Am Mittwoch trifft YB in der Champions League auf den italienischen Meister Inter Mailand. Der Autor stammt aus Bern, ist aber seit Jahrzehnten glühender Interista.
Am Sonntagabend sass ich vor dem TV. Wie immer, wenn Inter Mailand spielt. Inter gewann, doch zufrieden war ich nicht. Die Konkurrenten AC Milan, Napoli und Juventus Turin siegten ebenfalls – unverdient, wie ich fand.
Ich kann mich über solche Dinge aufregen. Geht es um Inter Mailand, verstehe ich keinen Spass – verspüre Emotionen im Überfluss. Meine Frau und meine Tochter finden das manchmal lächerlich.
Ich führe noch eine Agenda aus Papier. Dort trage ich mir jedes Inter-Spiel ein. Ich bin oft unterwegs, doch das ist keine Ausrede, um die Spiele zu verpassen. Ich schaue die Matches überall: am Strand, im Restaurant, mitten in der Nacht oder früh am Morgen. Ich verfolge Inter am Gate im Flughafen, auf einem verwackelten Stream auf dem Smartphone oder, wenn es sein muss, während einer Stadtrundfahrt. So tief ist meine Liebe zu diesem Klub.
Ich verliebte mich als Bub in Inter. Mein Vater sagte mir, zuerst hätten mich die Farben fasziniert, als wir in den achtziger Jahren ein Fussballspiel am TV geschaut hätten. Schwarz und Blau.
Coole Niederländer gegen angestrengte Deutsche
Im Vor-Internet-Zeitalter war es unmöglich, die Spiele der Serie A in der Schweiz live im Fernsehen zu sehen. Als Achtjähriger sass ich am Sonntagabend vor dem TV, wenn der italienische Sender RAI groteske Fussballsendungen zeigte. Die Mischung aus Machismus und Sexismus – halbnackte Frauen standen neben palavernden Männern – würde im heutigen Zeitgeist schlecht ankommen.
Der Anfang meines Inter-Fan-Daseins war schwierig, weil die AC Milan die als cool geltenden Niederländer Ruud Gullit, Marco van Basten und Frank Rijkaard im Team hatte. Inter hingegen setzte auf die eher angestrengten Deutschen Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann. Doch mit diesem deutschen Trio wurde Inter Meister.
Trotz diesem Erfolg lernte ich früh, warum der Spitzname «Pazza Inter» kreiert wurde. «Verrücktes Inter» – passender geht es nicht. Unruhe, Chaos, Blamagen sind ständige Begleiter des Klubs. Und ich frage mich, wie ich all die titellosen Jahre im Schatten von Juventus und Milan überstanden habe.
Wundervolle Jahre mit Ronaldo
Im Gymnasium war Luca aus Italien ein guter Kollege. Luca ist glühender Juventus-Fan. Wir stritten, debattierten und provozierten. Leider gewann Juve deutlich öfter als Inter, ich litt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Juventus betrogen hatte. Doping, Kungeleien, Einflussnahme beim Schiedsrichter – das volle Programm. Luca hat sich Jahre später, als wir längst erwachsen waren, entschuldigt. Es machte die schweren Zeiten nicht rückgängig.
Ich blieb Inter treu. Sempre Inter! Mein liebster Spieler der Geschichte, der Brasilianer Ronaldo, spielte ein paar wundervolle Jahre bei uns, das war der perfekte Match für mich. Wie wenn heute Neymar auf einmal ein Nerazzurri wäre. Ronaldo Luíz Nazário de Lima war nie besser als in diesen Jahren.
Ronaldo, Dennis Bergkamp, Adriano, Javier Zanetti, Luis Figo, Ricardo Alvarez, Philippe Coutinho, Wesley Sneijder, Maicon – ich hatte immer Lieblingsspieler bei Inter, deren Trikots ich fleissig kaufte. Zuerst Fälschungen auf dem Markt in Italien, später teure Sondereditionen im Internet. Wobei ich die Shirts nur zum Fussballspielen anziehe, im Stadion nie.
