Bilder Karin Hofer / NZZ
Viele seiner schwulen Freunde starben. Neth hingegen hat Glück: Als er krank wird, sind die ersten wirksamen Aids-Medikamente bereits verfügbar. Eine Zeitreise.
Als das Bundesamt für Gesundheitswesen eine Broschüre an alle Schweizer Haushalte verschickt, ist es für Werner Neth schon zu spät. Wir schreiben das Jahr 1986. Aids ist auf dem Vormarsch. Verbreitet wird die Krankheit durch einen Erreger, den man später als «human immunodeficiency virus» (HIV) bezeichnen wird. Ist sie einmal ausgebrochen, kann man nichts dagegen tun. Oder, wie im Faltblatt des Bundesamts auf Seite 5 geschrieben steht:
Die Aids-Erkrankung endet fast immer mit dem Tod des Betroffenen.
Neth ist damals 35, Absolvent der Universität St. Gallen, Mitarbeiter und später Direktor einer der drei Schweizer Grossbanken. Ein Basler, der nach dem Studium über Umwege in Zürich gelandet ist und sich am Wochenende regelmässig in der Barfüsser-Bar im Niederdorf aufhält, einem stadtbekannten Lokal der Schwulen- und Lesbenszene. Bei seinem ersten Besuch Ende der siebziger Jahre muss er sich zuerst einen Schubs geben. Eine Location für Homosexuelle – das war neu für ihn.
Neth ist selber schwul. Im Studium hatte er eine Psychoanalyse gemacht, weil er das Gefühl hatte, dass mit ihm etwas nicht stimme. Das konnte er nicht akzeptieren. Er erwartete etwas anderes von sich selbst. Und seine Eltern sicher auch, dachte er. Dass er irgendwann eine Freundin haben, heiraten und Kinder haben werde.
Ein schönes, aber falsches Bild. Neth fühlt sich zu Männern hingezogen. Seine Eltern hatten es schon länger vermutet. Er muss schmunzeln, als er davon erzählt. «Sie hätten auch einmal was sagen können in all den Jahren!»
Werner Neth im Kweer-Café im Zürcher Niederdorf, der früheren Barfüsser-Bar. Das Lokal gilt als Treffpunkt für Schwule und Lesben in der Stadt.
Mitte der achtziger Jahre lebt Werner Neth schon seit längerem mit seinem damaligen Partner zusammen. Kein Grund zur Beunruhigung also, möchte man meinen.
Die rätselhafte Krankheit, über die das Bundesamt informieren will und die im Juni 1981 erstmals in einem Bericht der amerikanischen Centers of Disease Control beschrieben wird, scheint weit weg. Fünf bis anhin gesunde junge Männer waren damals mit einem Pilz in der Lunge in Los Angeles hospitalisiert worden. Alle entwickelten daraufhin eine Lungenentzündung und weitere Symptome. Zum Zeitpunkt des Berichts der US-Behörde waren zwei Patienten bereits gestorben. Ihr Immunsystem war derart geschwächt, dass sich der Körper gegen die multiplen Infekte nicht mehr wehren konnte. Alle fünf waren homosexuell.
Küssen verboten?
«Schwule in Kalifornien, die plötzlich abmagern, alt und krank werden – das hatte mit meiner Welt zunächst nichts zu tun», sagt Werner Neth bei unserem Treffen in Zürich. Und überhaupt: «acquired immune deficiency syndrome» (Aids), was soll das sein?
Die anfängliche Gelassenheit ist bald vorbei. Die Krankheit verunsichert die Menschen. Halbwissen macht sich breit. In Skilagern wird Kindern eingebleut, nicht direkt aus dem Teekrug zu trinken. Das Bundesamt für Gesundheitswesen versucht dagegenzuhalten. In ihrer Aids-Broschüre schreibt die Behörde:
Zungenküsse sind vermutlich nicht Ursache einer Infektion mit dem AIDS-Virus, obwohl dies oft behauptet wird.
Doch in der Bevölkerung bleibt die Informationslage unklar. In einer Strassenumfrage des Schweizer Fernsehens sagt eine junge Frau:
Ich habe irgendwo gelesen, dass Aids auch durch einen Zungenkuss übertragen werden kann. Das hat mich geschockt. Da hat man irgendwie Angst bekommen. Und jetzt heisst es, dass es übertragen werden kann, wenn man mit einem schläft. Ein völliges Wirrwarr.
