Anthony Patt, Professor für Klimaschutz, zeigt sich besorgt über Europas ehrgeizige Pläne für eine Wasserstoffwirtschaft. Die Schweiz müsse vorsichtig sein – wegen Lecks.
Wasserstoff (H2) gilt als Heilsbringer beim Klimaschutz: Er ist leicht, lässt sich speichern und kann aufgrund der hohen Energiedichte auch als Brenn- oder Treibstoff genutzt werden. Nicht zuletzt ist Wasserstoff sauber, wenn er mit erneuerbarer Energie hergestellt wird.
Die EU hält Wasserstoff deshalb in Ergänzung zu den erneuerbaren Energien für den wichtigsten Energieträger überhaupt und möchte möglichst zeitnah Transportleitungen, Produktionsanlagen und Speicher bereitstellen. «Grüner» Wasserstoff soll fortan ebenso in der Schwerindustrie, etwa bei der Produktion von Stahl, eingesetzt werden wie im Verkehr, bei Flugzeugen und grossen Schiffen. Schliesslich sollen mit Wasserstoff, der mit überschüssigem Sonnenstrom im Sommer hergestellt wird, auch Stromengpässe im Winter überbrückt werden.
Zurückhaltender als die EU agiert einstweilen der Bundesrat: Zwar spielt H2 auch in den Energieperspektiven des Bundes eine gewisse Rolle. So soll das Gas etwa 10 Prozent des gesamten Energieverbrauchs ausmachen. Doch hat die Regierung noch keine Strategie verabschiedet, die dem Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft Leitplanken setzt. Auch will sie Wasserstoff nur dort einsetzen, wo nicht direkt elektrifiziert werden kann.
Der Bundesrat ist vorsichtig
Wegen seiner Zögerlichkeit ist der Bundesrat verschiedentlich kritisiert worden. So warfen ihm etwa die kantonalen Energiedirektoren vergangenen Sommer Untätigkeit vor. Beim Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur dürfe «nicht noch mehr wertvolle Zeit» verlorengehen, monierten sie in einem Schreiben.
Nun erhält die Landesregierung für ihr gemächliches Vorgehen jedoch Unterstützung von unerwarteter Seite. Er hoffe, dass der Bundesrat seine Position beibehalte und dem Druck der Wasserstofflobby standhalte, schreibt Anthony Patt, Professor für Klimaschutz und -anpassung an der ETH Zürich, in einem Beitrag. «Wir alle sollten vorsichtig mit Wasserstoff umgehen und ihn nur dort einsetzen, wo es keine besseren Alternativen gibt.»
Patt weist auf die bereits bekannten Probleme hin, die bei der Produktion des flüchtigen Gases entstehen. So ist die Herstellung von «grünem» Wasserstoff – die Spaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff mittels erneuerbarer Energie – sehr ineffizient: Mehr als die Hälfte der aufgewendeten Energie geht verloren.
Zusätzlich stellt sich laut Patt ein Problem, das bisher nur wenig Beachtung fand: die Gefahr von Lecks bei der Speicherung oder dem Transport des Gases. Bisher wurde der unbeabsichtigte Austritt von Wasserstoff bloss als wirtschaftlicher Verlust betrachtet, doch steht laut dem ETH-Professor weit mehr auf dem Spiel. So verlängert aus Lecks ausgetretener Wasserstoff die Lebensdauer des klimaschädlichen Gases Methan in der Atmosphäre.
Die Klimawirkung der Wasserstoffnutzung hat gravierende Konsequenzen: Treten mehr als 3 Prozent des Wasserstoffs unbeabsichtigt aus, kann dies die Atmosphäre in den nächsten zwanzig Jahren stärker erwärmen als die fossilen Brennstoffe, die durch Wasserstoff ersetzt werden. Dies unter der Annahme, dass 30 Prozent des genutzten Wasserstoffs blau sind, also aus Erdgas hergestellt werden, wobei das CO2 aufgefangen und dauerhaft gespeichert wird. Gegenwärtig wird Wasserstoff fast ausschliesslich aus Erdgas hergestellt.
Ob tatsächlich so viel Gas unbeabsichtigt entweicht, ist noch wenig erforscht. Der Klimawissenschafter geht davon aus, dass Wasserstoffinfrastruktur mehr Lecks aufweist als jene für Erdgas, bei dem gemäss Schätzungen etwa 3 Prozent verlorengehen. Die bisher umfassendste Studie beziffert die Wasserstoffverluste auf 2,9 bis 5,6 Prozent.
Dass Wasserstoff trotz den diversen Risiken in Europa bald in grossem Stil eingesetzt werden soll, ist laut Patt darauf zurückzuführen, dass mächtige Lobbygruppen politisch darauf drängen. Gemeint ist damit die fossile Energiewirtschaft; Produktion, Vertrieb und Verkauf von flüssigen und gasförmigen Energieträgern zählen zu ihrer Kernkompetenz. «Viele Menschen sind, wie ich, äusserst besorgt über die Konsequenzen der ehrgeizigen Wasserstoffpläne überall in Europa, sowohl für die Verbraucher als auch fürs Klima», sagt der Klimaschutzexperte warnend.
Empa-Wissenschafter widerspricht
Nicht alle Wissenschafter sehen den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft allerdings so negativ. «Für den Transport wird Wasserstoff fast immer in flüssige Derivate wie Methanol umgewandelt. Geschieht dies sorgfältig, werden Lecks auf ein Minimum reduziert», sagt Matthias Sulzer, leitender Wissenschafter im Urban Energy Systems Lab der Empa. Dass bei unsorgfältiger Anwendung einer Technologie Probleme auftreten könnten, sei nicht aussergewöhnlich. So biete zum Beispiel auch der Abbau von Silizium grosse Umweltrisiken, wenn er nicht sachgemäss erfolge. Deshalb auf diesen Rohstoff zu verzichten, wäre laut Sulzer jedoch falsch.
Er kritisiert, dass Patt eine extreme Leckrate annehme und diese linear auf die nächsten zwanzig Jahre hochrechne. Die Technologie werde sich jedoch weiterentwickeln. Grundsätzlich sei es von Vorteil, dass bei der Entfernung der beiden Energieträger Erdöl und Erdgas mit dem Wasserstoff ein neuer Energieträger ins System gebracht werde. Diese Diversifikation erhöhe die Versorgungssicherheit.
Wie stark die Schweiz in Zukunft auf den umstrittenen Energieträger setzen will, entscheidet sich in der zweiten Hälfte des laufenden Jahres. Dann wird der Bundesrat voraussichtlich seine Wasserstoffstrategie verabschieden.