Die Schweiz und die Textilindustrie, das war einst eine enge Beziehung. Doch der Strukturwandel hat die Branche dahinraffen lassen. Jüngstes Beispiel: der Appenzeller Stoffveredler Cilander. Ein Besuch bei einem Traditionshaus, das seinem Ende entgegenblickt.
«Motivierte Talente suchen neue Jobs.» In grossen Buchstaben prangt die Botschaft am Fabrikgebäude, gut sichtbar für alle vorbeifahrenden Autolenker. Auch ein QR-Code findet sich auf der behelfsmässig befestigten Blache. Wer ihn scannt, landet auf einer Website, wo steht: «Wenn Sie interessante Möglichkeiten haben oder jemanden kennen, der auf der Suche nach Talenten ist, dann setzen Sie sich unverzüglich mit unserem Job-Center in Verbindung.» Es folgt eine Liste mit diversen Berufen und Qualifikationen, vom «erfahrenen Logistiker» bis zur «teamgeistorientierten Führungskraft».
Ein Teil der dörflichen Identität
In der Schweiz, dem Land des permanenten Arbeitskräftemangels, sind solche Aushänge selten. Auch Burghard Schneider hätte das Banner lieber nicht aufgehängt. Er ist Geschäftsführer des in Herisau ansässigen Textilveredlers Cilander. Im Februar musste sich Schneider eingestehen: Das Unternehmen hat keine Zukunft mehr. An einer ausserordentlichen Generalversammlung wurde daher entschieden, die Produktion auf Ende Juli einzustellen. Seither ist Schneider mit der traurigsten aller Chefaufgaben beschäftigt: der Abwicklung eines Unternehmens.
Mit der Schliessung von Cilander endet ein Kapitel Schweizer Textilgeschichte. Das von zwei Herisauer Kaufleuten gegründete Unternehmen blickt auf 210 Jahre zurück. Seit 1814 veredelt es Textilien. Zuerst wurde gebleicht und gefärbt. In den Zwischenkriegsjahren kamen neue Verfahren dazu, dank denen Stoffe weniger knittern. Im Laufe der Zeit wurden die Eigenschaften immer komplexer: wasserabweisend, antistatisch, flammhemmend, antibakteriell. Selbst Vitamine können Stoffe, die von Cilander behandelt werden, an deren Träger abgeben.
Cilander ist das älteste Textilunternehmen in Appenzell Ausserrhoden und einer der letzten Textilveredler der Schweiz. Im 16 000 Einwohner zählenden Herisau ist die Firma aber mehr als nur ein Denkmal, mehr als eine Erinnerung an die Belle Époque, als Ostschweizer Textilien das wichtigste Exportprodukt des Landes waren, ehe mit dem Ersten Weltkrieg die Nachfrage nach Luxus einbrach und der Niedergang einsetzte. Cilander ist auch Teil der dörflichen Identität. Die Haltestelle der Buslinie 175 vor der Fabrik heisst Cilander, die Strasse davor ist die Cilanderstrasse.
«Es tut weh, ein mehr als 200-jähriges Unternehmen zu schliessen», sagt Schneider in der Kaffee-Ecke des Betriebs. «Erst langsam wird einem selbst, aber auch den Kunden die Tragweite bewusst.» Sollte der vor vier Jahren zu Cilander gestossene Deutsche die Tragweite einmal vergessen, erinnern ihn zahllose Schilder auf dem Firmenareal daran. Darauf steht: «Cilander Swiss Textile 1814». Das Branding mag angesichts eines Exportanteils von 80 Prozent längst englisch sein. Geblieben ist das Geburtsjahr, als impliziter Teil des Firmennamens – und als Verpflichtung, dem Erbe Sorge zu tragen.
Geblieben sind die Fabrikantenhäuser
Auf Schritt und Tritt wird man an der Cilanderstrasse an die Geschichte erinnert. Etwa am Brunnen neben dem Hauptgebäude. «Der Bleicher» heisst das 1920 von einem lokalen Bildhauer gefertigte Kunstwerk aus Sandstein. Es zeigt einen Arbeiter, wie er in gebückter Haltung schweres Gewebe knetet. Der Rücken schmerzt allein schon beim Anblick. Und man glaubt, die giftigen Chemikalien geradezu riechen zu können. Denn früher, so heisst es, habe die durchs Fabrikareal fliessende Glatt in fluoreszierendem Grün geleuchtet – verschmutzt durch die vielen toxischen Mittel, die bei der Textilveredelung eingesetzt wurden.
