Ob den neuen Abkommen neben dem Volk auch die Mehrheit der Kantone zustimmen muss, ist umstritten – auch im Bundesrat. Die zentrale Rolle spielt der Aussenminister.
Lohnschutz, Zuwanderung, Rechtsübernahme: Es gibt viele umstrittene Themen in den neuen und angepassten Abkommen, welche die Schweiz und die EU ausgehandelt haben. Neben den konkreten Streitpunkten stellt sich auf Schweizer Seite aber auch eine abstrakte Frage, die für das Schicksal des Pakets noch wichtiger sein könnte: Welcher Art von Referendum untersteht die Vorlage? Beim fakultativen Referendum genügt es, wenn sich die Mehrheit des Volks für die Verträge ausspricht. Beim obligatorischen hingegen gilt das doppelte Mehr, dann muss auch die Mehrheit der Kantone zustimmen (Ständemehr).
Wird das doppelte Mehr verlangt, ist die Hürde deutlich höher. Das Ständemehr gibt den kleinen, ländlichen Kantonen überproportional grosses Gewicht – und diese ticken gerade in aussenpolitischen Fragen konservativer. Nimmt man frühere Europa-Abstimmungen als Basis, benötigen die neuen Verträge ein Volksmehr von 55 Prozent oder mehr, um das Ständemehr zu erreichen. Der EWR-Beitritt 1992 etwa wäre rein rechnerisch sogar dann am Ständemehr gescheitert, wenn 60 Prozent zugestimmt hätten.
Es erstaunt denn auch nicht, dass die Gegner des Pakets unbedingt eine Abstimmung mit Ständemehr erwirken wollen, während viele Befürworter finden, das Volksmehr sei ausreichend. Den ersten Entscheid in dieser Sache fällt der Bundesrat. Der Ausgang ist offen. Hinter den Kulissen scheint die Nervosität bereits relativ gross zu sein. Man hört, dass beide Seiten versuchten, mit schriftlichen und persönlichen Interventionen auf einzelne Bundesräte einzuwirken.
Zwei Varianten für Vernehmlassung
Gemäss Informationen der NZZ ist aber weiterhin geplant, dass der Bundesrat sich erst im Juni zur Frage des Referendums äussern wird, wenn er das gesamte Vertragspaket in die Vernehmlassung schickt. Alles andere wäre auch eher seltsam, weil die Abkommenstexte, die für die Frage des Referendums entscheidend sind, ebenfalls erst dann veröffentlicht werden.
Noch etwas zeichnet sich ab: Wer im Juni eine klare Positionierung erwartet, dürfte enttäuscht werden. Zwar hat der Bundesrat im Dezember angekündigt, er werde beim Start der Vernehmlassung einen «definitiven Entscheid» zur Art des Referendums fällen. Aber gemäss mehreren gut informierten Quellen ist nun eher zu erwarten, dass er die Frage weiterhin offenlässt. Das würde bedeuten, dass der Bundesrat in der Vernehmlassung beide Optionen zur Diskussion stellt, die Argumente für diese und jene Variante ausführt – dann aber abwartet, wie das Echo von Kantonen, Parteien und Verbänden ausfällt.
Das wäre – zumindest vorläufig – eine Niederlage für den offensiven Flügel der Befürworter. Dieser wird innerhalb des Bundesrats primär durch den Justizminister Beat Jans verkörpert. Für den Sozialdemokraten steht fest, dass aus rechtlicher Sicht einzig das fakultative Referendum mit einfachem Volksmehr infrage kommt.
Verteidigungsminister Martin Pfister (Mitte) hat sich vor seiner Wahl in den Bundesrat ähnlich geäussert. «Wenn die Juristen zum Schluss kommen, dass es nicht nötig ist, sollen die Regeln nicht während des Spiels angepasst werden», sagte er den Zeitungen von CH Media. Pfister verwies damit auf das Bundesamt für Justiz, das vergangenes Jahr unerwartet klar zu diesem Schluss gekommen war. Allerdings ist diese Analyse nicht zuletzt innerhalb des Bundesrats umstritten.
Wie entscheidet Keller-Sutter?
Das Gremium ist offenkundig gespalten. Zusammen mit Jans und Pfister dürften auch Ignazio Cassis (FDP) und Elisabeth Baume-Schneider (SP) mehr oder weniger klar der Ansicht sein, dass die neuen Verträge lediglich dem fakultativen Referendum unterstehen. Anders sehen dies die beiden SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti.
