Jüngst haben zahlreiche europäische Länder angekündigt, die Militärausgaben rasch zu erhöhen. Aber hinter den Meldungen steckt mehr Schein als Sein.
Plötzlich scheint vielen europäischen Finanzministern das Geld für die Verteidigung locker in der Tasche zu sitzen. Italien beispielsweise war jahrelang säumig. 2014 hatten die Nato-Mitgliedsländer vereinbart, dass sie innerhalb von zehn Jahren 2 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) für die Verteidigung ausgeben möchten. Italien, ein finanzschwaches Land, hat diesen Wert auch 2024 bei weitem nicht erreicht, er verharrte bei 1,5 Prozent.
Aber vor Ostern gab Italiens Finanzminister Giancarlo Giorgetti überraschend bekannt, man werde die Zwei-Prozent-Schwelle bereits 2025 schaffen. 11 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben sind dafür nötig. Kurz nach Ostern verkündete Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez Ähnliches: Sein Land will die Hürde ebenfalls dieses Jahr erreichen, obwohl man bisher weit davon entfernt war (1,3 Prozent). Und auch Belgiens Regierung peilt seit neuem das Zwei-Prozent-Ziel schon für 2025 an und nicht erst für 2029, wie im Koalitionsvertrag festgehalten.
Die Angst vor dem Zorn der Amerikaner
Bei diesen Ankündigungen gibt es einen auffallenden zeitlichen Zusammenhang: Um die Osterzeit waren sowohl Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni als auch Spaniens Wirtschaftsminister Carlos Cuerpo in Washington, um Vertreter der amerikanischen Regierung zu treffen. Offenbar hielten sie es für ratsam, den Wünschen der USA nach höheren Verteidigungsausgaben schleunigst nachzukommen, um von amerikanischen Regierungsvertretern nicht blossgestellt zu werden.
Allerdings fragt es sich, wie dauerhaft die Beteuerungen sind. Belgiens Regierung zum Beispiel spielt mit dem Gedanken, Gold der Notenbank und weitere Aktiven zu veräussern, obwohl das rechtlich fast nicht möglich ist.
Für 2025 mögen die Staaten das Ziel so erreichen. Verkäufe von Aktiven sind einmalige Aktionen, die Länder müssen aber dauerhaft 2 Prozent des BIP und künftig wohl noch mehr für die Verteidigung ausgeben. Was geschieht also nach 2025? Zumal sich die Wirtschaftsaussichten infolge des globalen Handelsstreits verschlechtern, wodurch der finanzielle Spielraum nochmals enger wird.
Die kurzfristigen Aktionen der Länder erinnern an das Jahr 1999, als der Euro eingeführt wurde. In die Währungsunion durften nur jene Staaten eintreten, deren Budgetdefizit unter 3 Prozent des BIP lag.
Auf wundersame Weise schafften alle Länder diese Hürde – aber nur, indem sie Tricks anwandten. Besonders dreist ging die griechische Regierung vor. Sie schickte falsche Statistiken nach Brüssel. Andere Länder tätigten einmalige Finanztransaktionen, um die Kriterien zu erfüllen. Frankreich beispielsweise übernahm von France Télécom Pensionsverpflichtungen und erhielt von ihr im Gegenzug über 5 Milliarden Euro.
Die Länder müssen die Haushalte neu aufstellen
Auch heute scheint die Versuchung gross zu sein, bei den Rüstungsausgaben bilanztechnische Umbuchungen von Geldern vorzunehmen, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Laut der Nachrichtenagentur Reuters hat das Italien bereits gemacht. Neu fungieren auch Renten für pensionierte Soldaten als Verteidigungsausgaben.
Welche Budgetposten wirklich als Verteidigungsausgaben gelten können, wird sich zeigen, wenn sich die Nato und die EU in den kommenden Monaten über die Budgets der Länder beugen. Beide Organisationen haben eine klare Definition, welche Ausgabe wirklich der Verteidigung dient.
