Eine Frau, die viel Ungerechtigkeit erleiden musste, kämpft für Gerechtigkeit.
Es fehlt nur die Drehorgel. Die hat Eveline Weggler an diesem Freitagmorgen daheim gelassen. Aber sie ist es, unverkennbar: die Brille, die grauen Trainerhosen, die in Winterstiefeln stecken, die gelbe Leuchtweste und die graue Mütze. Dazu ihr Lächeln.
So kennt man die 74-Jährige im ganzen Land. So steht sie in Zürich oder Bern, in Biel oder der St. Galler Gemeinde Buchs auf dem Trottoir. Vor sich eine Drehorgel, auf der sie mal etwas Volkstümliches, mal einen Schlager, mal ein Kirchenlied spielt. Bei den «gläubigen Liedern» singt sie oft mit. Abgerundet wird die Szenerie von einem Teddybären, der neckisch auf der Orgel sitzt.
Schwer vorstellbar, dass diese Frau auch nur einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Und doch steht sie an diesem Morgen als Angeklagte in Zürich vor dem Bezirksgericht.
Ihr Vergehen: Sie hat musiziert, wo sie nicht hätte musizieren dürfen. Namentlich beim Marktplatz in Oerlikon wurde sie vom Zürcher Stadtrichteramt mehrmals erwischt.
«Mehrfach vorsätzliche vorübergehende Benützung des öffentlichen Grundes», lautet der Vorwurf auf Juristendeutsch. «Das alles steht in keinem Verhältnis», sagt Weggler und schüttelt den Kopf.
500 Franken Busse und 780 Franken Gebühren hätte sie dem Stadtrichteramt bezahlen müssen. Sie sagt: «Das ist einfach zu viel.»
Also wehrt sie sich. Denn es geht ihr um mehr. «Es ist eine Diskriminierung», sagt sie. Eine Erfahrung, die sie ihr Leben lang begleitet.
Trostlose Kindheit in Heimen
Eveline Weggler kommt im Januar 1950 zur Welt, und es ist kein einfacher Start ins Leben. Die Mutter hat während der Schwangerschaft einen Suizidversuch begangen. «Weil der Vater sie nicht heiraten wollte.» So kommt es, dass das Baby notfallmässig zur Welt kommt. Es ist blau angelaufen und muss sofort unter das Sauerstoffzelt.
«Vater und Mutter haben mich verleugnet», sagt Weggler. Weil ihre Eltern nicht für sie sorgen wollen, kommt sie in mehrere Heime. Am Ende landet das Kind im Kinderheim Bühl in Wädenswil. 14 Jahre wird sie dort verbringen.
Schlimmes hat sie von damals zu berichten. Wie sie an den Füssen ans Bett gefesselt wurde, nur weil sie es gewagt hatte, im Schlafsaal das Licht anzuschalten.
Die normale Schule dürfen die Heimkinder nicht besuchen, «stattdessen kamen wir in den Unterricht für Schwachsinnige». Und sie müssen arbeiten. Putzen oder Stupideres wie Assugrin-Pillen in Briefchen abfüllen oder einzelne Schrauben abzählen.
Eveline Weggler träumt von Tod und Verfolgung. Als Achtjährige nässt sie ins Bett. «Psychische Folter», sagt sie. Aber nie habe sie eine Entschädigung für Verdingkinder geltend gemacht, sagt sie. Auch dann nicht, als ihr die Leute von den Zehntausenden Franken erzählt hätten, die man angeblich erhalte.
Sie sagt: «Das zahlen die Leute mit ihren Steuern. Leute, die das nicht verursacht haben. Und das ist ungerecht.» Da ist er wieder, dieser Wunsch nach Gerechtigkeit, die ihr selber oft verwehrt wurde.
Das dominierende Gefühl ihrer Kindheit: «Man gab mir immer zu verstehen, dass ich nicht dazugehöre.»
Im Alter von 19 Jahren setzt ihr eine Frauenärztin ohne ihr Wissen eine Spirale ein. «Nur damit ich ja kein uneheliches Kind bekomme.» Alle zwei Wochen hat sie Blutungen und Schmerzen. Dass sie später trotzdem Mutter wird, nennen die Ärzte ein Wunder.
Als junge Frau macht sie Dinge, die «aus einem Wahn» heraus geschehen seien. Weil sie der Mutter habe zeigen wollen, dass es auch anders gehe. So kommt es, dass sie in die Prostitution gerät. «Ich dachte, dann sei ich jemand, habe Geld und vielleicht auch einmal ein Haus.»
Eveline Weggler bekommt drei Kinder, einmal wird sie zu einer Abtreibung genötigt. Keines der Kinder wächst bei ihr auf. «Das erste Kind wurde mir einfach weggenommen. Man zwang mich zur Adoption.» Das zweite Kind gibt sie freiwillig zur Adoption frei. Das dritte vertraut sie einer Pflegefamilie an.
Sie sagt: «Ich war bevormundet. Bis ich 25 Jahre alt war, musste ich schwer kämpfen, damit ich das wieder loswurde. Aber ich habe allen vergeben. Wie Jesus auch mir vergeben hat.»
