Ein milliardenschwerer Kokainhändler entwischt der europäischen Justiz immer wieder. Doch Videos zeigen, wie er in Sierra Leone mit den Mächtigen des Landes feiert. Eine Recherche über neue Entwicklungen im internationalen Drogenhandel.
Der Mann ist jung, er hat die Haare zurückgegelt, den Blick konzentriert nach vorne gerichtet. Er sticht heraus, als fast einziger Weisser in einer vollbesetzten afrikanischen Kirche. Prominent ist auch die Begleitung des Mannes. Neben ihm sitzt die Tochter des Präsidenten von Sierra Leone. Sie vertritt ihr Land als Diplomatin bei der Uno in New York. Zwei Reihen weiter vorne haben der Präsident selbst und die First Lady Platz genommen.
Der Mann in dem Video, das Anfang Jahr aufgenommen wurde, könnte ein einflussreicher westlicher Missionar sein, von denen es viele gibt in Afrika. Oder ein europäischer Botschafter mit besten Beziehungen zu Sierra Leones Präsidentenfamilie.
Tatsächlich ist er einer der meistgesuchten Verbrecher Europas. Europol, die Polizeibehörde der EU, hat ein Kopfgeld von 200 000 Euro auf ihn ausgesetzt. Der Mann hat viele Namen, doch geboren wurde er als Joseph Johannes Leijdekkers – kurz Jos. Gerichte haben ihn zu Dutzenden Jahren Gefängnis verurteilt. In Abwesenheit, denn Leijdekkers ist seit Jahren auf der Flucht.
Dabei scheint sich «Bolle Jos» («der dicke Jos»), wie man ihn in den Niederlanden nennt, nur halbherzig zu verstecken. Er tritt in aller Öffentlichkeit an der Seite der mächtigsten Politiker in einem westafrikanischen Land auf.
Zuflucht in Sierra Leone
Tausende von Tonnen Kokain werden jedes Jahr von Südamerika aus in die Welt geschmuggelt. In den vergangenen Jahren ist der Schmuggel nach Europa vermehrt über Westafrika gelaufen. Jos Leijdekkers, 33, ist gemäss der niederländischen Polizei eine der Schlüsselfiguren im internationalen Kokainhandel. Laut Schätzungen verdient er bis zu 2 Milliarden Euro pro Jahr. Für einen wie ihn ist Westafrika ein attraktives Terrain.
In Sierra Leone – knapp doppelt so gross wie die Schweiz, neun Millionen Einwohner – ist die Anwesenheit von Leijdekkers ein offenes Geheimnis. In den vergangenen Monaten haben Oppositionelle in den sozialen Netzwerken Videos von ihm gepostet. Dazu schrieben sie, einer von Europas mächtigsten Drogenhändlern habe die Elite des Landes infiltriert, wenn nicht gekauft.
Im Januar haben auch internationale Medien zu berichten begonnen. Die niederländische Investigativplattform «Follow the Money» und die Zeitung «Algemeen Dagblad» veröffentlichten das eingangs erwähnte Video aus der Kirche. Es zeigt Leijdekkers und die Präsidentenfamilie am Neujahrstag im Heimatort von Präsident Julius Maada Bio. Quellen in Sierra Leone sagen, dass die Präsidententochter und Diplomatin Agnes Bio die Freundin des Drogenhändlers sei, möglicherweise seine Verlobte. Andere mächtige Regierungsvertreter sind ebenfalls da. Im Video ist zu sehen, wie Leijdekkers den ehemaligen Polizeichef des Landes umarmt.
Ein anderes Video, das von einem Oppositionellen stammt und auch von «Follow the Money» und «Algemeen Dagblad» publiziert wurde, zeigt Leijdekkers an einer Geburtstagsparty in einem Restaurant in der Hauptstadt Freetown. Das Restaurant «Lor» ist eine der elegantesten Adressen des Landes. Leijdekkers trägt ein Hemd von Versace, ist bestens gelaunt. Er überreicht dem Geburtstagskind ein Geschenk. Die beiden lachen herzhaft. Der Beschenkte ist Alusine Kanneh, der Leiter von Sierra Leones Migrationsbehörde. Gleich daneben steht Andrew Jaiah Kaikai, der Chef der Anti-Drogen-Behörde.
