Moskau könnte im Konflikt mit dem Westen auch Angriffe auf die Energieversorgung durchführen. Cyberattacken haben aber Nachteile.
Als der Strom in Spanien ausfiel, kam sofort die Frage auf: Könnte ein Cyberangriff das Blackout verursacht haben? Steht möglicherweise Russland hinter dem Stromausfall? Denn Moskau führt mit Desinformation, Sabotageaktionen und Cyberangriffen einen hybriden Krieg gegen Europa.
Russland hat die Fähigkeit, mittels Cyberoperationen die Stromversorgung abzustellen. Dies hat das Land vor knapp zehn Jahren in der Ukraine bewiesen. Damals fiel der Strom in der Westukraine für bis zu sechs Stunden aus. Mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Angst gestiegen, dass Russland einen solchen Cyberangriff auch gegen das europäische Stromnetz führen könnte.
Warum es in Spanien zu einem so grossen Stromausfall kommen konnte, ist bisher nicht restlos geklärt. Einen Cyberangriff schliessen die Behörden inzwischen allerdings aus.
Die Stromversorgung ist dennoch ein ideales Ziel für Sabotage. Das hat das Blackout in Spanien und Portugal Ende April gezeigt. Ohne Strom kommt der Verkehr zum Stehen, Internet und Handys funktionieren rasch nicht mehr, gekühlte Lebensmittel verderben. Die moderne Gesellschaft ist hochgradig abhängig von Elektrizität.
Deswegen besteht die Befürchtung, dass der Kreml Stromausfälle herbeiführen könnte, um dem Westen zu schaden. Moskau könnte sich so zum Beispiel für Waffenlieferungen an die Ukraine oder für Sanktionen gegen Russland rächen.
Technisch ist ein Cyberangriff auf die Stromversorgung zwar aufwendig, aber möglich. Der russische Militärgeheimdienst GRU hat seine Fähigkeiten, die Energieversorgung anzugreifen, in den letzten Jahren weiterentwickelt – und ist schneller geworden.
Doch eine rein technische Betrachtung greift zu kurz. Cyberangriffe finden in einem politischen Umfeld statt. Die Urheber haben eine konkrete Absicht, sie müssen einigen Aufwand betreiben und gewisse Folgen in Kauf nehmen.
Eine Betrachtung dieser drei Faktoren zeigt, dass Cyberangriffe vermutlich nicht Russlands Mittel erster Wahl sind, um Stromausfälle in Europa herbeizuführen.
1 – Politische Absicht
Russland zielt mit seinen verdeckten Aktionen darauf ab, in Europa Verunsicherung zu schüren und die Politik zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Der Kreml will die politische Einheit gegenüber Russland brechen und die Unterstützung für die Ukraine schwächen.
Dazu setzt Russland unter anderem auf Cyberangriffe, um Aufsehen zu erregen. Bei diesen Beeinflussungsoperationen steht jedoch die öffentliche Wirkung im Vordergrund, nicht ein grosser Schaden. Russland hat zum Beispiel ein geheimes Gespräch zwischen Offizieren der deutschen Luftwaffe mitgeschnitten und dann publiziert, um den Widerstand gegen Raketenlieferungen an die Ukraine zu stärken.
Regelmässig führt die prorussische Gruppe NoName057 sogenannte DDoS-Attacken durch, die sie als politisch motiviert bezeichnet. In der Schweiz kam es etwa während der Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock zu solchen Attacken. Diese Angriffe überlasten ausgewählte Webserver vorübergehend, was in der Öffentlichkeit für Aufsehen sorgen kann. Ein bleibender Schaden entsteht durch DDoS-Angriffe üblicherweise nicht.
Cybersabotage gegen die Stromversorgung könnte für den Kreml ein Mittel sein, um ein Land einzuschüchtern, das zum Beispiel die Entsendung von Schutztruppen in die Ukraine beschliesst. Allerdings bedeutet ein solcher Angriff eine erhebliche Eskalation. Denn Stromausfälle können grossen Schaden anrichten oder gar Menschenleben kosten.
Eine weitere Motivation für Russland, zum Beispiel Unterseekabel in der Ostsee zu beschädigen, ist das Austesten des Gegners. Der Kreml möchte wissen, wie weit er gehen kann, wie das betroffene Land reagiert und wie geeint die Nato im Falle eines Angriffs auftritt.
Ein solches Austesten könnte Russland auch mit Cyberangriffen auf die Stromversorgung durchführen – am ehesten in Osteuropa, etwa im Baltikum oder in der Moldau. Heikel daran könnte sein, dass ein Stromausfall rasch unbeabsichtigte Folgen haben und – in einer Kettenreaktion – zu einem grossflächigen Blackout führen könnte.
2 – Aufwand des Angriffs
Cyberangriffe erscheinen in der öffentlichen Wahrnehmung oft als einfache Aktionen, die auf Knopfdruck ausgelöst werden können. Doch diese Vorstellung ist fast immer falsch. Cyberoperationen gegen ein bestimmtes Ziel, die eine kontrollierte Wirkung entfalten sollen, brauchen Fachwissen und Vorbereitung.
