Eine Analyse in sieben Grafiken.
32 Staats- und Regierungschefs treffen sich dieser Tage in der Sommerhitze Washingtons zum Nato-Gipfel. Dabei wird noch einmal das 75-jährige Bestehen des transatlantischen Bündnisses gefeiert. Rege dürfte dabei der Gründungsgedanke der Absicherung gegen die Sowjetunion in Erinnerung gerufen werden. Denn der alte Rivale ist in neuer Gestalt zurück und hat vor allem Europa gewaltsam dazu gezwungen, wieder mehr als nur schöne Worte in das Sicherheitsbündnis zu investieren.
Erstmals seit über zwei Jahrzehnten sollen sich die Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Staaten in diesem Jahr auf rund 350 Milliarden Euro belaufen, was zwei Prozent des gemeinsamen Bruttoinlandprodukts (BIP) entspricht. Summiert man die angekündigten Mehrausgaben der verschiedenen Staaten für ihre Streitkräfte auf, könnte sich dieser Betrag bis 2028 gar verdoppeln.
Wenn Europa eigene Ziele erreicht, ist das ein Fortschritt
Der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg feiert das als echten Fortschritt. Für die Nato ist es keine Selbstverständlichkeit, wenn ihre europäischen Mitgliedstaaten das vom Bündnis vorgegebene Ziel von zwei Prozent des BIP erreichen. Letztmals war das 1995 der Fall. Seither hat Europa das selbst gesetzte Ziel stets unterschritten. Vor Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine belief sich die Lücke zwischen den tatsächlichen Ausgaben und dem Zwei-Prozent-Ziel kumuliert auf etwa 1,1 Billionen Euro.
Noch auffälliger ist die Entwicklung der Verteidigungsausgaben im Vergleich zur Zeit des Kalten Krieges. Damals gaben die europäischen Nato-Staaten durchschnittlich etwa 3,7 Prozent ihres BIP für Verteidigung aus.
Die Nato hielt mit Russland vor dem Krieg mehr als nur mit
Dennoch haben Europas Nato-Staaten nach dem Kalten Krieg in absoluten Zahlen noch immer mehr für Verteidigung ausgegeben als Russland oder China. Laut Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri hat China von 1992 bis 2022 etwa 3 Billionen Euro für seine Streitkräfte ausgegeben. Russlands Verteidigungsausgaben summierten sich vor der Invasion in die Ukraine auf rund 1,2 Billionen.
Die Verteidigungshaushalte beider Länder sind jedoch äusserst intransparent, und in militärische Zwecke fliessen auch Ausgaben, die anderswo verbucht sind. Daher schätzen einige Experten, dass die tatsächlichen Verteidigungsbudgets schon vor dem Ukraine-Krieg um bis zu ein Drittel höher waren als offiziell angegeben.
Zudem variiert die Kaufkraft zwischen den Ländern erheblich. In China und Russland bekommt man mehr militärische Güter für dasselbe Geld, und die Ausgaben für Löhne und Betriebskosten sind niedriger.
Vor allem Russland hat in den letzten drei Jahrzehnten absolut gesehen aber noch immer weniger für Verteidigungszwecke ausgegeben als die 6,9 Billionen Euro, die die europäischen Nato-Staaten aufgewendet haben. Dabei sind Ausgaben der verbündeten USA noch nicht einmal eingerechnet.
Dennoch gilt Europa im Kriegsfall nur als bedingt verteidigungsbereit und hat Schwierigkeiten, der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland ausreichend Munition und Waffen zu liefern. Europäische Lagerbestände sind aufgebraucht oder nicht vorhanden, die Waffenarsenale teilweise veraltet, und bei modernen Aufklärungs- und Abwehrsystemen bestehen Fähigkeitslücken.
Europas Rüstungsprobleme entstehen dabei nicht durch den Mangel an Geldern, sondern durch die ineffiziente Nutzung der verfügbaren Gelder, wie eine genaue Analyse der europäischen Militärausgaben zeigt.
Das meiste Geld fliesst nicht in die Aufrüstung der Armeen
Von den mehreren hundert Milliarden, die Europas Nato-Staaten jährlich für ihre Verteidigungshaushalte einplanen, fliesst nur ein Bruchteil in den Kauf neuer Waffen, die Ausrüstung der Truppen oder in die Entwicklung von neuen Technologien.
Die meisten Mittel fliessen stattdessen in Personal- und Sozialversicherungsausgaben – dies trotz erheblich verkleinerten Truppenbeständen. Ein weiterer Teil wird für die Instandhaltung von Infrastruktur sowie für laufende Einsätze und die Wartung bestehenden Geräts verwendet. Die Erhaltung des Status quo verschlang in den letzten Jahren im Schnitt mindestens drei Viertel der für die Verteidigung vorgesehenen Mittel.