Ein älterer Herr sagt in die Kamera:
Das ist eine auserwählte Gesellschaft, die davon befallen wird. Erstens mal viele Homosexuelle. Und sonst solche, die sehr unsolid leben. Ich kann nicht sagen, warum. Ich bin ein Mensch, der anständig lebt.
Der Mann ist damit nicht allein. Der Skifahrer Pirmin Zurbriggen lässt sich in der «Schweizer Illustrierten» mit den Worten zitieren, dass Aids eine Strafe Gottes sei. Später rudert der gläubige Katholik zurück. Er sei falsch wiedergegeben worden.
Oder könnte es mit dem Gleitmittel zu tun haben? Das hat Werner Neth in der Barfüsser-Bar damals auch einmal gehört. Anfang der achtziger Jahre ist kurzzeitig gar von einer «gay-related immune deficiency» die Rede. In der Presse macht das Unwort einer «Schwulenseuche» die Runde.
Eine Krankheit, die nur homosexuelle Männer trifft? Da kann sich die Mehrheit der Bevölkerung im ersten Moment nur wundern darüber. «Was gehen uns, die wir alle so herrlich normal sind, die Probleme der Homosexuellen an?», schreibt die NZZ im Frühling 1983. Die Zeitung beantwortet die Frage gleich selbst: «Einmal hat jeder Kranke Anspruch auf Hilfe, ob uns seine Lebensweise passt oder nicht. Zum andern ist es aber nicht ausgeschlossen, dass der neue Erreger aus dem engen Kreis der heute Betroffenen ausbricht und neue Opfer sucht.»
Eine «Lustseuche» stehe jedoch kaum bevor. «1300 Fälle in den Vereinigten Staaten sind nicht viel. Selbst wenn sich diese Zahl verzehnfachen sollte, ergäbe das auf die Schweiz umgerechnet immer noch nur 400 Fälle pro Jahr.» Für die NZZ ist das keine überwältigende Zahl – «angesichts von jährlich 1200 Verkehrstoten, die wir ungerührt zur Kenntnis nehmen».
Dennoch scheint klar, und so steht es auch in dem Rundschreiben des Bundesamts:
Männer, die mit Männern sexuelle Kontakte pflegen, sind besonders gefährdet. Grössere Gefahr als Vaginalverkehr bergen Anal- und Oralverkehr. Kleinste Verletzungen der dünnen Mund- und Darmschleimhäute genügen dem AIDS-Virus als Eintrittspforte in den Körper.
Die Behörde ist ziemlich deutlich in ihren Botschaften. Sie lässt Herrn und Frau Schweizer wissen:
- Vermeiden Sie wahllose Sexualkontakte mit wechselnden Partnern gleich welchen Geschlechts. Flüchtige Sexualbekanntschaften erhöhen das Ansteckungsrisiko.
- Mit der konsequenten und sorgfältigen Benützung von Präservativen (Kondome, Pariser) können Sie die Ansteckungsgefahr in Risikosituationen um ein Vielfaches vermindern.
- Vermeiden Sie anale und orale Sexualpraktiken mit Partnern, die Sie nur flüchtig kennen.
«Ich dachte, den Test mach ich locker»
Aber eben: Werner Neth ist mit seinem Partner zusammen. Da sollte eigentlich nichts passieren. Auch wenn die Erzählung mit Kalifornien am anderen Ende der Welt irgendwann nicht mehr funktionierte. Irgendwann hatte ein Studienkollege von Neth einen Pilz im Rachen. «Das muss 1983 oder 1984 gewesen sein. Wir wussten nicht, was es war. Es gab noch keine Bezeichnung dafür.» Der Mann wohnte bei ihm in der Nähe. Er starb wenig später.
Es ist der erste Aids-Tote, den Werner Neth persönlich gekannt hat. Er denkt sich nichts weiter dabei. Auch nicht, als er 1986 vor einem kleinen Eingriff am After von seinem Arzt zu einem HIV-Test aufgefordert wird. Neth sagt: «Ich dachte, den Test mach ich locker. Ich war ja mit meinem Freund zusammen – und nicht ständig in Parks oder sonst wo unterwegs. Auch vor dieser Beziehung hatte ich wenig Action.»