Das gilt ganz besonders für sogenannte industrielle Kontrollsysteme, die physische Anlagen wie die Stromversorgung steuern. Teilweise ist dafür hochspezialisierte Schadsoftware nötig, die der Angreifer zuerst spezifisch für die ausgewählte Anlage programmieren muss.
Dieser enorme Aufwand ist im Verhältnis zur Wirkung zu sehen. Um einzig Verunsicherung und Angst in der Bevölkerung zu schüren, gibt es deutlich einfachere Mittel als einen komplexen Cyberangriff auf die Stromversorgung.
Wenn Russland einen solchen Cyberangriff durchführt, legt es zudem sein Vorgehen und seine Schadsoftware offen. Die Analyse des Vorfalls führt dazu, dass die Angriffsart bekanntwird und diese Informationen geteilt werden können. Andere potenzielle Opfer sind gewarnt und können sich schützen. Russland würde damit die eigenen wertvollen Werkzeuge unbrauchbar machen.
3 – Folgen des Stromausfalls
Abhängig von der Schwere eines Cyberangriffs fallen auch die Folgen unterschiedlich aus. Bei Attacken auf kritische Infrastrukturen, wie die Energieversorgung eine ist, besteht ein grosses Eskalationspotenzial. Das Verteidigungsbündnis Nato hat nach dem russischen Grossangriff auf die Ukraine im Februar 2022 bekräftigt, dass auch ein Cyberangriff auf wichtige Infrastrukturen den Bündnisfall auslösen könnte.
Die Äusserung war auch zur Abschreckung gedacht. Und einen Automatismus gibt es nicht. Als das Nato-Mitglied Albanien im Herbst 2022 Opfer eines grossen Cyberangriffs iranischer Gruppen auf staatliche IT-Systeme wurde, wandte sich die Regierung nicht an den Nato-Rat – obwohl dies denkbar gewesen wäre. Trotzdem kann Russland eine Antwort der Nato nicht ausschliessen.
Bei einem Stromausfall kann es – im Unterschied etwa zu DDoS-Attacken – rasch zu physischen Schäden oder gar zu Verletzten oder Toten kommen. Der angegriffene Staat würde unter Druck geraten, mit entsprechender Härte zu reagieren. Der Konflikt könnte rasch eskalieren, was derzeit nicht unbedingt im Interesse Russlands wäre.
Wer hinter einem Cyberangriff steckt, ist meist nicht sofort klar. Allerdings dürfte es in Bezug auf die Cybereinheiten der russischen Geheimdienste kein Problem sein, zu einer klaren Zuordnung zu kommen. Sie stehen unter genauer Beobachtung von westlichen Behörden und IT-Sicherheitsfirmen. Die sogenannte «plausible deniability», also die Möglichkeit, die Tat glaubhaft abzustreiten, dürfte deshalb für Russland kaum ein Argument zugunsten eines Einsatzes von Cybermitteln sein.
Fazit: Bombenanschläge sind einfacher
Diese drei Faktoren zusammen zeigen, dass Cyberangriffe auf die Stromversorgung in der gegenwärtigen Situation für Russland Nachteile haben.
- Eskalationsgefahr: Greift Russland ganz grundsätzlich die Stromversorgung eines Landes an, kann dies schwere Folgen haben. Der Konflikt könnte rasch eskalieren. Die Frage ist, ob Russland derzeit daran interessiert ist.
- Grosser Aufwand: Ein gezielter Cyberangriff auf die Strominfrastruktur braucht Vorbereitungszeit und Know-how. Und selbst dann kann er noch schiefgehen. Solange Russland in den europäischen Ländern mit seinen hybriden Aktionen nur Verunsicherung verbreiten möchte, erscheint ein Cyberangriff auf das Stromnetz als viel zu aufwendig.
Dennoch sind russische Angriffe auf die Stromversorgung in westlichen Ländern nicht ausgeschlossen. Moskau ist bereit, im hybriden Konflikt mit Europa grössere Risiken einzugehen. Der Kreml schreckt seit einigen Monaten auch vor Sabotageakten nicht zurück.
Derzeit sind diese Aktionen noch sehr begrenzt. Das macht die Eskalationsgefahr überschaubar. Das kann sich jedoch rasch ändern. Es scheint plausibel, dass Russland den hybriden Konflikt in Zukunft verschärfen möchte. Dann sind Anschläge auf das Stromnetz eine Option.
Doch selbst in diesem Szenario sind Cyberangriffe nicht unbedingt das beste Mittel. Um den Strom abzustellen, gibt es weit weniger aufwendige Mittel. Es reicht, wenn einige Personen im Auftrag des russischen Militärgeheimdienstes zum Beispiel einen wichtigen Strommast oder ein Unterwerk in die Luft sprengen.
Dafür muss Russland nicht einmal eigene Agenten einsetzen. In den letzten Monaten versucht der Militärgeheimdienst etwa Personen zu rekrutieren, die für Geld Sabotageaktionen oder andere Aufträge ausführen. Das ist einfacher und billiger als ein komplexer Cyberangriff.