Die Videos zeigen: Ein europäischer Grosskrimineller verkehrt im innersten Machtzirkel eines kleinen afrikanischen Landes. Was hat Jos Leijdekkers dort verloren? Es ist eine Geschichte, die von den Niederlanden nach Westafrika führt und wieder zurück – entlang der Routen des internationalen Drogenhandels.
Wer ist Jos Leijdekkers?
Jos Leijdekkers wird schon in die Unterwelt geboren: Sein Vater betreibt in der niederländischen Kleinstadt Breda ein Bordell. Die Kunden kommen auch aus dem Drogenmilieu, dank ihnen pflegt der Vater mutmasslich Kontakte in die beiden grössten Häfen Europas, Rotterdam in den Niederlanden und Antwerpen in Belgien. Die Kontakte werden seinem Sohn später nützlich sein.
Der junge Jos fällt laut der niederländischen Zeitung «Het Parool» früh durch Ungehorsam auf, mehrmals muss er die Schule wechseln. Mit 17 Jahren prügelt er mit Freunden einen Jungen spitalreif und erhält als Strafe siebenundzwanzig Tage Jugendhaft sowie vierzig Stunden gemeinnützige Arbeit. Die Richter stellen ihm keine gute Prognose: Leijdekkers’ Selbstreflexion sei «sehr begrenzt». Er sehe nur sein eigenes Recht und höre nicht, was andere zu sagen hätten.
Sie behalten recht. Eineinhalb Jahre später streitet sich Jos Leijdekkers im Küstenort Scheveningen mit zwei Brüdern um einen Barhocker. Vor dem Lokal streckt er seine Gegenspieler mit mehreren Schüssen nieder. Nur dank Glück überleben beide. Der nunmehr volljährige Leijdekkers wird 2011 zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt.
Vier Jahre bleibt er hinter Gittern – es ist für ihn keine verlorene Zeit. «Das Gefängnis ist eine Universität für Kriminalität», sagt der Kriminologe Hans Werdmölder, der eine vor wenigen Wochen erschienene Biografie über den Drogenboss geschrieben hat. In Haft lernt Leijdekkers andere Gangster kennen. Sie öffnen ihm die Türen zu den ganz grossen Geschäften.
Einmal frei, macht er Karriere als Verbrecher. Sein Geschäftsmodell ist simpel: Er organisiert grosse Kokaintransporte von Südamerika nach Rotterdam und Antwerpen, weiss genau, in welchen Containern die wertvolle Fracht steckt und schleust diese mithilfe von bestochenen Hafenmitarbeitern und Zollbeamten aus dem Areal.
Zumeist geht das gut, Leijdekkers führt tonnenweise Drogen nach Europa ein. Sein Aufstieg geht einher mit einem starken Anstieg des Kokainhandels in Europa. 2022 liegt die Menge des beschlagnahmten Stoffs bei über 320 Tonnen – fünfmal so viel wie noch 2012.
Laut Experten ist Leijdekkers’ Organisation keine kompliziert strukturierte Mafia. Vielmehr habe er ein paar enge Vertraute plus einige Dutzend Helfershelfer, von denen er je nach Auftrag andere einsetzt.
Manchmal passieren in der Lieferkette Fehler. Im Dezember 2019 entfernen Leijdekkers’ Leute im Hafen von Rotterdam eine Ladung Kokain nicht rechtzeitig. Sie wird nach Finnland weiterverschifft. Gemäss der niederländischen Staatsanwaltschaft schickt Leijdekkers eine Truppe von Handlangern los, um die Charge in Helsinki zu sichern. Sie verprügeln dort einen Hafenangestellten und werden danach verhaftet.
Die niederländische und die belgische Polizei ermitteln schon lange gegen Leijdekkers. Das Ausmass seiner Rolle im internationalen Drogenhandel wird den Ermittlern erst bewusst, als es ihnen 2021 gelingt, den von Kriminellen benutzten Messenger-Dienst Sky ECC zu knacken. Leijdekkers ist dort unter anderem als «El Presidente», «Holly» (von Hollywood) oder «El Ganador» («der Gewinner») aktiv – es sind Pseudonyme, die teilweise sogar auf die Kokainbarren aus Südamerika geschrieben worden sind.