Das Testresultat fällt positiv aus. Auch sein Partner ist HIV-positiv. Es ist ein Todesurteil auf Raten. Von Medikamenten, die das Ausbrechen von Aids verhindern, ist die Forschung noch Jahre entfernt. Neth sagt: «Ich wusste, dass es nicht gut ist.»
Und jetzt?
Werner Neth nimmt es Schritt für Schritt. Die Stelle am After muss operiert werden. Er lässt eine weitere Untersuchung über sich ergehen. Und stellt fest, dass der Arzt die Liege und den Raum komplett mit Bauplastik abgedeckt hatte. «Man war halt wahnsinnig unsicher damals. Man wusste nicht, wie man sich schützt, wie das Virus übertragen wird. Manche Ärzte hatten Panik.»
Dann, in einem Spital am linken Zürichseeufer, wird er zuerst mit einem anderen Patienten in einem Zweierzimmer untergebracht. Doch dann bittet ihn die Krankenschwester, seine Sachen wieder auszuräumen aus dem Schrank. Neth bekommt ein Einzelzimmer. Er wird isoliert. An der Tür steht mit dicken rotenBuchstaben: «Besucher bitte bei der Station melden. Keine Blumen.»
Der Höhepunkt der Epidemie
Vielleicht muss Werner Neth in diesen Monaten auch an den Fernsehjournalisten André Ratti denken, das Gesicht der Aidskranken in der Schweiz. Ratti hatte sich im Juli 1985 zum Präsidenten des neu gegründeten Vereins Aids-Hilfe Schweiz wählen lassen. Warum, wird er im TV-Gesundheitsmagazin «Schirmbild» gefragt.
Seine eindrückliche Antwort:
Ganz einfach. Ich bin selber homosexuell. Ich werde dieses Jahr 50, und seit April weiss ich, dass ich Aids habe. Ich habe einen ersten Schub dieser Krankheit mit Gottes Hilfe und jener meiner Ärzte überwunden. Aber meine Lebenserwartung ist statistisch gesehen nicht sehr günstig. Daher hatte ich keine Wahl mehr. Es ist für mich fast selbstverständlich geworden, dass ich mich an die Spitze dieses Vereins stelle und jetzt – noch – mithelfe, all das zu machen, was zu machen ist.
Man wolle vor allem informieren und aufklären. Für Ratti sind HIV und Aids ein menschliches Problem.
Man kann nicht einfach auf Leute einreden und dann von ihnen verlangen, dass sie ihr Verhalten, durch das sie jahrelang geprägt worden sind, verändern. Sondern wir müssen fast mit jedem Einzelnen Kontakt haben, Empfehlungen herausgeben, wie das Verhalten verändert werden kann, damit die Gefahr einer Ansteckung vermindert wird.
Ratti stirbt im Oktober 1986, nach einem mehrmonatigen Spitalaufenthalt, an einer Lungenentzündung – seiner dritten, seitdem das HI-Virus bei ihm zu Aids geführt hat.
Sein Todesjahr markiert den Höhepunkt der HIV-Epidemie in der Schweiz. 3251 Menschen infizieren sich mit dem Virus. Über zwei Drittel der HIV-Positiven sind Männer.
Für den Boulevard ist die Krankheit ein gefundenes Fressen. Der «Blick» foutiert sich um die Bemühungen des Bundes, keine Panik aufkommen zu lassen. Das Blatt titelt lieber: «AIDS: Schon 72 Tote in der Schweiz – wir sind das AIDS-Land Nr. 1 in Europa.» (Mit 21,2 Fällen pro eine Million Einwohner, gemeinsam mit Dänemark.) Für die grösste Tageszeitung des Landes ist die frühere «Schwulenseuche» zur «Sex-Seuche» mutiert: «unheimlicher als die Pest und rätselhafter als Krebs». Und nicht nur das. In fetten Buchstaben schreibt der «Blick» weiter: «Beängstigend auch die Beobachtung der Ärzte: AIDS ist bei weitem nicht mehr nur ein Leiden der Homosexuellen und Drogensüchtigen.» Alle können betroffen sein, selbst Babys infizierter Mütter.
