Nicole Niquille ist die erste Bergführerin der Schweiz – und seit 28 Jahren im Rollstuhl. Diesen Sommer haben ihr sechzehn Frauen das Gipfelerlebnis auf einem Walliser Viertausender möglich gemacht. Und weil das Gute selten allein kommt, wird sie nächsten Montag von der Paraplegiker-Stiftung für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Es könnte ein ganz normaler Tag am Zermatter Breithorn sein. Die Gletscherfläche des Breithornplateaus breitet sich weiss gleissend in der Morgensonne aus, und die Gipfel des Walliser Hochgebirges ragen still in den Himmel. Im Restaurant am Fuss des Berges – beim Klein Matterhorn auf über 3800 Metern Höhe – trinken Touristen Kaffee, und Bergsteiger zurren auf dem Schneetrassee vor der Bergstation ihre Steigeisen fest. Also alles wie immer, wäre da nicht diese Seilschaft. Oder besser: dieses Gespann aus sechzehn Bergsteigerinnen, die einen Sessel auf Kufen ziehen und schieben. Darin Nicole Niquille, 66, eingepackt in eine dicke Jacke, mit Helm und Sonnenbrille, zufrieden lächelnd.
In den 1980er Jahren kletterte sie über schwierigste Routen auf Berge, stieg als erste Frau ohne Sauerstoff auf über 8000 Meter und wurde 1986 zur ersten Bergführerin der Schweiz. Eine Pionierin und Vagabundin der Berge war sie. Bis ihr Leben am 8. Mai 1994 eine Wende nahm: Beim Morchelnsammeln unweit ihres Hauses im Greyerzerland trifft sie ein Stein in der Grösse einer Walnuss am Kopf – Schädelbruch, Universitätsspital Lausanne, drei Tage lang künstliches Koma. Dann die Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma mit Schädigung des Hirnareals, das für Bewegung zuständig ist.
Seither verbringt Nicole Niquille ihren Alltag im Rollstuhl. Was sie nicht daran hinderte, in den Jahren nach dem Unfall ein Bergrestaurant zu führen, ein Spital in Nepal zu gründen und auf Expeditionen im Himalaja als Base-Camp-Manager zu arbeiten. Eine Pionierin ist sie geblieben und damit eine Person, die immer wieder in der Öffentlichkeit stand. So sehr, dass Caroline George – Mittvierzigerin und selbst erfolgreiche Bergführerin – sich kaum traute, einfach so bei Nicole Niquille anzuklopfen. «Sie war für mich als junge Frau ein Idol», sagt sie. «Eine Frau, deren Geschichte mich sehr berührte, obwohl ich sie nicht persönlich kannte.»
Etwas zurückgeben
Doch Caroline George hatte eine Idee: Sie wollte Nicole Niquille ein Gipfelerlebnis auf einem Schweizer Viertausender schenken. «Um etwas davon zurückzugeben, was sie uns jüngeren Frauen an Selbstvertrauen und Inspiration gegeben hat.» Der Zufall wollte es, dass die beiden sich letzten Herbst trafen. Caroline George kam mit einem Gast vom Breithorn zurück, Nicole Niquille rollte in ihrem Rollstuhl nach einer Konferenz durch Zermatt. Da fasste sich Caroline George ein Herz und ging auf Nicole Niquille zu. Ob sie sich vorstellen könnte, in einem Schlitten auf einen Viertausender zu gelangen, fragte sie ohne Umschweife. Nicole Niquilles Augen leuchteten. «Klar!», antwortete diese. «Genau solch verrückte Ideen liebe ich!»
Die Idee wurde zum Projekt. Caroline George suchte Mitstreiterinnen, bald folgten erste Tests. «Die ersten Versuche machten wir mit Hundeschlitten», erzählt sie. Doch dann kam Orthotec dazu, eine Tochterfirma der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, die unter anderem im Rollstuhlsport tätig ist. Deren Experten waren es, die aus einem Snowboard einen Schlitten mit Sessel, Lenker und Seitenstützen schufen. Wobei fraglich blieb, ob die Muskelkraft des «Gespanns» ausreichen würde, um dieses zu ziehen. Notabene über eine Schneeflanke, die man sonst mit Steigeisen begeht, sowie einen Firngrat entlang zum Gipfel des 4164 Meter hohen Breithorns.
Unkenrufer nannten das Unterfangen «unmöglich». Doch Anfang Juli beweisen sechzehn Frauen das Gegenteil. Vor dem Klein Matterhorn stapfen sie los, jede ein Gurtzeug mit Zugseil um die Hüfte, hinter dem Sessel zwei bis drei Frauen am Lenker. Mit einem Ruck hat die Fahrt auf dem Trassee beim Klein Matterhorn begonnen, nun gleitet das Gespann über die Weite des Breithornplateaus. Mit von der Partie sind viele Bergführerinnen, unter ihnen Rita Christen, die Präsidentin des Schweizer Bergführerverbands. Ausserdem zwei von Nicole Niquilles Nichten, eine Mitarbeitende von Zermatt Tourismus sowie Heidi Hanselmann, die Präsidentin des Stiftungsrats der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.
