Vor 35 Jahren bedeutete Techno weit mehr als ein neues Musikgenre. Es war ein neues Lebensgefühl. Heute ist es Unesco-Kulturerbe der Schweiz.
Kurz zuvor waren in der Fust-Filiale noch Waschmaschinen verkauft worden, wahrscheinlich auch Haartrockner, Staubsauger und Reiskocher. Doch dann machte das Fachgeschäft zu, die Haushaltgeräte kamen weg, und ein paar junge Leute richteten in dem leeren Ladenlokal einen illegalen Klub ein.
Das war in Bern, im «Bluelight». Hier sollte bald etwas passieren, das auch die Stadt Zürich erheblich veränderte.
Im «Bluelight» spielten die Zürcher DJ Daniel Koenig und Oliver Stumm Techno der ersten Stunde – eine absolute Novität im Land. Das muss rasch auch ausserhalb der Stadtgrenzen zu reden gegeben haben. Junge Menschen kamen von überall her. Und irgendwann im Jahr 1989 weilte auch die junge Manon Maeder aus Burgdorf unter den Gästen des improvisierten Nachtklubs.
Maeder war 19 Jahre alt, hatte gerade eine Servicelehre und die Wirteprüfung hinter sich. Und sie war sofort begeistert von dem, was sie in jener Nacht erlebte. Es war ihr erster Kontakt mit elektronischer Musik und der Beginn einer Liebe, die bis heute hält. Mehr als dreissig Jahre später lächelt sie noch immer, wenn sie an das «Bluelight» zurückdenkt.
Von Stadt zu Stadt der Musik nachgereist
«Ich bin konfessionslos aufgewachsen», sagt Manon Maeder. «Ich wusste nicht, was es bedeutet, an etwas zu glauben.» Doch während dieser durchtanzten Nächte sei ihr langsam etwas aufgegangen.
Das Gemeinschaftsgefühl, die Liebe zur Musik und der Zusammenhalt in der Gruppe – das habe etwas mit ihr gemacht. Es seien Leute mit Rockerjacken zu den Partys gekommen, queere Menschen und solche im Anzug. «Es war egal, woher sie kamen.» Alle seien sie während der Raves Teil eines grösseren Ganzen geworden. «Techno wurde zu meiner Ersatzreligion», sagt Maeder.
Sie wollte mehr von diesem Gefühl. Bewarb sich bei den Machern des «Bluelight» und bekam eine Stelle in der Aare-Bar. Nach den Anlässen im alten Fust und illegalen Partys auf dem Gurten sei die Aare-Bar die erste legale Bar in Bern gewesen, die elektronische Tanzmusik gespielt habe.
In ihrer Freizeit reiste sie den Techno-Partys durch das ganze Land nach. Wochenende für Wochenende brachte sie in illegalen Klubs in Bern zu, in Lausanne, Neuenburg oder Zürich. Schnell kannte sie die ganze Szene. Die sei damals noch ziemlich überschaubar gewesen, sagt die heute 53 Jahre alte Maeder. In der Westschweiz habe sich die Musik noch eher am melodiöseren Chicago House orientiert, während die DJ in Zürich schon bald ganz auf den neuen Techno gesetzt hätten.
Zürich und Techno: eine Liebesgeschichte
Vielleicht passte diese harte neue Musik der späten achtziger Jahre deshalb so gut zu Zürich, weil hier die einst so stolze Industrie Dutzende von leeren Hallen hinterlassen hatte, die es mit Leben zu füllen galt – genau wie in Detroit, der Heimatstadt von Techno. Da dürfte dieser stampfende, entmenschlichte Sound gerade recht gekommen sein. Er gemahnte an das metallische Hämmern vergangener Zeiten.
Vielleicht passte Techno aber auch darum so gut nach Zürich, weil dort selbst nach den Jugendunruhen von 1980 wenig los war und man wohl alles begrüsste, was Spass und Abwechslung versprach.
Im Nachhinein lässt sich über das Warum nur noch spekulieren. Fakt ist: Techno stiess in Zürich sofort auf Gegenliebe.
Diese mittlerweile 35-jährige Geschichte zeigt die Ausstellung «Techno Worlds», die derzeit in der Photobastei am Zürcher Sihlquai zu sehen ist und aus zwei Teilen besteht. Im einen geht es um Techno als globales Phänomen. Im anderen spezifisch um Zürich.
«Den Lichtschalter umgelegt»
Romano Zerbini verantwortet den Zürcher Teil der Ausstellung als Kurator. Er war als Beobachter der Szene ab Mitte der neunziger Jahre mit dabei. Zerbini sagt: «Es war damals, als hätte jemand den Lichtschalter umgelegt.» Auf einmal sei mit den Leuten etwas passiert. Techno habe in der Stadt eine ungeheure Energie freigesetzt – wenn auch vorerst nur im Untergrund.
In den Achtzigern und frühen Neunzigern galt noch die Sperrstunde. Ausnahmegenehmigungen für Nachtlokale waren schwierig zu bekommen, und ohne Wirtepatent lief gar nichts. Illegale Bars und Klubs florierten, ähnlich wie das «Bluelight» in Bern. Sie hielten sich für ein paar Wochenenden und gingen dann wieder zu. In der Regel, bevor die Behörden davon erfuhren.
