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Europa müsse reagieren, sagt der Ökonom Jens Südekum. Sonst würden noch mehr Firmen in die USA abwandern
In den letzten Wochen häufen sich die schlechten Nachrichten für Europas Wirtschaft. So spaltet der Schweizer Zementriese Holcim sein US-Geschäft ab, während der Solarpanel-Hersteller Meyer Burger damit droht, seine europäische Produktion in die USA zu verlagern.
Dass die Situation für Europa beunruhigend ist, bestätigen auch die neusten Geschäftszahlen der ABB. Der Konzern, der Industrieunternehmen auf der ganzen Welt mit Automatisierungslösungen und Robotern beliefert, steigerte seinen Auftragseingang in den USA im letzten Quartal 2023 um 6 Prozent. In Europa dagegen sank er im gleichen Zeitraum um 5 Prozent.
Kommt es in Europa zur Deindustrialisierung, während die US-Industrie boomt? «Diese Gefahr besteht auf jeden Fall», sagt Jens Südekum, Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. «Die neusten Zahlen über die Entwicklung der Industrieproduktion in Deutschland machen mir Sorgen.»
Die Industrieproduktion sei zwar nicht eingebrochen wie zu Zeiten von Corona. «Wir erleben aber eine Rückwärtsentwicklung.» Laut Südekum geht es nicht nur darum, dass Firmen in die USA ziehen. Sondern auch darum, dass sie ihre Produktionskapazitäten nicht in Europa erweitern – sondern in den USA.
Kehrtwende der USA
Der Hauptgrund für die Attraktivität der USA ist eine Kehrtwende in der US-Industriepolitik, auch «Bidenomics» genannt. Mit Steuererleichterungen und allen Arten von Subventionen fördert das Land die Entwicklung in drei Sektoren, wie Südekum erklärt: im Ausbau der nationalen Infrastruktur, in der Produktion von Computerchips und in der Förderung von zukunftsweisenden Technologien für die Energiewende und die Dekarbonisierung – von der Solarenergie über grünen Wasserstoff bis hin zur Elektromobilität.
Das setzt Europa unter Druck: «Europäische Politiker bekommen von ihren Unternehmen plötzlich zu hören, ihnen liege ein verlockendes Angebot aus den USA vor – was denn Europa im Gegenzug bieten könne.» Erschwert wird die Situation durch die Energiepreise. Sie sind in Europa zwar seit Beginn der Energiekrise wieder deutlich gesunken, liegen aber noch immer höher als in den USA. «Subventionen und günstige Energiepreise sind ein Angebot, das viele europäische Firmen nicht ablehnen können», sagt Südekum.
Die Ironie der Geschichte: Die Fördermassnahmen der USA sind eigentlich gegen die wachsende Dominanz von China gerichtet, treffen nun aber Europa massiv, wie Südekum erklärt. Grüne Technologien seien bisher eine europäische Domäne gewesen, doch nun würden plötzlich die USA dank dem Einsatz von Steuergeldern zum Konkurrenzstandort.
In der Produktion von Computerchips hat die USA einen Weltmarktanteil von 20 Prozent, Europa von gut 10 Prozent. Dominierend ist mit 70 Prozent Asien inklusive China. Diesen Rückstand will die USA ebenfalls mit Subventionen aufholen. «Die Amerikaner beantworten Kritik aus Europa üblicherweise damit, dass sie nur die Dominanz Chinas durchbrechen wollen. Und dann fordern sie Europa dazu auf, wichtige Wirtschaftszweige doch ebenfalls zu subventionieren, um auch unabhängiger zu werden.»
Die EU hat mit einem eigenen grünen Industrieplan reagiert. Haben Unternehmen ein Angebot aus den USA vorliegen, können EU-Staaten ihrerseits Steuerbefreiungen oder Subventionen anbieten. Bisher hatte die EU-Gesetzgebung solchen Beihilfen enge Grenzen gesetzt. «Aus ökonomischer Sicht ist diese Entwicklung unschön», sagt Südekum. «Doch wenn die EU nichts unternimmt, werden noch mehr Unternehmen abwandern.»
«Zu langsam, zu zaghaft»
Zwar hat die EU erste Gelder gesprochen: Der Batteriehersteller Northvolt wird rund 900 Millionen Euro erhalten, um in Deutschland eine Produktionsstätte hochzuziehen. Wie wirkungsvoll die Gegenmassnahme der EU sein wird, lässt sich aber noch nicht sagen. Europa gehe damit zwar in die richtige Richtung, lautet Südekums Einschätzung. «Doch leider zu langsam, zu bürokratisch und zu zaghaft.»
In den USA sei das Verfahren für Steuererleichterungen schnell und einfach – «zur grossen Freude der Firmen», sagt Südekum. In der EU müsse man hingegen Anträge mit Hunderten von Seiten einreichen, die Antwort lasse oft monatelang auf sich warten. Die Subventionen seien zudem bei 150 Millionen Euro gedeckelt, während der Betrag in den USA nach oben offen sei.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»