Entlang dieses Flusses reihten sich ab dem 18. Jahrhundert zahllose Kleinstbetriebe. Lebten 1579 gemäss dem «Historischen Lexikon der Schweiz» erst vier Garnhändler in Herisau, zählte man 1826 bereits 42 Kaufleute, 84 Fabrikanten, 9 Bleichereien, 12 Appreturen, 4 Sengereien, 2 Stoffdruckereien und 2 Färbereien. Heute würde man von einem Cluster sprechen. Damals sorgte die Branche für eine Magnetwirkung weit über die Region hinaus. Zwischen 1850 und 1920 stieg in Herisau der Anteil ausserkantonaler Einwohner von 12 auf 43 Prozent, jener der Ausländer von 2 auf 12 Prozent.
Von dieser Boomzeit ist im Dorf nur noch wenig spürbar. Geblieben sind ein paar herrschaftliche Fabrikantenhäuser, die bis heute das Ortsbild prägen. Und geblieben ist Cilander als industrieller Zeitzeuge. Dessen Belegschaft lag in den 1920er Jahren noch bei 1000 Mitarbeitern. Diesen Februar waren es 190. Rund 150 von ihnen arbeiteten in Herisau; der Rest verteilte sich hälftig auf die beiden Standorte im sankt-gallischen Flawil und im bernischen Lützelflüh. Monatlich werden es weniger. Ende April war die erste Entlassungswelle; 30 bis 35 Leute verliessen die Firma.
Weitere folgen. Und Ende September wird auch Schneider abtreten, als Kapitän des sinkenden Schiffs. Er habe sich seine eigene Kündigung ausgestellt, sagt er. Bis zum Lichterlöschen gibt es aber noch viel zu tun: Verträge kündigen, für einzelne Firmenteile neue Besitzer suchen, Immobilien abstossen und Aufträge mit Restmaterial abarbeiten. Die Ironie: Viele Maschinen laufen derzeit auf Hochtouren. Mancher Kunde stockt sein Lager auf mit Waren, die es schon bald nicht mehr gibt.
Kunden sind auch mit weniger zufrieden
Wieso kam es so weit? «Das bestehende Geschäft brach uns schneller weg, als wir unser neues Geschäft aufbauen konnten», sagt Schneider. Sein Ziel blieb unerreicht. Der promovierte Ingenieur wollte Cilander umbauen – vom Ausrüster, der nur Textilveredelung betrieb, zu einem Hersteller, der das komplette Textil liefert. So wollte man unabhängiger werden von einer Wertschöpfungskette, die Schneider als archaisch bezeichnet. «Es ergibt weder wirtschaftlich noch ökologisch Sinn, einen in Asien gewobenen Stoff in der Schweiz zu veredeln, in Osteuropa zum Hemd zu schneidern und in den USA zu verkaufen.»
Doch Cilander brachen 2023 gleich zwei Geschäftsbereiche weg. Erstens die Veredelung von Stoffen für hochpreisige Hemden, die nur auf Mass erhältlich sind. Die bisherigen Abnehmer bezogen ihre Stoffe plötzlich bei günstigeren Anbietern, verlangten von den Kunden aber trotz geringerer Qualität weiterhin dieselben Preise. Zweitens sank der Verkauf textiler Unterlagen für Schleifmittel, wie sie etwa in der Möbelindustrie verwendet werden. Die Folge: Der Umsatz schmolz um einen Drittel. Man rutschte ab in Stückzahlen, die industriell nicht mehr effizient herzustellen waren.
Ein Fall von Overengineering? Produzierte man viel höhere Qualitäten, als sie Kunden zu zahlen bereit waren? Schneider sagt: Ja, offenbar sei der Endkunde auch mit weniger zufrieden. Wobei die meisten Kunden gar nicht einschätzen könnten, was die stoffliche oder ökologische Qualität eines Hemdes ausmache. Etwa, ob ein Hemd, wie von Cilander garantiert, sechzig Mal gewaschen werden könne, ohne dass es an Form, Farbe und Festigkeit verliere. Der CEO sagt: «Alle finden Nachhaltigkeit und Qualität toll. Aber dafür zahlen wollen sie nicht.»
Insofern ist Cilander auch ein Opfer eigener Perfektion. Dazu kommt ein Eigentümer, der lange Zeit wie ein Kokon gegenüber dem Markt wirkte. Hauptaktionärin ist nämlich die Herisauer Steinegg-Stiftung. Zu deren Zweck gehört, über diverse Beteiligungen möglichst viele Arbeitsplätze in der Region zu sichern. Das ist löblich, stand einer Verlagerung von Stellen ins Ausland aber stets im Weg. Und vielleicht führte der Glaube, notfalls auf Geld der Stiftung zurückgreifen zu können, auch dazu, dass der Ernst der Lage erst erkannt wurde, als es zu spät war und die Hauptaktionärin nicht länger finanziell einspringen wollte.
