin und wieder liessen sie etwas durchsickern.
Der klassische Antisemitismus schien zu verschwinden. Doch es geschah etwas anderes: Die Einwanderung von Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten brachte neue Formen des Judenhasses nach Europa. Wenn Menschen in ein anderes Land ziehen, bringen sie ihre Traditionen, ihre Vorlieben und Abneigungen, ihre kulturell bedingten Ängste und Ambitionen, ihre Liebe und ihren Hass mit. Marokkaner und Türken kamen ab den 1960er Jahren als Gastarbeiter in die Niederlande, und sie brachten ihre eigenen Traditionen und Vorurteile mit.
Sie kamen aus rückständigen Regionen: aus dem Rif-Gebirge in Marokko, aus Anatolien in der Türkei. Fotos von ihrer Ankunft in den Niederlanden zeigen schlanke, glattrasierte junge Männer in westlichen Anzügen, mit weissen Hemden und Krawatten. Doch viele von ihnen waren nicht in der Lage, sich zu integrieren. Sie waren Analphabeten oder wollten unbedingt in ihr Heimatland zurückkehren und hielten das Erlernen einer Fremdsprache für unnötig.
Religiöse Radikalisierung
Heute haben sie sich fromme Bärte wachsen lassen, tragen marokkanische Kopfbedeckungen und streichen mit den Fingern über die Gebetsschnur. Dort, wo sie leben, sind kleine Enklaven marokkanischen oder türkischen Lebens entstanden, vor allem im neuen westlichen Teil Amsterdams südlich des geschäftigen Hafens.
Als sie in den Niederlanden ankamen, hatten diese Männer keine Zeit für Frustrationen über ihren niedrigen sozioökonomischen Status; sie arbeiteten, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, als es in ihren Herkunftsdörfern möglich gewesen wäre. Die meisten blieben, und ihre Kinder und Enkelkinder konnten am Abenteuer des niederländischen Wohlfahrtsstaates teilhaben, der versucht, liberale Freiheiten mit staatlicher Unterstützung von der Wiege bis zur Bahre zu vereinbaren.
Vielleicht konnte sich die Hälfte der Nachkommen integrieren und sich die europäische Sprache des Fortschritts, der Emanzipation und der Bildung zu eigen machen. Ein anderer Teil der Nachkommen radikalisierte sich jedoch mit religiösen Überzeugungen, die nicht in die säkulare, radikal-moderne Kultur der modernen Niederlande passten.
Die jungen Männer aus dem Rif-Gebirge, die in die Niederlande kamen, schienen nicht besonders religiös zu sein. Die Religion kam, als sie älter wurden. Und mit ihr wuchs der islamische Antisemitismus in einer Gesellschaft, die sich stark säkularisierte. Aber die Niederlande machten Platz für die Professoren des Islams. Das passte zu dem, was ich kultivierte Gleichgültigkeit nenne.
Seit dem Aufkommen des Protestantismus in der Republik der Vereinigten Niederlande im 16. Jahrhundert entwickelte sich ein ausgeklügeltes Modell des Zusammenlebens verschiedener religiöser und ethnischer Gruppen, zu dem auch das Phänomen der «sophistischen Gleichgültigkeit» gehörte: Die Bräuche des katholischen Nachbarn wurden verachtet, aber wenn er nicht zu auffällig katholisch war, wurden seine Eigenheiten toleriert.
Jüdische Flüchtlinge aus Portugal und Spanien, unter ihnen auch wohlhabende Familien, und verarmte Juden aus Osteuropa fanden in diesem Modell der «sophistischen Gleichgültigkeit» ebenfalls die Freiheit, ihre Religion und ihre Bräuche zu pflegen. Die Juden nannten ihre Stadt liebevoll «Mokum», jiddisch für den «sicheren Ort». Noch heute nennen die Amsterdamer ihre Stadt Mokum.
Heute leben schätzungsweise 20 000 Juden in Amsterdam und 40 000 in den gesamten Niederlanden. Die muslimische Bevölkerung in den Niederlanden wird auf 1 Million geschätzt, bei einer Gesamtbevölkerung von 18 Millionen. In Amsterdam leben schätzungsweise 90 000 Muslime bei einer Bevölkerung von 930 000 Einwohnern.
Tabuisierter muslimischer Hass
Was ist letzte Woche passiert? Fans der israelischen Fussballmannschaft Maccabi Tel Aviv wurden nach dem Spiel gegen Ajax im Zentrum von Amsterdam von jungen Männern angegriffen, die in einer Pressemitteilung der Stadtverwaltung als «Scooter-Jugendliche» bezeichnet wurden. Diese Roller-Jugendlichen fuhren durch die Stadt und fragten Menschen, ob sie Juden oder Israeli seien. Bald kursierten Videos von ihren Aktionen. Sie selbst sprachen von einer «Judenjagd» oder einem Pogrom, um den Tod in Gaza zu rächen.
Ein grosser Teil der Enkel von eingewanderten marokkanischen Gastarbeitern hat in Israel und damit auch in den niederländischen Juden, die sie als Kollaborateure des, wie sie sagen, «völkermörderischen Regimes» in Israel betrachten, ein Objekt des Hasses gefunden. Es gibt psychologische, religiöse und soziokulturelle Gründe, warum sie sich so stark mit den Arabern im Gazastreifen identifizieren. So schlimm die Zahl der Opfer auch ist, in der Statistik der seit 1945 durch gegenseitige Gewalt getöteten Muslime – schätzungsweise 12 Millionen Menschen – gehört der Krieg in Gaza nicht zu den schlimmsten Ereignissen. Es gibt also noch andere Gründe für die Wut der jugendlichen Rollerfahrer.
Aber die Rolle des Islams bei dem Hass, den zu viele europäische Muslime gegen Israel und Juden im Allgemeinen hegen, ist schwer zu ergründen. Das Thema ist tabuisiert. In den westlichen Gesellschaften wird der Islam als eine Religion neben anderen Religionen betrachtet, und jeder, der behauptet, dass er von antichristlichen und antijüdischen Elementen durchsetzt sei, wird der Islamophobie oder des Rassismus bezichtigt.
Die Radikalisierung der jugendlichen Rollerfahrer sollte dringend untersucht werden, bevor ihre Judenjagd zu Mord und Vergewaltigung führt, wie am 7. Oktober 2023 in den an Gaza angrenzenden Dörfern. In der Zwischenzeit nimmt die Bedrohung durch Gewalt in niederländischen Grossstädten zu. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Juden Europa – das Objekt der verzweifelten jüdischen Liebe seit Tausenden von Jahren – endgültig verlassen.
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter lebt in Amsterdam. – Übersetzt aus dem Niederländischen.