Woher das Geld für die Rüstung langfristig kommen soll, wissen die europäischen Länder derweil nicht. Manche Ökonomen gehen davon aus, dass der Kraftakt einer nachhaltigen Verteidigung nur zu schaffen ist, wenn die Staaten die Haushalte neu aufstellen. Die Regierungen müssten also Einsparungen vornehmen, beispielsweise bei den Sozialausgaben, um überhaupt dauerhaft höhere Beträge in die Verteidigung zu lenken.
Nur keine Abstriche bei den Sozialausgaben
Noch wagt es allerdings kaum eine Regierung, das der Bevölkerung offen zu sagen. Sánchez kündigte zwar an, dieses Jahr über 10 Milliarden Euro mehr für Verteidigung auszugeben. Gleichzeitig betonte er, dass man bei den Sozialausgaben keine Abstriche mache. Das zusätzliche Geld stammt angeblich aus Budgetreserven. Ob es diese auch in den kommenden Jahren noch geben wird, kann Sánchez jedoch nicht sagen.
Die Aktionen Italiens, Belgiens, Spaniens und weiterer Länder dienen eben auch dem Zweck, sich Zeit zu kaufen. «Indem die Europäer ankündigen, kurzfristig mehr Geld für die Rüstung auszugeben, stellt das gleichsam eine Bitte an die Amerikaner dar, in Europa militärisch präsent zu bleiben – schliesslich erfüllt man deren Forderung», sagt Spyros Blavoukos, Professor an der Athens University of Economics and Business. Man nehme ihn so einen Vorwand, Europa zu verlassen.
Fraglich ist allerdings, ob solche Hauruckübungen dazu beitragen, den Kontinent verteidigungsfähig zu machen. Dafür müssten die Europäer bei der Rüstung stärker zusammenarbeiten. Sie beschwören zwar Kooperationen, es sieht aber weiterhin nicht danach aus, als kämen diese auch zustande.
Stattdessen herrscht in Europa nach wie vor das Motto: Wenn wir schon viel Geld für die Rüstung ausgeben, soll das eigene Land möglichst davon profitieren. Spaniens Ministerpräsident Sánchez versprach etwa, dass 87 Prozent der zusätzlichen Ausgaben Spanien zugutekommen würden.
«Die Rüstungsausgaben erfolgen inkrementell, also schrittweise aufbauend, und nicht transformierend hin zu einer europäischen Verteidigung», sagt Blavoukos. Konkret heisst das: Bei der Rüstung fehlt den Europäern die gemeinsame Strategie. Die Ausgaben richten sich danach, wie die Staaten die Gefährdung wahrnehmen.
Blavoukos’ Heimat ist ein Beispiel dafür. Griechenland gibt einen vergleichsweise hohen Anteil des BIP für die Verteidigung aus. Der Grund ist der Nachbarstaat Türkei, vor dem sich die Griechen fürchten. Die Polen dagegen haben Angst vor dem nahen Russland. Kein anderes Land in der EU gibt daher relativ zum BIP für die Verteidigung so viel Geld aus wie sie. Spanien schliesslich legt viel Wert auf die Abwehr von Cyberattacken. Hinter den Pyrenäen fühlt es sich geschützt vor russischen Geschossen.
Österreich lässt sich Zeit
Zumindest ein Staat aber scheint das Rennen in Richtung der Zwei-Prozent-Schwelle nicht mitmachen zu wollen: Österreich. Das Land, das der Nato nicht angehört, lässt sich mit der Wiederaufrüstung Zeit.
Erst 2032 will es die Zwei-Prozent-Schwelle erreichen. Um grosse Rüstungsausgaben zu stemmen, ist die Finanzlage derzeit zu marode. Vergangenes Jahr belief sich der Fehlbetrag beim Budget auf gewaltige 22,5 Milliarden Euro. Österreich muss sich auf ein Defizitverfahren der EU gefasst machen.
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum Militärvorhaben im Land nur schleppend vorankommen. Der Verwaltung fehle für komplexe Beschaffungen mittlerweile das Fachwissen, sagt ein hoher Offizier. Es reiche noch für neue Uniformhosen, im Fall von Panzern oder Flugzeugen werde es aber schwierig.
Die Beschaffung von Rüstungsgütern ist komplexer als ein Wocheneinkauf im Supermarkt. Die meisten europäischen Länder sollten das zwar wissen, aber sie trauen sich nicht, das auch zu sagen.