Drei Millionen Menschen haben sich von den Kirchen abgewandt oder waren nie Teil von ihnen – eine heterogene Gruppe aus Kampfatheisten, Esoterikern und Gleichgültigen.
In der Schweiz hat sich Epochales ereignet. Die Konfessionslosen haben die Katholiken überholt und sind somit zur grössten religionssoziologischen Gruppe im Land geworden. Dazu zählt heute jede dritte Person, die über 15 Jahre alt ist. Das hat das Bundesamt für Statistik kürzlich mitgeteilt. Mehr als drei Millionen Menschen gehören keiner Kirche mehr an.
Der gesellschaftliche Wandel hat sich rasant vollzogen. Noch im Jahr 1990 waren die Konfessionslosen mit 7,5 Prozent ein kleines Grüppchen, während der Grossteil der Schweizerinnen und Schweizer völlig selbstverständlich reformiert oder katholisch war. Heute ist nur noch jeder Zweite in einer der grossen Landeskirchen – und der Mitgliederstamm schmilzt rapide weiter.
Prognosen, dass schon in den 2030er Jahren die Hälfte der Bevölkerung konfessionslos sein wird, sind plausibel.
Wer sind all diese Leute?
Der Religionssoziologe Pascal Tanner hat im Buch «Religionstrends in der Schweiz» ein Porträt der «Religionslosen» erstellt – wobei lange nicht alle Konfessionslosen auch religionslos sind. Das zeigt sich etwa daran, dass sich fast 40 Prozent als «spirituell» bezeichnen.
Es fällt auf, dass die Konfessionslosen überdurchschnittlich jung und gut gebildet sind. Laut Religionssoziologen findet die Abkehr von der Religion nicht in erster Linie in der individuellen Biografie statt – dass also bei den Menschen im Lauf des Lebens der Glauben immer ein bisschen mehr schwindet. Vielmehr ist jede neue Generation von Schweizern religionsferner als die ihrer Eltern. Sie werden nicht mehr getauft, bekommen kaum mehr christliche Glaubenssätze vermittelt. Entsprechend ist der Anteil der Konfessionslosen bei den Jungen deutlich grösser als bei den Alten.
Auf die Frage, warum besser ausgebildete Personen besonders religionskritisch sind, hat die Wissenschaft noch keine abschliessende Antwort gefunden. Eine Theorie lautet, dass wissenschaftliches Denken auf Beweisen und Logik basiert – dass Wissen also im Widerspruch steht zu Glauben. Eine andere Erklärung: An Universitäten treffen derart viele Weltbilder aufeinander, dass sich besonders fundamentale religiöse Überzeugungen fast automatisch aufweichen.
Kaum Unterschiede gibt es beim Geschlecht, beim Beziehungsstatus und beim Wohnort. Unter den Konfessionslosen finden sich nur ein bisschen mehr Männer als Frauen, ein bisschen mehr Städter als Landbewohner und ein bisschen mehr Singles als Nichtsingles.
Die Konfessionslosen über solche soziodemografischen Zuschreibungen hinaus zu charakterisieren, ist nicht so leicht. Das hängt auch damit zusammen, dass die Forschung bisher die Fragen zu eng gestellt hat, wie der Soziologe Robert Schäfer von der Universität Basel sagt. «Wir haben die Menschen gefragt, wie sie es mit dem Christentum halten, wie oft sie in die Kirchen gehen, wie oft sie beten. Und so festgestellt, was sie alles nicht mehr tun. Aber was sie tun, was sie interessiert – darüber wissen wir wenig.»
Dennoch lassen sich die drei Millionen Konfessionslosen in einzelne Gruppen aufteilen:
Säkularisten und Religionsgegner
Sie sind nur eine kleine Gruppe mit ein paar tausend Gesinnungsgenossen, und doch nehmen sie gerne für sich in Anspruch, für alle Konfessionslosen zu sprechen: die Freidenker und andere «Kampfatheisten». Sie halten Religion für schädlich und haben selbst eine missionarische Ader, die sich in Plakatkampagnen mit solchen Slogans zeigt: «Da ist wahrscheinlich kein Gott. Also sorg dich nicht – geniess das Leben.»
Die neuste Konfessionslosenstatistik nahmen die Freidenker zum Anlass, ihre alte Forderung zu wiederholen: Staat und Kirche müssten nun endlich entflochten werden. Auch soll es keine staatlichen Zuschüsse an die Kirchen mehr geben. «Der weltliche Staat soll nicht atheistisch werden, aber er muss endlich säkular werden», schrieb der Freidenker-Präsident Andreas Kyriacou. «Er darf Religionsgemeinschaften gegenüber anderen zivilgesellschaftlichen Kräften nicht länger bevorzugen.»
