Seit die USA wieder Munition liefern und Angriffe gegen Russlands Territorium erlauben, schlagen die Ukrainer hart zu. Eine entscheidende Verschiebung der Kräfteverhältnisse ist das noch nicht.
Seit drei Wochen kämpfen Russen und Ukrainer um das Grenzgebiet nördlich von Charkiw. Die härteste Schlacht tobt um die Kleinstadt Wowtschansk. 250 Gleitbomben seien auf seine Nationalgardisten abgefeuert worden, jede mit einem Gewicht von mehreren hundert Kilo, erzählte dem «Wall Street Journal» ein Mitglied der Einheit Chartija. «Die Schockwellen haben auch jene traumatisiert, die nicht schwer verletzt oder tot sind.» Ein Soldat, der im Donbass gekämpft hatte, sagte, so viel Zerstörung habe er nicht einmal in Bachmut gesehen.
Doch all ihre Bomben und Raketen verhalfen den Russen nur zu kleinen Gebietsgewinnen, und ihre Verluste waren im Mai laut dem britischen Geheimdienst so gross wie nie seit Beginn der Invasion. Die Ukrainer haben die Angreifer in der Stadt am Fluss Wowtscha aufgehalten. An manchen Stellen sind sie gar zu Gegenattacken übergegangen. Seit dem Wochenende hat sich noch etwas geändert: Nach der Kehrtwende der USA dürfen sie nun auch Ziele in Russland angreifen. Bisher bot das Gebiet ennet der Grenze Moskaus Truppen eine Schutzzone.
Himars gegen Russlands Hinterland
Kiew profitiert davon, dass inzwischen auch die Ende April freigegebene Militärhilfe an der Front ankommt. Dies bestätigen russische Quellen ebenso wie der ukrainische Blogger Ofizer. «Wir haben viel Munition für die Himars und andere Raketen.» Ihre neuen Waffen setzten sie am Wochenende konzentriert gegen feindliche Truppen an der Front und im russischen Hinterland ein und kombinierten dabei westliche mit ukrainischen Systemen.
Mehrfach feuerten die Ukrainer Himars gegen das Gebiet Belgorod ab. Auf Bildern aus der Provinz Charkiw sind 324 leere Munitionscontainer zu sehen. Am Montag zeigten Aufnahmen, dass damit mutmasslich eine Stellung der russischen Luftverteidigung etwa 50 Kilometer im Landesinneren zerstört wurde. Solche Abschussrampen für Raketen des Typs S-300 und S-400 nutzt Moskau auch für Angriffe gegen Charkiw. In der Ortschaft Schebekino trafen die Ukrainer laut eigenen Angaben ein Gebäude mit gelagerten Raketen.
Expended Ukrainian HIMARS/M270 MLRS launch pods, Kharkiv Oblast.
54 pods can be seen in this image, for a total of 324 fired M30/31 GMLRS rockets. pic.twitter.com/ENe2Myxvd7
— OSINTtechnical (@Osinttechnical) June 2, 2024
Gleichzeitig kamen andere Regionen unter Feuer. So schlugen im Donbass Himars-Raketen in eine Reparaturwerkstatt des russischen Militärs ein. Die ukrainische Einheit, die diese abfeuerte, wurde laut Moskauer Militärquellen kürzlich zur Verstärkung in die Frontstadt Tschasiw Jar verlegt. Dies relativiert auch die These, dass die Ukrainer durch die Verlegung von zusätzlichen Einheiten nach Charkiw andere Frontabschnitte entscheidend geschwächt hätten.
Die Verstärkung der Drohneneinheiten an der Nordgrenze erlaubte den Ukrainern auch einen schweren Schlag gegen eine Kolonne von Militärlastwagen in Russland. Auf einem Video sind fünfzehn Fahrzeuge zu sehen, die nacheinander zerstört werden. Sie sollten vermutlich Truppen versorgen, die Moskau seit einiger Zeit nahe der ukrainischen Stadt Sumi zusammenzieht, möglicherweise für die Eröffnung einer neuen Front.
Russlands Probleme an der Front wachsen
Die Ziele sind überall gleich: Kiew will Kommandoposten, Logistik und Flugabwehr treffen, um so Russlands Überlegenheit an der Front zu verringern. Dass die Ukrainer westliche Waffen nur bei Charkiw gegen Russlands Territorium verwenden dürfen, gestaltet den Einsatz zwar komplizierter. So griffen sie den Fährhafen auf der Seite der besetzten Krim mit amerikanischen Atacms, jenen auf der russischen Seite mit eigenen Raketen des Typs Neptun an. Aber die gelockerten Restriktionen der westlichen Partner und die zusätzliche Munition geben den Verteidigern nun mehr Optionen für Angriffe mit verschiedenen Waffentypen. Frühere Angriffe haben Russlands Luftverteidigung bereits geschwächt.
Der Aggressor sieht sich damit erstmals seit Monaten an einzelnen Frontabschnitten mit grösseren Problemen konfrontiert. Der Ton seiner Propagandisten hat sich geändert. Den Angriff auf die Militärkolonne kommentierte einer von ihnen mit offener Frustration: «Wann schalten die Kommandanten ihre Hirne ein?» Am staatlichen Fernsehen meldete der sonst hurrapatriotische Journalist Alexander Koz, in Charkiw habe der Feind genug Artilleriemunition, um die Russen in die Defensive zu zwingen. «Wenn wir Vorstösse versuchen, verlieren wir sehr viele Leute.»
Dass die Moskauer Truppen damit begonnen haben, mit schwerem Gerät und unter Beschuss Verteidigungslinien zu graben, melden auch ukrainische Kämpfer. Uneinig sind sich die Analytiker aber darüber, was dies für die nächsten Schritte bedeutet. Ist es ein Eingeständnis, dass die Charkiw-Offensive gescheitert ist? Aus Moskau kommen momentan auffällig viele Warnungen vor einer ukrainischen Gegenoffensive.
Nicht zwingend im Widerspruch dazu steht die Vermutung, dass die Russen eine operative Pause einlegen könnten, um Verstärkung heranzuschaffen. In diese Richtung deutet die Präsenz neuer Einheiten. Zudem mussten die Ukrainer am Sonntag bei Wowtschansk erneut einen Angriff mechanisierter Verbände abwehren. Auch im Donbass bleiben die Verteidiger in der Defensive, und die Angriffe gegen Kraftwerke und Dämme setzen ihrer Infrastruktur schwer zu.
Dass die Ukrainer den Druck auf Russland erhöht haben, gibt ihren erschöpften Soldaten immerhin eine Atempause. Sie müssen aber im Sommer mit neuen Offensiven rechnen und befestigen deshalb weiterhin in hohem Tempo Verteidigungsstellungen hinter der Front. Kiew hofft, nicht wie in Charkiw erneut überrascht zu werden – und dass die gezielte Schwächung der Kontrollzentren hinter der Front die Zerstörungskraft von Russlands Kriegsmaschine verringert.