Der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer fordert alle nötige Unterstützung für die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland. Das gelte auch für die Schweiz, deren Neutralität heute überdacht werden sollte.
Vergangenes Wochenende waren viele Menschen in Deutschland auf der Strasse, um gegen die AfD zu protestieren. Waren Sie auch dabei?
Ich bin nicht dazu gekommen, aber ich hätte keine Probleme damit. Ich finde es eine hervorragende Sache. Auch dass es parteiübergreifend ist, dass es sehr breit ist. Aber ich hatte an beiden Wochenenden zu tun.
Ist denn die AfD eine grosse Bedrohung für die Demokratie in Deutschland?
Ich will es nicht darauf ankommen lassen, dass eine Nachfolgepartei der Nazis wieder die Gelegenheit bekommt. Stellen Sie sich vor, diese Diskussion in Potsdam: Ausweisungen von Millionen von Menschen. Unter anderem auch von deutschen Staatsangehörigen. Das ist doch alles nicht von dieser Welt.
Haben Sie so viel Misstrauen gegenüber der deutschen Bevölkerung?
Es geht nicht um Misstrauen gegenüber der deutschen Bevölkerung. Es wurden schon einmal eine solche Partei und ihr Führer gnadenlos unterschätzt. Und es war eben Deutschland. Es war nicht Frankreich, es war nicht Grossbritannien. Es war bei uns. Wir sind in Deutschland. Und wir haben eine besondere Geschichte. Eine, die schmerzt bis auf den heutigen Tag. So viel Masochismus habe ich nicht, dass ich meine, jetzt probieren wir es einfach mal. Es mag sein, dass Ihnen als Schweizer das nachzuvollziehen schwererfällt. Wir leben nun mal in einem konkreten historischen Raum.
Um den Erhalt der Demokratie geht es auch in der Ukraine. Das Interesse am Krieg ist im Westen erlahmt, obwohl die Lage dort sehr ernst ist. Wie wird das enden?
Wir sind in Europa zurück in einer Situation der Rivalität zwischen den Grossmächten. Das ist eine sehr instabile Situation. Die Uhren der Geschichte wurden weit zurückgestellt – im Falle Putins und Russlands sogar ins 19. Jahrhundert, als Russland ein Zarenreich war. Es hat doch keiner von uns damit gerechnet, dass Kriege um die Hegemonie in Europa wieder möglich sein werden.
Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat von der Zeitenwende gesprochen. Doch hat Europa genug unternommen, um der Ukraine zu helfen?
Die EU ist wie eine Schweiz, wenn die Kantone noch das Sagen hätten. Es ist eine Konföderation unabhängiger Nationalstaaten und eben kein Bundesstaat. Die Länder haben unterschiedliche Sichtweisen und Interessen. Dass das gemeinsame Interesse nicht überwiegt, hat mit der mangelnden Entschlossenheit der Akteure zu tun. Wenn die Ukraine gegen Russland verliert und als Staat ausgelöscht wird, dann endet das ja nicht.
Was kommt dann als Nächstes?
Putin wird sich mit grossem Appetit neuen Herausforderungen zuwenden; die Moldau wurde schon genannt. Die Selbstauflösung der Sowjetunion an Weihnachten 1991 wurde in der russischen Elite und grossen Teilen des Volkes als historische Katastrophe gewertet. Putin will die grosse Revision einleiten.
Was muss denn in Westeuropa passieren?
Bundeskanzler Scholz muss man attestieren, dass er die deutsche Debatte völlig verändert hat. Deutschland hatte zunächst diskutiert, ob man Drohnen bewaffnen oder überhaupt Waffen liefern darf. Heute fragen wir danach, welche Waffen Deutschland liefern soll. Deutschland ist nach den USA der grösste Waffenlieferant für die Ukraine.
Aber warum nicht mehr, warum nicht schneller?
Es ist ein Abwägen. Scholz hat sich stets mit den USA koordiniert, doch diese sind wegen der Wahlen im November leider fast schon gelähmt. Das ist eine neue Situation für Deutschland, da wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer im Windschatten der USA agiert haben. Ich kann nachvollziehen, dass man da nicht mutig vorangeht, auch angesichts der historischen Kriegsschuld Deutschlands gegenüber Russland.
Machen wir es konkret: Sollte Deutschland Marschflugkörper vom Typ Taurus an die Ukraine liefern?