Kyriacou ist das Aushängeschild der Schweizer Freidenker, zusammen mit dem Walliser Valentin Abgottspon, der einst seinen Job als Lehrer verlor, weil er sich weigerte, in seinem Schulzimmer ein Kruzifix zuzulassen. Das Duo ist typisch für das Milieu der Säkularisten, die grösstenteils männlich und hoch gebildet sind und ein wissenschaftlich-rationales Weltbild verfechten.
Alternative
In der Säkularisierungsforschung gibt es zwei dominante Schulen. Eine geht davon aus, dass Säkularisierung vor allem die Abwendung von den kirchlichen Institutionen bedeutet. Die spirituellen Bedürfnisse hätten die Menschen weiterhin, sie würden sie einfach auf andere Weise befriedigen. So entstünden, auch als Resultat des Individualisierungsprozesses, unzählige religiöse Splittergruppen.
Verfechter dieser Theorie verweisen gerne auf einen «Boom» von Esoterik, New Age oder alternativen Heilmethoden. Die Anhängerinnen – es sind vorwiegend Frauen – solcher Weltanschauungen glauben fast so oft wie Kirchenmitglieder an eine höhere Macht. Nur verstehen sie darunter weniger einen personalen Gott als eine «kosmische Energie», die alles durchflutet. Auch der Glaube an die Reinkarnation ist in diesen Kreisen weit verbreitet.
Sie haben ihre eigenen Stars wie das angeblich «hellsichtige» Medium Christina von Dreien, das mit seinen Auftritten in Deutschland oder der Schweiz ganze Säle füllt. Und auch Messen wie «Find your Flow» in Basel ziehen ein grosses Publikum an.
Allerdings ist das esoterische Milieu überschaubar. Der Religionssoziologe Jörg Stolz schätzte 2012, dass es etwa 3 Prozent der Gesellschaft ausmache. Und seither sei es auch nicht gewachsen, eher im Gegenteil, sagt Stolz’ Kollege Robert Schäfer: «Dass die Religion einfach ihre Gestalt in andere Formen der Spiritualität ändert, anstatt zu verschwinden: Das sieht man in den Zahlen aus der Schweiz oder Deutschland nicht.»
Es hätten sich damit eher die Annahmen einer zweiten grossen Säkularisierungsschule als richtig erwiesen: dass nämlich die Religiosität in der Gesellschaft immer weiter zurückgeht. «Die Häufigkeit der Gottesdienstbesuche und der religiöse Glaube hängen recht eng zusammen», sagt Schäfer. «Religion ist etwas, das man in der Gemeinschaft erlebt, nicht allein daheim in der Stube.»
Distanzierte
Jörg Stolz hat die «Distanzierten» als grösste aller religionssoziologischen Bevölkerungsgruppen identifiziert. Sie dürften heute einen wesentlichen Teil der drei Millionen Konfessionslosen stellen. Distanzierte glauben laut Stolz nicht nichts, sie haben gewisse religiöse und spirituelle Vorstellungen und Praktiken. Diese sind in ihrem Leben aber nicht besonders wichtig – oder kommen nur in besonderen Fällen zum Einsatz, etwa in einer Krise nach dem Tod eines geliebten Menschen.
Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2019 waren zwei Drittel der heute Konfessionslosen in ihrer Kindheit katholisch oder reformiert. Entsprechend haben sich noch Reste einer religiösen Praxis erhalten. Manche Distanzierte beten gelegentlich oder besuchen an Weihnachten doch noch einen Gottesdienst – immerhin jeder dritte Konfessionslose gibt an, mindestens einmal im Jahr in die Kirche zu gehen. Und auch christliche Werte wie die Nächstenliebe finden die Distanzierten grundsätzlich gut.
Diese Menschen haben sich mehrheitlich erst im Lauf ihres Lebens von der Kirche abgewandt. Das kann verschiedene Gründe haben. Die meisten erklären ihren Austritt mit fehlendem Glauben. Die einstigen Katholiken hingegen waren vor allem mit den Positionen der Kirche zur Homosexualität oder zur Abtreibung sowie mit der Stellung der Frauen nicht einverstanden. Und auch die Missbrauchsfälle dürften zu zahlreichen Kirchenaustritten führen und die Zahl der Konfessionslosen noch weiter nach oben treiben. Der Kanton Zürich meldete kürzlich, die Katholiken (minus 3,7 Prozent) und die Reformierten (minus 3,2 Prozent) hätten 2023 den grössten jemals erfassten Mitgliederschwund innerhalb eines Jahres erlitten.