Es gibt so viel Magisches an Inter. Die Historie. Die grossen Figuren. Und erst das San Siro, die stimmungsvollste, legendärste Fussballarena der Welt. Das Stadion ist fast immer ausverkauft. Zum Glück ist die Bürokratie in Italien so kompliziert, ein Neubauprojekt harzt seit Jahren, ich hoffe immer noch auf eine Modernisierung des San Siro.
2010 holten wir dann das Triple, insgesamt waren es in diesem Jahr sogar sechs Titel, im Champions-League-Final gab es ein 2:0 gegen Bayern München. Was für ein Triumph. Seither verehre ich den damaligen Trainer José Mourinho. Egal, bei welchem Klub er heute arbeitet, egal, wie unsympathisch er sich gibt.
Ich wurde in all den Jahren älter und gelassener – aber Inter begleite ich noch immer mit Leidenschaft und einer Bedingungslosigkeit, die mir unheimlich ist. Nach Mourinho hätte es Tausende Gründe gegeben, diesen Klub weniger intensiv zu verfolgen. Nach dem Triumph folgten Jahre mit kläglichen Spielern und schrecklichen Aufstellungen. In dieser Zeit reichte ein Derbysieg gegen die AC Milan oder ein Erfolg gegen Juventus, und die Saison war gerettet.
Inter hat sich den Ruf verdient, ein Friedhof für grossartige Spieler zu sein. Im Klub fehlt es oft an Geduld. Roberto Carlos, Clarence Seedorf und Andrea Pirlo sind nur drei Beispiele für Fussballer, die bei anderen Klubs Weltkarrieren lancierten, bei Inter jedoch nicht reüssierten.
Trotzdem stellte ich in den Ferien in Australien den Wecker einmal auf 3 Uhr 30 und ging in Sydney in die grösste Sportbar der Stadt. Die Reaktion meiner Frau zu dieser Aktion kann man sich vorstellen. Die Bar war voller Fans von Manchester United, Inters Gegner in diesem Achtelfinal der Champions League. Sie waren die ganze Nacht dort gewesen und tranken munter Bier. Ich bestellte sehr nüchtern Espresso und Wasser, wurde ausgelacht und verhöhnt.
Siege, Niederlagen, Jubel, Trauer. Grosse Siege, grosse Niederlagen. Ich habe mit Inter die ganze Bandbreite an Emotionen erlebt. Zuletzt im Champions-League-Final 2023 in Istanbul. Inter war besser als das favorisierte Manchester City, verlor aber 0:1. Ein Trip zum Vergessen.
Wie jedes Jahr habe ich mir auch vor dieser Saison das aktuelle Leibchen gekauft, schliesslich holte Inter letzte Saison den 20. Meistertitel und hat endlich zwei Sterne auf dem Shirt. Trotzdem ist der Klub längst nicht mehr so reich wie früher, als er ein Liebhaberobjekt von Milliardären war, die gerne ihr Geld verschwendeten, wofür ich vollstes Verständnis hatte. Trotzdem hat der derzeitige Trainer Simone Inzaghi ein überragendes Projekt aufgebaut; Inter ist spielstark, taktisch perfekt, hat wunderbare Spieler wie Lautaro Martinez, Nicolò Barella, Hakan Calhanoglu oder Alessandro Bastoni.
Am Mittwochabend um 21 Uhr kommt Inter erstmals in meinem Leben für ein Pflichtspiel ins Wankdorf – in meine Heimatstadt Bern. Dort trifft es in der Champions League auf YB. Endlich. Ich bin vorher im Ausland und brauche einen pünktlichen Flug, um rechtzeitig im Stadion zu sein. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Inter verliert – ich müsste das Handy tagelang ausschalten, der Spott meiner Berner Kollegen wäre garantiert.
Doch das wird nicht passieren. Und sowieso: Das wichtigste Spiel in dieser Woche ist der Spitzenkampf am Sonntag im San Siro gegen Juventus.