Die Messenger-Nachrichten sind teils schockierend. Am 31. Januar 2020 schreibt Leijdekkers gemäss Angaben der niederländischen Staatsanwaltschaft einem Komplizen: «Bruder, wir müssen jemanden schlafen lassen.» Was das bedeutet, wissen die Ermittler genau: jemanden umbringen. Offenbar sollte ein Rivale beseitigt werden. Es ist nicht die einzige solche Nachricht. Nachdem sie alle vermeintlich verschlüsselten Nachrichten ausgewertet haben, schreiben die Ermittler: «Die Leichtigkeit, mit der immer wieder gesagt wird, dass jemand ‹schlafen gehen› soll, ist erschreckend.»
Obwohl die Beweisführung schwierig ist und potenzielle Zeugen eingeschüchtert sind, ist Leijdekkers wegen Drogenhandels und Gewaltdelikten schon in verschiedenen Ländern verurteilt worden. Im Juni 2024 hat ein Gericht in Rotterdam eine Haftstrafe von vierundzwanzig Jahren ausgesprochen, im September in Antwerpen erhielt Leijdekkers zehn Jahre und im Februar dreizehn Jahre. In diesen Tagen findet in Belgien ein weiterer Prozess statt.
Würde Leijdekkers gefasst, müsste er für Dutzende Jahre hinter Gitter. Doch bisher ist er den Ermittlern stets entkommen. Er soll auch schon in Dubai gelebt haben. 2023 wird er in der Türkei gesichtet und gemäss dem Kriminologen Werdmölder auch festgenommen. Er habe dann aber die Richter mit je 250 000 Euro bestochen, um wieder freigelassen zu werden.
Kokain-Hub Westafrika: was den «dicken Jos» nach Sierra Leone bringt
Was sucht Jos Leijdekkers nun ausgerechnet in Sierra Leone? In einem Land, das zwar schöne Strände hat, aber eines der ärmsten Länder der Welt ist. Glitzernde Hochhäuser wie in Dubai oder luxuriöse Stadtpalais wie in Istanbul findet man hier nicht.
Es hilft, sich die Routen des globalen Kokainhandels anzuschauen.
Seit den nuller Jahren nehmen kriminelle Organisationen vermehrt den Weg über Westafrika, um Europa mit Kokain zu versorgen. Das liegt daran, dass der direkte Weg aus Südamerika nach Europa riskanter geworden ist, europäische Länder haben die Kontrollen an Häfen und Flughäfen verschärft. Westafrika liegt nahe bei Südamerika und nahe bei Europa. Die meisten Länder sind arm, ihre Hafenbehörden und Polizisten schlecht bezahlt und bestechlich.
Von der westafrikanischen Küste aus transportieren Drogenschmuggler das Rauschgift meist in Booten der Küste entlang Richtung Europa, wo es zum Beispiel in Spanien oder Frankreich ausgeladen wird. Ein Teil des Schmuggels geht auch durch die Sahara. Viele Akteure sind beteiligt, mauretanische Fischer, malische Jihadisten, nigerianische Gangs, korrupte Beamte und Politiker.
Sierra Leone ist die ideale Drehscheibe. Es liegt gegenüber von Brasilien an Afrikas Westküste, mit vielen kleinen Buchten, in denen Schmugglerboote ungestört landen können. Die Uno schrieb schon 2009: «Der Kokainhandel ist die grösste Bedrohung für Sierra Leone.»
Episoden aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass Sierra Leone tatsächlich zu einem wichtigen Umschlagplatz geworden ist. Im Oktober 2023 finden die Hafenbehörden im belgischen Antwerpen eine Ladung von 10 Tonnen Kokain, versteckt zwischen Sojamehl. Ursprungsort der Ladung ist Sierra Leone.
Im Dezember 2024 verurteilt ein britisches Gericht eine Gruppe Krimineller aus Liverpool zu langen Haftstrafen. Sie haben versucht, Kokain im Wert von 140 Millionen Pfund (160 Millionen Franken) nach Grossbritannien zu schmuggeln. Ursprungsort der Ladung: Sierra Leone.
Auf einer Website des amerikanischen Aussenministeriums stehen ein paar Sätze über Sierra Leone, die trocken zusammenfassen, was einen Mann wie Jos Leijdekkers nach Westafrika bringt: «In Sierra Leone sind Drogenhandel und Geldwäscherei weit verbreitet. Das Land wird als Umschlagplatz von Südamerika/Asien nach Europa und zu einem geringeren Mass in die USA genutzt. Korruption ist ein allgegenwärtiges Problem in Sierra Leone. Die Strafjustiz ist ineffizient und überlastet.»