Eine kleine Fraktion stellen konservative Katholiken wie die SVP-Politiker Natalie Rickli, Claudio Zanetti und Roberto Martullo-Blocher, denen die tendenziell progressiven kantonalen Körperschaften («Landeskirchen») so sehr auf die Nerven gehen, dass sie austreten. Damit sind sie formal nicht mehr Mitglied der katholischen Kirche. Sie selbst identifizieren sich aber weiterhin stark mit der Weltkirche, zumal nach kanonischem Recht getauft bleibt, wer getauft ist. Das Geld für die Kirchensteuer überweisen die Kritiker der Landeskirchen direkt an den Bischof.
Gleichgültige
Stark wachsen wird in Zukunft die Gruppe jener, denen die Religion und die Kirchen schlicht egal sind. Dies vor allem, weil die Konfessionslosen von heute ihren Kindern mit grosser Wahrscheinlichkeit das kirchliche Leben nicht mehr näherbringen wollen und können. «Es könnte sein, dass es sich um lauter Nihilisten handelt, die an nichts glauben», sagt der Soziologe Schäfer. «Aber ich halte das für sehr unwahrscheinlich.»
Was also glauben die religiös Indifferenten? In Umfragen geben sie an, sie würden an das Leben glauben. An die Natur. An die Evolution. An die Menschen. Oder an eine ausgleichende Gerechtigkeit. Bei manchen erkannte der Religionsforscher Stolz eine leichte Wehmut, wenn sie sagen: Es wäre schön, könnte ich an ein Leben nach dem Tod oder an einen wohlmeinenden Gott glauben – aber ich kann es nicht.
Eine Säkularisierungstheorie geht davon aus, dass der moderne Wohlfahrtsstaat oder die Fortschritte der Medizin die individuellen Risiken verringert haben, wodurch es weniger zu schwierigen Lebenssituationen kommt – dem Tod eines Kindes oder dem Verlust des Obdachs. Dadurch sinke die Nachfrage nach religiösen Angeboten. Ebenso durch den Siegeszug der Naturwissenschaften, die viele Fragen beantwortet haben, die die Menschen im Lauf ihrer Geschichte beschäftigt haben: Was löst Krankheiten aus? Wie ist die Welt entstanden?
Dennoch bleiben die Fragen nach dem Sinn unserer Existenz. Und das Bedürfnis nach Trost bei persönlichen Tiefpunkten oder gesellschaftlichen Krisen wie Kriegen und dem Klimawandel. «Säkulare Menschen in der ‹westlichen› Moderne suchen darauf Antworten, ohne Bezug auf übernatürliche Kräfte zu nehmen», sagt Schäfer. Er vertritt deshalb die Hypothese, dass die Indifferenten auf verschiedene Methoden zurückgreifen, die Sinn stiften sollen.
Eine ist die Arbeit – ganz im Sinn von Max Weber, aber komplett losgelöst von protestantischen Glaubensüberzeugungen. «Arbeit als Sinn des Lebens, das ist immer noch weit verbreitet», sagt Schäfer. Deshalb seien Zeitverschwendung und Müssiggang auch für viele säkulare Menschen eine «Sünde», und Arbeitslosigkeit könne sie in eine schwere Krise stürzen.
Ein zweites Feld ist das, was Schäfer mit «moderner Romantik» umschreibt: die Suche nach Authentizität, nach kreativer Selbstverwirklichung, die gerade bei der Generation Z, den heute 12- bis 27-Jährigen, im Vordergrund stehe. Auch die Natur könne einen fast schon sakralen Stellenwert bekommen, sagt Schäfer.
In eine ähnliche Richtung geht auch die ganze «Wellbeing»- und «Awareness»-Bewegung, die den Menschen Wohlbefinden ohne himmlische Hilfe verspricht, aber zuweilen Überschneidungen mit dem esoterischen Milieu hat. Das zeigt sich bei «Life-Coaches», die ihren Kunden «Energiearbeit» oder Hypnosen zum Lösen «innerer Blockaden» anbieten.
Drittens nennt Schäfer den Post- oder Transhumanismus. Es geht darum, die Sterblichkeit des Körpers zu überwinden oder das menschliche Bewusstsein in digitale Speicher hochzuladen.
Wenn man das existenzielle Problem des Todes abschafft, braucht man das religiöse Konzept des Jenseits definitiv nicht mehr.