Jede Zeit ringt aufs Neue darum, wo die Grenze zwischen Dulden und Anerkennen verläuft. Der Philosoph Heinrich Schmidinger folgt den Spuren einer grossen Idee.
Es gehört zu den Grundnormen der westlichen Gesellschaften, dass man gegenüber Andersdenkenden und Andershandelnden «tolerant» sein müsse. Dies bedeutet natürlich keineswegs, die Menschen lebten immer – oder auch nur meistens – gemäss dieser Maxime. Es zählt gerade zu den Hauptmerkmalen solcher Normen, dass sie nicht oder nur bruchstückweise umgesetzt werden. Denn wenn sie problemlos eingehalten würden, brauchte es sie nicht.
Aber wie ist es in Europa überhaupt zur Idee der Toleranz gekommen? In seinem Buch «Toleranz – auch eine Geschichte Europas» ist der österreichische Philosoph Heinrich Schmidinger dieser Frage nachgegangen. Dabei zeigt er, dass der Toleranzgedanke als gesellschaftliche Grundnorm keineswegs neu ist. Er wurde auch nicht erst, wie dies immer wieder behauptet wird, im Zeitalter der Aufklärung geboren: Griechische, jüdische, christliche und muslimische Denker haben schon im Altertum zu seiner Herausbildung beigetragen.
Allerdings war dieses Ideal schon immer ein zartes Pflänzchen – und die Realität war seit je von Intoleranz geprägt. Das stellt man auch dort fest, wo Wohlwollen gegenüber dem Anderen eigentlich selbstverständlich sein müsste, nämlich im Christentum. Dieses hatte zwar mit der aus dem Judentum übernommenen Idee, dass die Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen und vor Gott «gleich» seien, eine wichtige theoretische Grundlage gelegt. Aber bis zu deren Umsetzung war es ein weiter Weg.
Schon gegenüber den Mitchristen tolerant zu sein, fiel den meisten schwer. Erst recht in der Auseinandersetzung mit ihren «älteren Brüdern», den Juden, zeigten die Christen wenig Duldsamkeit. Die besten befanden zwar, man dürfe die Juden nicht totschlagen; sie hätten von selbst den Weg zum wahren – das heisst: christlichen – Gott zu finden. Aber von der Vorstellung, dass Andersgläubige nicht zwingend auch Falschgläubige sein müssten, waren die meisten weit entfernt.
Nicht zwingen – überzeugen
Und doch gab es in der Antike wie auch im Mittelalter immer wieder Stimmen, welche der gewalttätigen und intoleranten Wirklichkeit das Ideal einer friedlichen und toleranten Koexistenz der Menschen entgegenhielten. So schrieb etwa der Kirchenlehrer Tertullian (160–240): «Es ist ein Menschenrecht und ein Naturrecht, dass jeder anbeten kann, was er will.» Und Athanasius der Grosse: «Es ist einer Religion nicht eigen, zu zwingen, sondern zu überzeugen.»
Wie Schmidinger zeigt, entwickelten im Mittelalter nicht zuletzt der Katalane Ramon Llull sowie der französische Theologe Peter Abaelard diesen Gedanken weiter. Leider ist Abaelard inzwischen fast nur noch für seinen Briefwechsel mit seiner Freundin Héloïse in Erinnerung geblieben – und auch deshalb, weil er von deren Onkel entmannt wurde.
Freilich waren es vor allem die Humanisten der Renaissance- und Reformationszeit, die angesichts schrecklicher Religionskriege einen gesellschaftlichen Gegenentwurf versuchten. Nach der Französischen Revolution hatte der Toleranzdiskurs jedoch seine Hochkonjunktur hinter sich.
Zu Recht wurde jetzt auf liberaler und progressiver Seite argumentiert, dass Toleranz im Sinn von blossem Dulden nur der Anfang eines Prozesses sein dürfe, an dessen Ende die veritable Anerkennung des Andersdenkenden und die Freiheitsrechte stehen müssten. Im «rechten» Lager wurde – etwa bei Friedrich Nietzsche – Toleranz als feiges Akzeptieren abgewertet.
Grenzen des Duldens
All diese Auseinandersetzungen werden von Schmidinger differenziert nachgezeichnet, wobei neben den philosophischen und politischen Autoren auch die Literatur einen prominenten Platz einnimmt. Für ihre Offenheit bekannte Autoren wie Lessing und Goethe, aber auch der mittelalterliche Ependichter Wolfram von Eschenbach oder Thomas Mann kommen zur Sprache.
Schmidingers Plädoyer für die Toleranz stimmt freudig, jedoch auch ein bisschen nostalgisch. Denn es kann ein Stück weit als Schwanengesang einer auf Ausgleich und Diversität eingeschworenen Nachkriegsgeneration gelesen werden. Heute weht diesem Trend ein eisiger Gegenwind entgegen. Nicht umsonst ist in der Politik inzwischen fast mehr von «Nulltoleranz» als von Toleranz die Rede.
Und natürlich hat das Prinzip der Toleranz seine Grenzen, wie Schmidinger im Schlussteil seines Buchs unmissverständlich, wenn auch eher summarisch, feststellt. Zuvor: Toleranz bedeutet nicht, alles zu akzeptieren («anything goes»). Insbesondere dürfen Taten, die die demokratische Rechtsordnung verletzen, nicht toleriert werden. Dabei stellt sich die Frage, ob Toleranz nicht einen gesellschaftlichen Grundkonsens voraussetze, der heute immer weniger vorhanden sei.
Fraglich ist auch, ob Toleranz gegenüber Intoleranz zulässig sei. Natürlich ist die Versuchung gross, diese Frage mit einem raschen Nein zu beantworten (wobei man dergestalt seine eigenen Toleranz-Prinzipien verrät – ein klassisches Dilemma). Vor allem aber stellt sich dann die Anschlussfrage, wer denn definiere dürfe, wer tolerant sei und wer nicht. Intolerant sind ja meistens die Anderen.
Richtig oder falsch
Doch wenn man an eine mit absoluter Sicherheit feststellbare Wahrheit glaubt, fällt Toleranz schwer. Tolerant kann nur sein, wer von einem dialektischen, evolutionären, liberalen, man könnte auch sagen: vielstimmigen Wahrheitsbegriff ausgeht. Schmidinger verweist darauf, dass etwa in den «Dekolonisierungsdiskursen» Toleranz gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden oft auf sehr intolerante Art gefordert werde.
Wie aus dem Titel des Buches hervorgeht, sieht der Autor in der Herausbildung der Toleranzidee auch eine europäische Geschichte – natürlich nicht in dem Sinn, dass Europa ein Monopol auf dieses Ideal geltend machen könne: Aber ohne die Idee der Toleranz lässt sich die Geschichte Europas nicht denken.
Hier freilich muss Schmidinger mit prominentem Widerspruch rechnen. Der Philosoph Peter Sloterdijk etwa hat neulich in der NZZ auf die Frage, oder er den Satz «Europas Seele ist die Toleranz» für zeitgemäss oder veraltet halte, geantwortet: «Nicht nur veraltet, falsch von A bis Z.» Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn er dem krassen Statement nicht eine eloquente Argumentation nachgeliefert hätte. Auch diese Debatte erfordert ein geduldiges Anhören der gegnerischen Position. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Ohne Toleranz geht es einfach nicht.
Heinrich Schmidinger: Toleranz – auch eine Geschichte Europas. Schwabe-Verlag Basel 2024. 298 S., Fr. 32.–.