«Wir sind alle im C-Team»
Die Folge: Cilander ist seit Februar eine Palliativstation, das nahende Ende vor Augen. Wie ist die Stimmung in einem solchen Betrieb? Gern hätte man dazu Mitarbeiter befragt. Doch die Firmenleitung winkt ab, nach Absprache mit der Belegschaft. Nicole Hatt, bei Cilander für das Online-Geschäft und das Marketing verantwortlich, sagt: «Einige sind zwar frustriert und wissen nicht, wie es für sie weitergeht. Aber die grosse Mehrheit, so mein Eindruck, will die Sache gut zu Ende bringen, auch für unsere Kunden.» Niemand sage, jetzt mache er nichts mehr. Vielmehr helfe man sich gegenseitig – und sei solidarisch in schwerer Zeit.
Schneider pflichtet bei. Er hat eine Erklärung, warum die Belegschaft erhobenen Hauptes abtreten will: «Es ist offensichtlich, dass uns allen gekündigt wird. Es gibt nicht eine A-Mannschaft und eine B-Mannschaft, wir sind alle im C-Team.» Und wenn alle verlieren, hat es für Missgunst wenig Platz. Ausserdem waren sich Firmenleitung und Personalkommission beim Ausarbeiten des Sozialplans schnell einig: Im Fokus stehen nicht Abfindungen, für die es ohnehin an Geld fehlt. Wichtiger ist die Suche nach Anschlusslösungen für die Entlassenen.
Wie macht man das? Ganz unkompliziert mit einer Stellenbörse, einer Art von Speed-Dating. Zwei solche Anlässe haben schon stattgefunden. Der Rahmen: ein Raum, rund zwanzig Firmen und für jeden Betrieb einen Tisch, wo die offenen Stellen auf Ausdrucken niedergeschrieben sind. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen von Tisch zu Tisch, stellen Fragen, und nicht selten führt der Kontakt schon zu Anstellungen. Die meisten Angestellten haben schon eine berufliche Anschlusslösung. Vor allem Mechaniker und Ingenieure seien begehrt. Aber auch Arbeiter, die noch wüssten, was Schichtarbeit heisse.
Traditionelle textile Fertigkeiten sind hingegen weniger gefragt. Peter Flückiger, Direktor des Branchenverbands Swiss Textiles, beobachtet: Auch in Nachbarländern wie Deutschland oder Österreich hätten reine Textilveredler zu kämpfen, vor allem jene, die den Bekleidungsmarkt beliefern würden, wo Konkurrenz und Preisdruck besonders gross seien. Einige wenige Schweizer Firmen, die sich in diesem Markt erfolgreich behaupten, gibt es dennoch, etwa die E. Schellenberg Textildruck in Fehraltorf oder die Schoeller Textil in Sevelen.
Strukturwandel hat sich beschleunigt
Was Flückiger auch sagt: Der Strukturwandel habe sich beschleunigt. Die Branche bewege sich immer schneller weg von der rein industriellen Fertigung hin zu einem Kompetenzzentrum für textile Lösungen. «Wer in der Schweiz produziert, kann nicht auf Masse setzen, sondern muss hochwertige Spezialitäten anbieten.» Beispiele seien Flugzeugsitze, Kabelummantelungen oder textile Implantate im Medizinbereich. Wer erfolgreich eine technische Nische besetze, könne weiterhin profitabel aus der Schweiz den Weltmarkt bedienen. In der Bekleidungsindustrie werde dies für europäische Anbieter aber immer schwieriger.
Das musste auch Cilander einsehen. Lange Zeit konnte die Firma ihre hohen Preise durchsetzen. Sie verwies auf Trümpfe wie eine biologische Kläranlage, die Erfüllung strengster Umweltkriterien, die Verwendung selbstproduzierter Sonnenenergie und eine Fertigung, bei der Stoffe bis zu dreissig Prozesse durchlaufen, bis sie die höchste Qualität erfüllen. Doch die beste Qualität nützt wenig, wenn niemand dafür zahlt. Bald wird daher auf dem Fabrikareal nicht mehr eine Textilfirma stehen, sondern ein Hersteller von Sicherheitstechnik. Der Verkauf der Gebäude ist bereits besiegelt.
Ein kleiner Trost bleibt. Am Donnerstag konnte der Cilander-Chef Schneider eine Käuferin für zwei Geschäftsbereiche präsentieren: die französische Chargeurs PCC Fashion Technologies. Das börsenkotierte Unternehmen erwirbt zum einen die Fabrik in Lützelflüh, wo Stoffe etwa für die Armee, den Sport und die Innenarchitektur veredelt werden. Zum andern wird das Geschäft für Hemdenstoffe, das rund einen Viertel des Umsatzes ausmacht, übernommen. Schneider freut sich, dass «die Diamanten von Cilander» weiterentwickelt werden. Funkeln werden sie aber nicht länger in der Ostschweiz. Die Maschinen werden abmontiert.