Doch die Schweiz kann auch anders, als Angst zu haben. Weite Teile der Bevölkerung zeigen sich solidarisch mit HIV-Positiven und Aidskranken, zumindest aus sicherer Distanz. 1989 wird in Basel das erste Lighthouse der Schweiz eröffnet, ein Heim für Aidskranke. Finanziert wird der Betrieb über Privatspenden und Zuwendungen einer gemeinnützigen Stiftung. Zwei Jahre später folgt ein Schwesterhaus in Zürich.
Die Einrichtung will ein Ort sein, wo man «fröhlich sein kann mit Menschen, die am Sterben sind», wie der Basler Leiter damals sagt. In einem schmucklosen Wohngebäude an der Hebelstrasse finden im ersten Jahr 30 Aids-Patienten ein Zuhause für die letzten Monate. Die Hälfte davon stirbt noch im ersten Jahr. Das Sterbehospiz stösst jedoch nicht überall auf Zustimmung. Angestellte der Wäscherei, die Kleidung und Bettzeug der Lighthouse-Bewohner sauber machen, fürchten sich vor einer Ansteckung. Die Lösung des Problems: Der Betrieb legt sich eine Spezialwaschmaschine zu.
Eine Kampagne für Generationen
Derweil verstärkt das Bundesamt für Gesundheitswesen seine Bemühungen im Kampf gegen das Virus. Mit Broschüren im Briefkasten ist es nicht getan. 1987 wird die Stop-Aids-Kampagne lanciert. Sie appelliert ebenfalls an die Solidarität der Bevölkerung mit den Betroffenen. Zum Beispiel mit einem Auftritt von Gesundheitsminister Flavio Cotti. Oder mit einer Aufnahme eines Aidskranken und einem beklemmenden Schriftzug darunter:
Ich habe Aids. Ich habe Angst vor Ihrer Angst vor mir.
Gleichzeitig werden die Botschaften auf Plakatwänden, in Presse-Inseraten und am Fernsehen knapper, eindeutiger, einprägsamer. Die Kampagne verdichtet sich auf zwei Wörter:
«Stop Aids».
Das O in «Stop» zeigt ein rosarotes, nicht ausgerolltes Kondom von oben. Das kreisrunde Ding wird für mehrere Generationen zum Symbol dafür, wie man es richtig, nämlich sicher, macht beim Sex. Ohne Dings kein Bums – ob Mann, Frau, schwul oder bisexuell, ob feste Beziehung, Affäre oder One-Night-Stand. «Stop Aids» heisst es nun auf allen Kanälen. Auch zur besten Sendezeit am Bildschirm. Der «Tagesschau»-Moderator Charles Clerc rollt sich in der Hauptausgabe vom 3. Februar 1987 ein Präservativ über den Mittelfinger und sagt:
Wie die Wissenschaft uns glaubhaft versichert, sind Präservative vorläufig das einzig wirksame Mittel, um sich vor einer Ansteckung mit dem Aids-Virus zu schützen. Dieses kleine Ding kann also über Leben und Tod entscheiden. Daran ändern weder erotische noch ästhetische oder moralische Bedenken etwas.
Die Stop-Aids-Kampagne hat sogar einen eigenen Song. Sein Refrain geht so:
Bim Siitesprung
im Minimum
en Gummi drum!
«Dr Gummi-Song» des Berner Mundartrockers Polo Hofer dürfte die Krankheit vollends popularisiert haben. Aids als Gassenhauer, eine seltsame Vorstellung. Aber die Kommunikationsoffensive zeigt Wirkung: Die Zahlen der Neuinfektionen gehen zunächst deutlich und seit 1991, dem zweiten Höhepunkt der HIV-Epidemie, auch in der langjährigen Tendenz immer mehr zurück.
Wie lange noch?
Für Werner Neth stellen sich in den achtziger Jahren allerdings ganz andere Fragen. «Ich musste davon ausgehen: Ich bin infiziert, irgendwann werde ich krank. Und dann sterbe ich», sagt er im Gespräch mit der NZZ.