Brief an «Madame Mauch»
Wie also über jemanden urteilen, der Derartiges erleben musste und nun ohne Anwalt, aber mit einem Plastiksack voller Akten und «einem frommen Wunsch» auf der Anklagebank sitzt? «Ich bitte Sie von Herzen», sagt Weggler zur Richterin, «üben Sie Barmherzigkeit.»
Die Richterin: Sie kennen den Strafbefehl?
Ja, der ist viel zu hoch.
Von was leben Sie?
Ich bin Strassenkünstlerin. Dazu die AHV von 1016 Franken pro Monat und 237 Euro Rente aus den Niederlanden.
Stimmt es, dass Sie ein Haus in den Niederlanden besitzen?
Ja, dort wohne ich. Aber da kommen die Schnecken rein. Im Winter kann man nicht gut dort leben. Ich habe es mir für 27 000 Franken zusammengespart. Sonst habe ich kein Vermögen.
War Ihnen bewusst, dass Sie auf dem Marktplatz in Oerlikon nicht musizieren durften?
Ja. Da bin ich ehrlich.
Warum haben Sie es trotzdem getan?
Ich dachte an die Tiere in der Savanne. Wenn denen Futter ausgeht, gehen die auch dorthin, wo sie überleben können. Die nehmen keine Rücksicht auf die Grenzen der Menschen. Und ich bin auch nicht gewillt, an Orten zu spielen, wo es keine Leute hat. Da verdiene ich vielleicht fünf Franken. Davon kann man nicht leben.
Sie möchten, dass Ihnen nun die Kosten erlassen werden?
Ja.
Dabei dürfte Eveline Weggler durchaus in Zürich musizieren. Nur nicht dort, wo sie es tat. Auf dem Max-Bill-Platz in Oerlikon wäre es in Ordnung gewesen, oder dem Tessinerplatz in der Enge. «Aber da ist kein Mensch», sagt sie.
Dazu kämen die Standortwechsel alle halbe Stunde, zu der die Behörden sie zwingen würden, und weshalb sie weite Fussmärsche auf sich nehmen müsse. Sie nimmt ihr Telefon hervor und zeigt der Richterin Fotos. Die Richterin sagt fürs Protokoll: «Die Angeklagte zeigt uns Fotos des leeren Max-Bill-Platzes.»
Eveline Weggler kommt weit herum, einem GA und einem Schlafplatz in St. Gallen sei Dank. Und so kennt sie die Lage andernorts, in der Bundesstadt etwa, wo die Leute vielleicht etwas weniger freigebig seien als in Zürich, dafür aber die Behörden viel gemütlicher. «Wenn ich einen Fehler mache, zahle ich in Bern 60 Franken Busse. Und fertig ist.»
In Zürich dagegen erreichten die Bussen und Gebühren zunehmend astronomische Höhen. Die Plätze, die sie bespielen dürfe, würden aber immer schlechter. Deswegen hat sie auch schon «der Madame Mauch» geschrieben. Die Stadtpräsidentin habe ihr geantwortet, sie bedaure, aber Zürich sei eine sehr tolerante und weltoffene Stadt. Weggler: «Nur was habe ich davon?»
Jetzt klopft die Rentnerin auf den Plastiksack, der vor ihr auf dem Tisch liegt. «Ich habe hier ein paar Beweise mitgebracht.»
Es ist ein Schreiben aus der Stadt Freiburg i. Ü. Darin stehe, dass Strassenmusikant ein anerkannter Beruf sei. «Geschützt durch ein Bundesgesetz.» Darum sei das Diskriminierung, was sie in Zürich erlebe. «Die Politik steht doch nicht über unserer Verfassung und unserem Gesetz.»
Die Richterin schaut etwas mitleidig und ziemlich ratlos.
Dann halten Sie an der Einsprache fest?
Man sagte mir, dass ich hier bei Ihnen eine Chance kriege.
Mit dem Risiko, dass die Kosten höher werden?
Ich will es wagen.
Es ist der Moment, in dem klarwird, dass Gerechtigkeit und Recht zwei verschiedene paar Schuhe sind. Eveline Weggler wird schuldig gesprochen. Es könne gut sein, sagt die Richterin, dass Zürich diesbezüglich restriktiver sei als andere Orte. Aber Strassenkunst werde in Zürich nicht verunmöglicht. «Die Regeln sind Ihnen bekannt, Sie müssen sie einhalten.»
Zusätzlich zur Busse kommt für Eveline Weggler nun auch noch eine Gerichtsgebühr von 400 Franken obendrauf. Die Rentnerin ist enttäuscht, aber sie hat einen Plan: Sie kenne da «eine Bude» in Zürich, wo sie den Betrag werde abarbeiten können. «Taschen kleben, stanzen, schöne Arbeit eigentlich.»
Eveline Weggler will jedenfalls weiterhin in Zürich auf ihrer Drehorgel spielen, «dort, wo ich kann». Aber was die Gebühren angehe, da habe sie zum Schluss «jetzt noch eine ehrliche Frage».
Wenn man im Ausland wohne, fragt sie die Richterin, «kann man nicht betrieben werden?» Die Richterin sagt: «Ja, es ist deutlich schwieriger.»
Und kurz lächelt Eveline Weggler ihr Lächeln.