Vorsicht darf nicht zur Tatenlosigkeit führen. Wir sollten alles tun, was die Ukraine in die Lage versetzt, den Kampf erfolgreich zu bestehen.
Sie würden das also begrüssen.
Ja.
Sie sprechen hier wie selbstverständlich über die Aufrüstung der Bundeswehr und Europas. Zum Gründungsmythos der Grünen, denen Sie angehören, gehört aber auch der Pazifismus. Wie geht das zusammen?
Die Grünen waren zwar eine pazifistische Partei, sie waren aber auch immer eine Menschenrechtspartei. Schon zu Sowjetzeiten gab es enge Beziehungen zu Dissidenten in Osteuropa, so auch zur russischen Organisation Memorial, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Wenn die Menschenrechte mit Füssen getreten werden, muss der Pazifismus in den Hintergrund treten.
Hand aufs Herz: Sind Sie zuversichtlich, dass wir die Herausforderung mit Russland bestehen werden?
(Denkt lange nach.) Ja, denn die Alternative ist nicht erbaulich. Wir müssen dieser Bedrohung widerstehen, und zwar gemeinsam.
Schweden und Finnland haben ihre Neutralität aufgegeben und sich der Nato angeschlossen. Braucht es noch neutrale Länder wie die Schweiz?
Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter des europäischen Nationalismus, gab es für die Neutralität gute Gründe, um nicht von den Grossmächten erdrückt zu werden. Doch ob es diese Gründe immer noch gibt, da habe ich meine Zweifel.
Was ist denn heute so anders?
Wir werden bedroht von der grossen Revision Putins. In dieser Bedrohungssituation sollten die europäischen Demokratien zusammenstehen. Und da ist die Schweiz in der Mitte Europas mit ihrer grossen Tradition ein wichtiger Akteur.
Immerhin kauft die Schweiz mit den F-35 die besten Kampfjets der Welt. Sie leistet also einen Beitrag zur Sicherheit Europas.
Ich bin nicht der Meinung, dass die Schweiz der Nato beitreten muss. Ihr beschafft die besten Kampfflugzeuge – aber für welchen Luftraum? Im Ernstfall bleibt der Schweiz doch gar nichts anderes übrig als eine enge Kooperation mit der Nato. Dass die Demokratie bedroht ist, sehen wir übrigens auch im Krieg im Nahen Osten. Ich sehe zwischen den beiden einen engen Zusammenhang.
Sie sehen also im neuen Nahostkonflikt einen Kampf zwischen Demokratie und Totalitarismus?
Als am 7. Oktober, also beim Überfall der Hamas auf Israel, klarwurde, mit welcher Brutalität am helllichten Tage die Hamas die Verbrechen beging, war mir klar, dass das kein Zufall war. Es sollte vielmehr ein psychologischer Schock ausgelöst werden, nämlich die Erinnerung an die Shoah, an die Pogrome. Bei der israelischen Bevölkerung wurde ein Gefühl der Schutz- und Wehrlosigkeit erzeugt. Diese Psychologie traue ich der Hamas allein nicht zu.
Wem sonst?
Wir müssen die Rolle Irans neu bewerten. Iran hat mit Terrorgruppen und Milizen ein Netz über den Nahen Osten gelegt. Dabei stärkt das Bündnis mit Russland und China Iran massiv.
Im letzten Jahr sanken die CO2-Emissionen in Deutschland, allerdings nur wegen des Rückgangs der Industrieproduktion. Schwächt sich Deutschland mit seiner Klimapolitik selbst im weltweiten Wettbewerb?
Das ist ein absolutes Hirngespinst. Der Zustand der deutschen Automobilindustrie im globalen Wettbewerb – dafür waren doch nicht die Grünen verantwortlich. Hey, bei allem Respekt. Die Probleme, die der chinesische Markt heute für uns bringt, das hat doch nichts mit den Grünen zu tun. Das war alles absehbar. Diese Gefahren liegen in einem ausschliesslich exportorientierten Wachstumsmodell. Bei den Grünen wird heute alles abgeladen. Das deutsche Wirtschaftsmodell lebte von billiger russischer Energie. Die kommt nicht wieder, da mag Frau Wagenknecht noch so die Hände ringen. Ein zweiter Faktor ist der gigantische chinesische Exportmarkt. Der hat sich im Laufe der Jahre von einer Chance fast zu einer Bedrohung gewandelt. Und das Dritte ist die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa, die auch infrage steht. Das alles erfordert sehr, sehr grosse finanzielle Anstrengungen. Und da kommen die deutschen Konservativen auf die glänzende Idee, wir müssten sparen. Doch schauen Sie sich unsere Wettbewerber an. Die USA und China, die machen gerade das Gegenteil.