Was also tun? Auswandern, ans Meer, irgendwo an den Strand im Süden, im ewigen Sommer – wie einer seiner HIV-positiven Bekannten, der nach Ibiza gezogen und dort nach ein paar Monaten gestorben ist? Die Zeit in vollen Zügen geniessen? Jeden Tag so nehmen, als sei es sein letzter?
Neth macht nichts von alldem. Er sagt sich: «Noch bin ich gesund, noch bin ich stark.» Er macht einfach weiter in seinem Leben. Fast so, als sei nichts gewesen. Bis auf seinen Freund erfährt niemand, dass er HIV-positiv ist. Seine Eltern nicht, sein Bruder nicht. Er wollte sie nicht beunruhigen. Auch seinem Arbeitgeber sagt er nichts. Neth ist ambitioniert. Er will die Direktorenausbildung machen. Wie hätte die Bank wohl reagiert, wenn er seine Infektion offengelegt hätte?
Neth hat einen Verdacht. «Die hätten sich vielleicht überlegt: ‹Den schicken wir sicher nicht in die Weiterbildung – wer weiss, wie lange er noch zu leben hat.› Offen ausgesprochen hätte man das kaum. Aber vielleicht gedacht.» Er wollte nicht diskriminiert werden, auch nicht auf die diskrete Tour.
Er wollte nicht, dass die anderen sagen oder denken: «Aha, schwul, Aids, ist ja klar. Einer von denen also. Selber schuld! Der hätte es doch wissen müssen.» Solchen Stigmatisierungen will er sich nicht aussetzen. Also schweigt er, jahrelang. Auch im Militär. Neth dient sich hoch bis zum Major und zum Quartiermeister.
Gleichzeitig fragt er sich immer: Wie lange noch? Was kommt noch, was nicht mehr?
Werner Neth, 1 Meter 85 gross, ist ein schlanker, sportlicher Typ. In den achtziger und frühen neunziger Jahren geht er regelmässig ins Fitness. Sein Abo könnte er jeweils für zwei Jahre verlängern. Er erneuert es nur für ein Jahr. Und dann für ein weiteres, und dann wieder nur für eines. Weiter vorausdenken kann und will er nicht. Neth sagt sich: «Vielleicht bin ich nur schon froh, wenn ich das kommende Jahr überstehe.» An seinem Geburtstag und an Weihnachten muss er manchmal denken: «Ein schönes Fest! Hoffentlich war das nicht das letzte Mal.»
«Langzeit-Überlebende»
So vergeht die Zeit. 1988 erklären die Vereinten Nationen den 1. Dezember zum Welt-Aids-Tag, im Gedenken an all jene, die der Krankheit erlegen sind. 1991 stirbt Freddie Mercury an Aids. Der Sänger der britischen Pop-Gruppe Queen ist bis heute das berühmteste Opfer des HI-Virus.
Ein Jahr später taucht im Leben von Werner Neth ein Begriff auf, von dem er noch nie gehört hat: «Langzeit-Überlebende». Am Welt-Aids-Kongress in Amsterdam macht 1992 eine Untersuchung die Runde, die HIV-Infizierte über mehrere Jahre begleitet. Nach 10 Jahren waren 51 Prozent der Studienteilnehmer an Aids erkrankt, nach 13 Jahren 65 Prozent. Das bedeutet: Über ein Drittel ist bisher verschont geblieben. Ein Hoffnungsschimmer!
So zumindest interpretiert der «Kölner Stadtanzeiger» die Zwischenbilanz der Studie. «Das Thema schien die Zuhörer zu elektrisieren. Immer mehr Langzeit-Überlebende meldeten sich als ‹lebende Beweise› aus dem Publikum zu Wort.» Neth erfährt in der Schwulenzeitschrift «Der Stiefel» davon, die den Kongressbericht der Zeitung auszugsweise abdruckt.
In der gleichen Ausgabe finden sich auch Todesanzeigen von Männern, die es nicht geschafft haben. Und noch mehr Halbwissen. Ein Aids-Aktivist, der sich ebenfalls zu den «Langzeit-Überlebenden» zählt, gibt auf einem Podium an dem Kongress in Amsterdam sein «Erfolgsrezept» preis: viel und regelmässig schlafen. Neth sagt trotzdem: «Das waren erfreuliche Nachrichten für mich.»
Sie sollten sich als trügerisch erweisen.