«Die Szene war der Polizei oft einen Schritt voraus, weil sie von Ort zu Ort zog», sagt Zerbini. Das sei ein Vorteil gewesen, denn nur so konnten die kurzlebigen Klubs zu Orten werden, wo junge Menschen unter sich sein und tun oder lassen konnten, was sie wollten. Sie experimentierten mit Drogen, zeigten ihre Körper und spielten mit körperlichen Reizen. All das gehörte im Kern zu dieser neuen Musik dazu.
Die Technoszene habe das Prinzip der Pop-ups vorweggenommen. «Am Anfang war viel Do-it-yourself. Die Dinge mussten gefunden, hingekarrt und aufgebaut werden. Kein Ort war wie der andere, auch wenn es nur wenig dazu braucht, aus einer Halle einen Dancefloor zu machen», sagt Zerbini.
Die schnellen Wechsel und der Nimbus des Verbotenen hätten auf die jungen Menschen in der sonst recht braven Stadt eine enorme Anziehungskraft ausgeübt.
Innert drei Jahren wurde Techno zum Massenphänomen
Später sollte es auch Manon Maeder in den pulsierenden Untergrund von Zürich ziehen. Vorderhand lebte sie aber wieder bei ihren Eltern in Burgdorf. Ihr Vater war Architekt, ihre Mutter führte ein Restaurant – mit einer Bar im Keller. Manon Maeder funktionierte die Bar 1992 zum mutmasslich ersten Techno-Lokal des Emmentals um.
Ihre Freunde hätten ihr einen Plattenkoffer geschenkt und sie motiviert, Musik aufzulegen, sagt Maeder. Und das habe sie dann getan. So wurde Manon Maeder zu DJ Manon.
In dieser Zeit lernte sie den DJ Mas Ricardo kennen, den Vater ihrer zukünftiger Kinder Tara und Janik. 1993 zog sie nach Zürich um, wo die elektronische Musik auf bestem Weg war, zum Massenphänomen zu werden.
Ein Jahr vorher hatte die erste Street Parade stattgefunden, was sich für den Zürcher Techno als Wendepunkt herausstellen sollte. 1000 Personen waren 1992 auf die Strasse gegangen, um zur Musik von zwei Love Mobiles zu tanzen. Nur drei Jahre später war die Parade ein Grossanlass mit über 100 000 Raverinnen und Ravern.
«Wir gingen nie nach Hause. Die Partys dauerten ewig»
Manon Maeder war zuvorderst mit dabei, als Techno in Zürich Mainstream wurde. Sie spielte als DJ im «Kaufleuten», in der «Dachkantine», im «Sensor», im «Grodoonia» und im legendären «Oxa». Nach und nach wurde sie zur zentralen Figur im hiesigen Party-Geschehen.
Das «Sensor» und das «Grodoonia» liefen sogar auf Maeders Wirtepatent. Neben alledem arbeitete sie tagsüber in einem Plattenladen und im «2. Akt» an der Selnaustrasse, einem der wenigen Lokale von damals, die heute noch bestehen.
Für Maeder waren das die goldenen Jahre der elektronischen Musik. «Es war pure Liebe», sagt sie über die frühen und mittleren neunziger Jahre. «Wir waren Freunde und hatten Spass, die Nächte gehörten uns. Wir gingen nie nach Hause, unsere Partys dauerten unendlich lang.»
Wenn in einem Klub Schluss war, sei man woanders hin zu einer After-Hour gefahren. Und manchmal sei man sogar noch einmal ins Auto gestiegen, um das Wochenende bei einer After-After-Hour ausklingen zu lassen.
Präsente Geschichte und Mainstream
Techno bedeutete den Zürcherinnen und Zürchern also weitaus mehr als nur ein weiteres Genre in den Gestellen der Plattenläden. Techno brachte mehr Lebensfreude und Ausgelassenheit an die Limmat – natürlich auch mehr Sex und viel mehr Drogen.
Bis heute ist die Musik ein Anziehungspunkt und trägt zur Wertschöpfung in der Stadt Zürich bei. 2016 machten die Bars und Klubs in der Stadt Zürich gemäss der Bar- und Klubkommission einen Umsatz von rund 200 Millionen Franken. Zudem steht die Zürcher Technokultur seit 2017 auf der Liste des Unesco-Kulturerbes der Schweiz. Ihr Wert für das hiesige Kulturerbe wird damit offiziell anerkannt.
Für Romano Zerbini ist das eine durchweg positive Bilanz. Er sagt: «Techno hat die erstaunliche Fähigkeit, den Zeitgeist in sich aufzunehmen und in eine Form zu bringen, mit der sich junge Menschen identifizieren können.» Seine Ausstellung in der Photobastei solle denn auch keine blosse Verherrlichung der Vergangenheit sein. Vielmehr wolle sie zeigen, wie produktiv Techno als Jugendkultur seit den Anfängen war und bis heute ist.
Für DJ Manon, die nun seit über dreissig Jahren zur Szene gehört, ist Techno unterdessen zu sehr zum Geschäft geworden, zu einer Form von Unterhaltung unter vielen. Sie vermisse den familiären Charakter auf den Partys, den es früher gegeben habe. DJ Manon beobachte, dass die Smartphones die Atmosphäre auf der Tanzfläche zum Negativen verändert hätten: «Die Stimmung ist nicht mehr so authentisch.»
Doch solche Gedanken mache sie sich nur, wenn sie weit weg sei von der Tanzfläche, sagt Manon Maeder. Sobald sie hingegen hinter dem DJ-Pult stehe, sei alles wieder da. Die Freude von früher. Die Liebe.
«The Pulse of Techno». Noch bis am 31. 3. 2024 in der Photobastei am Sihlquai 125 in Zürich.