Weniger klar ist der Fall bei Karin Keller-Sutter: Die Freisinnige – ihres Zeichens frühere Justizministerin – stört sich dem Vernehmen nach an der weitreichenden Auslegung des Bundesamts für Justiz, die ganz generell die Möglichkeit einschränken würde, Staatsverträge einem Referendum mit Ständemehr zu unterstellen. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sich Keller-Sutter im konkreten Fall tatsächlich für eine Abstimmung mit Ständemehr aussprechen wird. Dennoch scheint im Bundesrat eine Konstellation 4:3 gut denkbar.
Genau das will Ignazio Cassis verhindern. Er, der als Aussenminister für das ganze Paket verantwortlich ist, hat es in der Hand, wie sich der Bundesrat in der Frage des Referendums positioniert. Der Freisinnige verfolgt in diesem ebenso wichtigen wie explosiven Dossier von Anfang an einen vorsichtigen Kurs, den die einen als ängstlich bezeichnen, die anderen als klug. Aus verschiedenen Lagern ist zu hören, Cassis sei bemüht, stets nur kleine Schritte zu machen und möglichst das ganze Gremium mitzunehmen. Das spricht dafür, dass er auch in der Frage des Referendums nicht vorschnell einen knappen Entscheid erzwingen will.
Befürworter hoffen auf Kantone
In diesem Fall würde sich der Bundesrat erst nach der Vernehmlassung festlegen, wenn er das EU-Paket an das Parlament überweist. Die Hoffnungen der Befürworter ruhen in diesem Szenario auf den Parteien, wobei vor allem die FDP und die Mitte wichtig sind – vor allem aber auf den Kantonen: Wenn sie, die Hüter des Föderalismus, in ihrer klaren Mehrheit zu dem Schluss kommen, die neuen Abkommen mit der EU unterstünden nur dem fakultativen Referendum ohne Ständemehr, dürfte es dem Parlament schwerfallen, anders zu entscheiden.
Fest steht, dass die Kantone eine gemeinsame Stellungnahme zuhanden des Bundesrats einreichen werden. Das hat die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) an ihrer Plenarversammlung im März beschlossen, wie ihr Generalsekretär Roland Mayer auf Anfrage sagt. Kantonsregierungen, die es wünschten, seien jedoch frei, zusätzlich separate Stellungnahmen einzureichen. Die KdK werde sich auf die wichtigsten politischen Punkte beschränken, darunter auch die Frage des Ständemehrs. Damit die KdK offiziell im Namen der Kantone sprechen darf, müssen ihrer Stellungnahme mindestens 18 Kantone zustimmen.
Ihre Haltung wollen die Kantone an einer ausserordentlichen Plenarversammlung im Herbst festlegen. Sie versuchen darauf hinzuwirken, dass der Bundesrat die Frist für die Vernehmlassung bis Ende Oktober ausdehnt. Der Generalsekretär Mayer ist persönlich «dezidiert» der Ansicht, dass es kein Ständemehr brauche. Es sei rechtlich fragwürdig, die Verträge dem doppelten Mehr zu unterstellen, sagt er. Schon bei den Verträgen der Bilateralen II zu Schengen und Dublin sei dieses nicht zur Anwendung gekommen, obwohl sie ebenfalls eine dynamische Rechtsübernahme umfassen. Zudem beinhalten diese eine Art Guillotine-Klausel, die unter gewissen Bedingungen automatisch zur Kündigung führe, falls die Schweiz eine Rechtsübernahme ablehne.
Referendum ausserhalb der Verfassung
Rechtlich ist zumindest etwas klar: Kaum jemand behauptet, die neuen EU-Verträge unterstünden dem «normalen» obligatorischen Referendum. Dieses kommt nur beim Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften wie der EU oder Organisationen kollektiver Sicherheit wie der Nato zum Zug. Daneben gibt es aber die Tradition eines ausserordentlichen «Referendums sui generis», das nicht in der Verfassung festgeschrieben ist: Folglich kann das Parlament freiwillig von sich aus Staatsverträge einem obligatorischen Referendum mit doppeltem Mehr unterstellen, wenn ihnen «Verfassungscharakter» zukommt.
Seit 1920 hat das Parlament dreimal davon Gebrauch gemacht, letztmals beim EWR 1992. Heute ist unter Juristen umstritten, ob es ein solches «Referendum sui generis» nach freiem Gutdünken des Parlaments wirklich gibt, und – falls ja – ob es im konkreten Fall zur Anwendung kommen soll.
Am Ende wird das Parlament abschliessend entscheiden, welches Referendum nun gilt. Mit der Volksabstimmung, mit oder ohne Ständemehr, ist frühestens 2028 zu rechnen.