«Vor zwei Jahren wären Sie gestorben»
Im März 1995 erkrankt Werner Neth an einer Lungenentzündung. In seiner Lunge wird ein Pilz entdeckt – es ist die gleiche Kombination, die auch die ersten Aids-Patienten 1981 in Los Angeles aufwiesen. Neth hat grosses Glück: Mitte der neunziger Jahre werden die ersten Medikamente getestet, die wirken gegen die Krankheit. Die Ärzte sagen zu ihm: «Vor zwei Jahren wären Sie gestorben.»
Auch die Nebenwirkungen sind weniger schlimm als früher. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Fieber, Übelkeit, Schwindelanfälle, Erbrechen und – für einen ohnehin schon geschwächten Körper besonders schwerwiegend – Blutarmut: Davon bleibt er weitgehend verschont.
«Schlecht war mir schon», sagt Neth. Bei einem Medikament sei ihm hundeelend geworden, dass er den Ärzten am Zürcher Unispital gesagt habe: Entweder setze man das ab, oder er stürze sich in die Limmat. «Aber dann hatten die Ärzte immer ein anderes Medikament zur Hand, das wir ausprobieren konnten.» Auch das wäre früher nicht möglich gewesen.
Seit 1995 lässt sich Werner Neth alle drei Monate untersuchen am Unispital. Er ist nach wie vor HIV-positiv, aber in seinem Blut und seinem Sperma ist das Virus nicht mehr nachweisbar, da es durch die Medikamente unterdrückt wird. Das bedeutet auch: Dank einer modernen Therapie ist er nicht mehr ansteckend. Mittlerweile ist diese Behandlung kaum mehr der Rede wert. Jeden Morgen nimmt er zwei Pillen – fertig.
Klingt unspektakulär. HIV und Aids sind längst aus den Schlagzeilen verschwunden, zumindest in der Schweiz und in anderen Ländern, die über eine gute medizinische Versorgung verfügen. Das zeigt sich auch beim «Comingout» von Werner Neth 2019, als er in der Titelstory des «Migros-Magazins» kurz vor dem Zürcher Pride-Festival erstmals öffentlich von seiner Infizierung spricht. Das HI-Virus wird nur beiläufig erwähnt. «Aids» kommt in dem Text überhaupt nicht vor.
Neth hat lange geschwiegen. Mittlerweile steht er hin und sagt: «Ich bin HIV-positiv.»
Für Neth ist klar: «Es ist immer noch ein Tabu.» Das habe er nach diesem Auftritt erneut gemerkt. Der Artikel habe überhaupt keine Reaktionen ausgelöst. Null.
Und nein, es gehe ihm nicht darum, das Gesicht der HIV-Prävention in der Schweiz zu sein. Und überhaupt: Er denke nicht jeden Tag an den Erreger, den er in sich trage. Zumal es in seinem Leben auch andere Themen gebe. Den Schreibdienst der Stadt Zürich zum Beispiel, wo der pensionierte Bankdirektor Bewerbungen für jene verfasst, die nicht so gut Deutsch können. Seinen Zweitwohnsitz in Barcelona. Freundschaften, die Liebe. Die Sendung «Seniorama» im Radio Stadtfilter, bei der er mitarbeitet. Oder das Alter. Neth ist 72. Er kann davon ausgehen, dass er die gleiche Lebenserwartung hat wie Gleichaltrige ohne Infizierung.
HIV und Aids haben ihren Schrecken verloren. Die Krankheit ist zu einer Begleiterscheinung der Partyszene geworden. Das sieht auch Neth so. Bei unserem Treffen in der früheren Barfüsser-Bar im Zürcher Niederdorf schnappt er sich einen der aufliegenden Flyer der Aids-Hilfe Schweiz – und ärgert sich darüber. Das Faltblatt will über sexuell übertragbare Krankheiten informieren. Aber die Hauptrolle spielen Syphilis, Tripper und Chlamydien.
«Und was ist HIV?»
Diese Frage kommt erst ganz am Schluss. Fast so, als hätte es die Aufregung um eine tödliche Krankheit der achtziger und neunziger Jahre nie gegeben. Dabei ist das Virus immer noch da. 2022 haben sich 371 Personen damit angesteckt, 46 mehr als im Jahr davor.