«Alle sind auf freiwilliger Basis mit dabei», sagt Caroline George. Und alle ziehen sie, wortwörtlich, am selben Strang. Immer dem Breithorn entgegen, bald steiler bergauf, bis sie gebückt, keuchend und mit nach oben gekrempelten Ärmeln die steile Flanke hochstapfen. Nicole feuert sie derweil aus dem Schlitten an. Blickt auf die hochalpine Gipfelwelt und strahlt, streckt ab und zu die Hand nach unten und schiebt sich eine Handvoll Schnee in den Mund. «Das fühlte sich an wie eine Heimkehr», wird sie später erzählen. In den letzten Jahren sei sie zwar immer wieder im Hochgebirge des Himalaja gewesen. «Aber eben nicht in den Alpen.»
Dass alles klappt, ist indes mehr als nur Zufall. Minuziös geplant hat Caroline George den Aufstieg. Mehrere Wochen lang hat sie die Bedingungen am Berg beobachtet, sich Gedanken gemacht über zu blanke Flanken oder zu tiefen Neuschnee. Und auch Heidi Hanselmann hat sich hie und da gefragt, ob der Schlitten halten würde, was die Feldtests versprachen. Nur eine macht sich keine Sorgen: Nicole Niquille. Auf ihre Gelassenheit angesprochen, lacht sie. «Es gibt für jedes Problem eine Lösung.»
Vielleicht ist es genau diese Energie einer Unbeugsamen, die im Gipfelaufstieg alle anderen beflügelt. In gut zwei Stunden, derselben Zeit, die Führer mit Gästen durchschnittlich brauchen, erreichen Nicole Niquille und ihr Team den Gipfel. «Vraiment exceptionnel» sei diese Seilschaft gewesen, sagt sie rückblickend. «Und dann noch das Matterhorn im Hintergrund und all die anderen Viertausender.» Sie habe sich vor der Tour vorgenommen, auf dem Gipfel nicht vor Glück zu weinen, weil sie viel auf ihre Selbstkontrolle gebe. Doch als sie auf dem Breithorn ankommen, in grelles Sonnenlicht getaucht und unter einem Himmel, so tiefblau, wie er nur im Hochgebirge sein kann – da weint sie doch.
Gelebte Solidarität
Auch Heidi Hanselmann, selbst leidenschaftliche Alpinistin, hat das Gipfelerlebnis bewegt. «Das war gelebte Solidarität und Inklusion», sagt sie, und die Emotionen klingen noch Wochen nachher in ihrer Stimme an. Und die Bergführerin Caroline George bezeichnet die Tour gar als einen der intensivsten Momente ihrer Alpinkarriere. Warum? Weil das Projekt zeige, dass Berge und Bergsport Menschen aller Couleur offenstünden. «Auch Menschen, die lange nicht ins typische Bild des Bergsteigers passten.»
Rund ein Jahrhundert hatte es gedauert, bis Frauen in der Schweiz offiziell Bergführerinnen werden konnten. Und 25 Jahre vergingen, bis der Schweizer Bergführerverband Nicole Niquille für ihre Leistung in diesem Feld mit einer Ehrenmitgliedschaft auszeichnete. Nun, gut 10 Jahre später, wird sie einmal mehr geehrt: am kommenden Montag, wenn die Schweizer Paraplegiker-Stiftung sie im Rahmen der Ehrung der Querschnittgelähmten des Jahres für ihr Lebenswerk auszeichnen wird.
Nicole Niquille war zeitlebens ein Vorbild und wird es bleiben. Nicht nur für Bergsteigerinnen, sondern auch für Menschen mit Handicap – und überhaupt für alle mit grossen Träumen. Ist sie doch überzeugt davon, dass Träume zählen. «Denn es gibt immer Träume», sagt sie, «die sich realisieren lassen.» Und so erstaunt auch nicht, dass das Breithorn wohl erst der Anfang war. Haben sie und Caroline George auf der Talfahrt vom Klein Matterhorn nach Zermatt doch gleich abgemacht, nun jährlich einen Gipfel zu besteigen. Was angesichts der Topografie mancher Berge das Team von Orthotec vor Herausforderung stellen dürfte. «Aber die Leute dort sind genauso verrückt wie wir alle hier!», sagt Nicole Niquille und lacht erneut. Deshalb dürfte es auch mit dem Schlitten keine weiteren Probleme geben. Sondern nur Lösungen.