Es gibt viele Hinweise darauf, dass die mächtigsten Leute in Sierra Leone von den Millionen profitieren, die der Drogenhandel ins Land spült. Ein Beispiel vom Januar: Polizisten im Nachbarland Guinea fanden in einem Auto sieben Koffer mit 180 Kilo Kokain sowie 100 000 Dollar Bargeld. Das Auto gehörte Sierra Leones Botschaft.
Dies ist der Boden, auf dem die Geschäfte von Jos Leijdekkers gedeihen.
Laut der Investigativplattform «Follow the Money» kontrolliert Leijdekkers Landebahnen für Flugzeuge im Innern des Landes sowie Hafengebäude in der Hauptstadt. Das Magazin «Africa Confidential» berichtet, Leijdekkers habe die Kontrolle über das bestehende Schmuggelnetzwerk in Sierra Leone übernommen und bezahle riesige Summen an Bestechungsgeldern. Er habe Polizisten und Soldaten rekrutiert, um die Sicherheit seiner Drogentransporte zu gewährleisten. Hohe Regierungsvertreter fahren angeblich luxuriöse SUV, die Leijdekkers bezahlt hat.
Es sieht so aus, als habe sich der «dicke Jos» ein afrikanisches Land gekauft. Und den Deal mit einer Beziehung mit der Lieblingstochter des Präsidenten besiegelt. Laut manchen Berichten erwartet Agnes Bio ein Kind von Leijdekkers.
Sierra Leones Regierung streitet ihre Verbindungen zu einem der meistgesuchten Kriminellen Europas kategorisch ab. In einem offiziellen Statement Ende Januar schrieb sie: «Der Präsident verfügt über kein Wissen bezüglich der besagten Person.» Auch die First Lady Fatima Bio liess verlauten, sie kenne diesen «weissen Mann» nicht.
Die Niederlande verlangen von Sierra Leone die Auslieferung Leijdekkers. Allerdings gibt es kein Auslieferungsabkommen zwischen den Ländern.
Während Jos Leijdekkers mit den Mächtigen in Sierra Leone Messen und Partys feiert, breitet sich im Land eine Drogenepidemie aus. Immer mehr Menschen konsumieren synthetisches Cannabis, das Schmerzmittel Tramadol – und Kokain, Leijdekkers’ Stoff. Im April 2024 hat Präsident Bio den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen.
Woher die Beweisvideos stammen und wie wir sie überprüft haben
adi. · Seit geraumer Zeit zeigen Videos Jos Leijdekkers in Sierra Leone. Anfang 2025 veröffentlicht der Oppositionsführer Mohamed Mansaray eine Aufnahme auf Facebook. Das Video zeigt Leijdekkers bei einer Auseinandersetzung im Hotel «Mamba Point» in Freetown, wie ein Abgleich mit Nutzerbildern auf Google zeigt. Eine Aufschrift auf einem Bildschirm wünscht ein «Frohes neues Jahr 2023», was nahelegt, dass es um Neujahr 2023 aufgenommen wurde. Ebenfalls zu sehen ist Alusine Kanneh, der sich laut einem Medienbericht nach der Veröffentlichung des Videos davon distanzierte. Er habe nur als Friedensstifter fungiert und sei nicht mit Leijdekkers da gewesen.
Das Video, welches Leijdekkers bei dem Geburtstagsfest zeigt, wurde von «Follow the Money» und dem «Algemeen Dagblad» veröffentlicht. Eine Gesichtserkennungssoftware bestätigt, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Leijdekkers und Kanneh auf dem Video zu sehen sind. Der Aufnahmeort wurde von der NZZ als das Restaurant «Lor» in Freetown verifiziert.
Ebenfalls identifizierbar ist Leijdekkers auf dem Video vom 1. Januar 2025, wo er in der «St. Joseph Catholic Church» in Tihun zu sehen ist. Der Ort wurde von «Follow the Money» lokalisiert und von der NZZ überprüft. Das Video wurde auf der Facebook-Seite der Frau des Präsidenten, Fatima Maada Bio, live gestreamt.
Text: Antonio Fumagalli, Samuel Misteli
Recherche: Antonio Fumagalli, Samuel Misteli, Adina Renner
Grafiken: Ida Götz, Adina Renner