Also sollten wir in einen Wettbewerb um möglichst hohe Staatsausgaben eintreten?
Wir müssen mithalten im Wettbewerb um Zukunftsinvestitionen. Ich bin nicht für höhere Sozialabgaben, aber wir müssen bei den Investitionen hinterher sein. Der traurige Zustand der deutschen Infrastruktur, der Bahn, dafür sind nicht die Grünen verantwortlich.
Der hohe Strompreis ist aber schon eine Folge der grünen Politik. Wenn man Atomkraftwerke abschaltet und dann von den AKW in Frankreich abhängig ist, ist das doch keine gute Politik.
Sind wir davon abhängig?
Im Winter schon. Die Bundesnetzagentur rechnet ausserdem mit einem Investitionsbedarf von mehreren hundert Milliarden Euro für die deutschen Stromnetze, um den Ökostrom zu verteilen.
Okay, wir werden infrastrukturelle Veränderungen brauchen, die alles andere als billig sind. Aber wir machen das doch nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil es darum geht, unsere Volkswirtschaft und Gesellschaft auf die neuen Herausforderungen des Klimaschutzes einzustellen.
Deutschland gibt 10 Milliarden Euro an die amerikanische Halbleiterfirma Intel, damit sie irgendeine Fabrik baut, wo dann 3000 Leute arbeiten; das heisst, pro Arbeitsplatz sind es 3 Millionen. Können Sie uns das erklären?
Ich weiss ja, mit wem ich hier dieses Interview führe. Für die NZZ sind Staatssubventionen fast ein Sakrileg. Aber Sie werden einen gewissen Strukturwandel ohne staatliche Hilfen nicht hinbekommen. Sie müssen einfach sehen, warum Taiwan hier führend ist: weil sie über Jahrzehnte hinweg eine planvolle Industriepolitik gemacht haben, mit sehr viel Geld.
Aber die neuen KI-Firmen sind keine Erfindungen oder Projekte des amerikanischen Staates, sondern es sind private Unternehmen.
Ich halte diese Debatte ehrlich gesagt für zu ideologisch. Es geht nicht um Staat oder privat. Es geht um die Frage: Was nützt, was wird gebraucht? Das interessiert mich. Deutschland braucht Wachstum. Also bin ich der Meinung, wir müssen die Bremsen lockern. Sonst hemmen wir uns selbst. Und wir brauchen Wachstum mit Zukunft. Wir dürfen uns nicht abhängen lassen im digitalen Bereich. Und das sage ich jetzt für die Schweiz genauso wie für Deutschland und Europa. Wir müssen die Investitionen voranbringen, ob privat oder staatlich.
Was sagt denn Ihre Partei dazu, in der viele Leute von Degrowth sprechen?
Mit Degrowth werden Sie die Transformation nicht hinbekommen. Sie dürfen nie vergessen: In der Demokratie entscheidet die Mehrheit, was geht und was nicht geht. Wir dürfen uns nicht in eine Wunschwelt verabschieden, das wird nicht funktionieren.
Erster grüner Minister Deutschlands
cei./pra. «Ich bewundere und schätze die grossartige Tradition der Schweiz», sagt Joschka Fischer auf seiner Zwischenstation in Zürich, bevor er als Gastredner am Internationalen Alpensymposium in Interlaken teilnimmt. Der 75-Jährige war 1998 bis 2005 in der Regierung Schröder Aussenminister und Vizekanzler. Auf eine solche Karriere hatte zunächst wenig hingedeutet. Fischer hatte sowohl das Gymnasium als auch eine Fotografenlehre abgebrochen. Er zog 1968 nach Frankfurt. Die von ihm mitbegründete Karl-Marx-Buchhandlung im Studentenviertel Bockenheim gibt es immer noch. Fischer gehörte bis 1975 der linksradikalen Gruppe Revolutionärer Kampf an. 1982 trat er der neuen Partei Die Grünen bei und wurde 1985 Umweltminister im Bundesland Hessen, wo er in Jeans und weissen Turnschuhen vereidigt wurde. Nach der Abwahl der Regierung Schröder 2005 zog er sich aus der aktiven Politik zurück. Seither ist er als Dozent, Redner und Unternehmensberater unterwegs.