Alle einsam und niemand gemeinsam
Hinzu kommt, dass sich die Summen, die in die Auf- und Ausrüstung der Streitkräfte investiert werden, verzetteln. Zwar sind 30 europäische Staaten Teil der Nato und ein Grossteil davon auch Mitglieder der Europäischen Union. In der Verteidigungspolitik dominieren aber nicht gemeinschaftliche, sondern nationale Prioritäten.
Die Länder bestehen darauf, die Kontrolle über Verteidigungsfragen zu behalten. Der Kontinent leistet sich so über 30 verschiedene Verteidigungsbudgets, 30 verschiedene Beschaffungswesen und 30 verschiedene Rüstungsindustrien. Diese sind eng auf nationale Bedürfnisse ausgerichtet und haben geringere Produktionskapazitäten als amerikanische, chinesische oder auch russische Waffenhersteller.
Entsprechend fragmentiert ist die europäische Rüstungslandschaft. Laut dem Branchenverband ASD sind in dem Sektor neben den dreissig grössten Rüstungsfirmen etwa 2500 kleinere und mittlere Unternehmen tätig. Dabei haben selbst die zehn grössten Rüstungsfirmen Europas weniger als fünf Prozent Marktanteil. Ihr Jahresumsatz lag 2022 zwischen 4 und 25 Milliarden Euro, während der Gesamtumsatz der Branche rund 550 Milliarden Euro betrug.
Das Resultat dieser Marktstruktur wird in den europäischen Waffenarsenalen sichtbar: Statt einheitliche Plattformen in grosser Stückzahl zu produzieren, stellen europäische Firmen mehrere Versionen derselben Waffensysteme her. Besonders eklatant ist das bei den 152- und 155-Millimeter-Haubitzen, von denen in Europa 28 verschiedene Varianten hergestellt werden. Derzeit sind in Europa 179 Hauptwaffensysteme in Betrieb. Zum Vergleich: Die USA betreiben nur deren 33.
Nationaler Protektionismus verhindert zudem, dass verschiedene Systeme reibungslos zusammenarbeiten. Das führt zu kostspieligen Doppelungen bei der Herstellung und Wartung und betrifft sowohl die Hardware als auch die immer wichtigere Software in den modernen Waffensystemen.
Was das auf dem Schlachtfeld bedeutet, wissen nicht zuletzt die Ukrainer. Sie mussten in den vergangenen über zwei Jahren Krieg beispielsweise lernen, dass britische Panzerkanonen spiralförmige Rillen verwenden und daher nicht die Munition für deutsche und amerikanische Panzer mit glatten Läufen nutzen können.
Manchmal geht es um die Kanonenlänge
Dass die Länder Europas im Rüstungswesen stärker kooperieren müssten, wird schon seit Jahrzehnten angemahnt. Erst im vergangenen März feierten Frankreich und Deutschland die Einigung auf die Eckpunkte eines Vertrags zur Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers. Der Einigung war allerdings ein jahrelanger Streit der Herstellerfirmen Rheinmetall und KNDS vorangegangen.
Dabei ging es unter anderem um die Länge der Kanone auf dem Panzer. Deutschland favorisierte eine 130-Millimeter-Kanone, während Frankreich auf der selbst entwickelten 140-Millimeter-Kanone bestand. Der Kompromiss: Deutschland hat die Federführung beim Panzer, Frankreich darf jedoch beim ebenfalls gemeinsam entwickelten neuen Kampfflugzeug mehr bestimmen.
Solche Beispiele sind in der europäischen Rüstungsgeschichte zahlreich. Viele europäische Staaten vermeiden solch kostspielige und langwierige Verhandlungen deshalb und kaufen nur im eigenen Land oder ausserhalb Europas ein. In den letzten zwei Jahren tätigten die Europäer 78 Prozent ihrer Waffenkäufe im aussereuropäischen Ausland. Hauptlieferant sind die USA, aber auch Südkorea sichert sich immer mehr europäische Aufträge.
Die EU reagiert nun auf diesen Geldabfluss. Die neue Verteidigungsstrategie sieht vor, dass die Mitgliedländer bis 2030 die Hälfte und bis 2035 sogar 60 Prozent ihres Verteidigungshaushalts innerhalb der EU investieren sollen. Ähnlich wie beim Zwei-Prozent-Ziel der Nato handelt es sich jedoch um eine Richtschnur und nicht um eine verbindliche Vorgabe.