An den Küsten des türkischen Inselteils wird im Akkord gebaut. Das international nicht anerkannte Staatsgebilde profitiert von seiner Existenz im Graubereich. Der Boom hat aber auch Schattenseiten.
Länger wird der Long Beach nicht, aber höher. Überall um den Strandabschnitt, der nach der legendären kalifornischen Küstenstadt benannt ist, sich aber im Nordosten von Zypern befindet, stehen Kräne und Baumaschinen. Im Akkord werden Ferienanlagen und Wohnhäuser in die Höhe gezogen.
Ein ähnliches Bild bietet sich an vielen Orten entlang der Küste der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern. Das Epizentrum dieses Booms, den man eher in einer globalen Metropole als im verschlafenen Hinterland eines nicht anerkannten Staates erwarten würde, ist aber der Ort Yeni Iskele, zu dem auch Long Beach gehört.
Günstiger als der Süden
Es werde gebaut, weil die Nachfrage gross sei, sagt Oldschas Abdulchadow. «Es ist billiger hier als im Süden der Insel, und man hat mehr Spass. Das Wetter ist sowieso gleich gut.» Der Kasache leitet bei Hub Property Investment, einem Vermittler für Luxusimmobilien in Nordzypern, die Marketingabteilung für den russischsprachigen Markt. Vor dem Büro in Yeni Iskele stehen grosse Limousinen, mit denen Interessenten zu den Bauprojekten gefahren werden.
Die Quadratmeterpreise in den nördlichen Küstenregionen liegen trotz kräftigem Anstieg in den letzten Jahren noch immer deutlich unter dem Niveau von bekannten Ferienorten wie Limassol oder Larnaka im Süden der geteilten Insel. Für Käufer aus der Mittelschicht ist das attraktiv, besonders aus Staaten, deren Bürger sich nicht visafrei in Europa bewegen können. Kasachstan gehört dazu, auch Länder im Nahen Osten.
Auch aus der EU kommen Interessenten sowie aus der Türkei, wo die Immobilienpreise in letzter Zeit massiv gestiegen sind. Die beiden prominentesten Käufergruppen sind jedoch Russen und Iraner. Auch bei ihnen spielt der Preis eine Rolle. Aber nicht nur.
Zwischen Vorortssiedlung und Feriendorf
«Ich musste vor einigen Jahren ganz schnell aus Iran verschwinden. Nordzypern war der erste Ort, an dem ich mich niederlassen konnte», sagt Sami, ein Ingenieur aus Isfahan. «Seither bin ich hier. Es gibt schlimmere Orte zum Leben.» Seinen Nachnamen und den Grund seiner Flucht will der Mann nicht nennen.
Sami wohnt im Caesar Resort in der Nähe von Long Beach, einer riesigen Anlage mit hohen Wohntürmen, mehreren Restaurants und Pools, diversen Sportanlagen und einer Sauna. Das Gelände wurde schon mehrmals erweitert, auf zurzeit mehrere hundert Wohneinheiten.
Zum Strand braucht man vom Resort zu Fuss zwanzig Minuten. Tagsüber fährt auch ein Shuttlebus. Farsi und vor allem Russisch sind hier die meistgehörten Sprachen. Einige der Gäste kommen für Ferien her, andere leben hier permanent. Das schlägt sich auch in der Atmosphäre nieder, die wie auch in vielen Ferienorten in der Türkei irgendwo zwischen gehobener Vorortssiedlung und Feriendorf liegt.
Iwan aus Moskau hat ebenfalls im «Caesar» Quartier bezogen. Der muskulöse Mittzwanziger erzählt, er habe bis zum Überfall auf die Ukraine ein Fitnessstudio geleitet. Dann sei er wegen der drohenden Mobilisierung in die Türkei gezogen, nach Alanya am Mittelmeer. Weil es dort mit der Aufenthaltsbewilligung immer schwieriger geworden sei, probiere er nun, hier Fuss zu fassen. Auch Iwan möchte lieber seinen Nachnamen nicht nennen.
Grosse Abhängigkeit von der Türkei
Nordzypern ist ein eigentümliches Gebilde. Infolge des türkischen Einmarschs vor fünfzig Jahren hat die Republik Zypern, der offiziell anerkannte Staat im Süden, die Kontrolle über etwa ein Drittel des Territoriums verloren. Durch Flucht und Vertreibungen hat sich die Bevölkerung entmischt. Nahezu alle griechischen Zyprioten leben heute im Süden, die türkischen Zyprioten im Norden.
Auch manche Orte wurden umbenannt. Yeni Iskele, Neu-Iskele, hiess früher Trikomo. Den heutigen Namen trägt der Ort, weil viele der türkischen Bewohner ursprünglich aus dem Stadtteil Iskele in Larnaka stammen. 1983 rief der türkische Norden in Absprache mit Ankara einen eigenen Staat aus: die Türkische Republik Nordzypern (TRNC).
Der Pseudostaat mit schätzungsweise 400 000 Einwohnern wird offiziell nur von der Türkei anerkannt. Das sorgt für eine starke Abhängigkeit vom grossen Bruder auf dem Festland. Offizielle Währung ist die türkische Lira, der internationale Handel wird meist über die Türkei abgewickelt. Auch wenn man im Alltag nicht viel davon merkt, befindet sich das Land in vielerlei Hinsicht in einem Graubereich. Neben Hindernissen bietet dieser aber auch Möglichkeiten.
«Die jahrzehntelange Isolation hat uns gelehrt, wie man Hürden umschifft», sagt der Ökonom Mertkan Hamit. Das mache Nordzypern nicht nur für Sonnenhungrige attraktiv. Erst recht gelte das seit den Russland-Sanktionen. Der Ökonom aus Famagusta, der grössten Stadt in der Nähe von Yeni Iskele, verfolgt den Bauboom in seiner Heimat genau.
«Nach dem russischen Überfall ist viel Geld hierhergeflossen», sagt er. Für einige Leute sei das sehr einträglich gewesen. Um welche Summen es sich konkret handle, könne niemand sagen. «Wir wissen ja nicht einmal genau, wie viele Menschen hier leben.»
Die Türkei zieht gegenüber Russen die Schraube an
Die Türkei und damit auch das von Ankara abhängige Nordzypern haben die westlichen Sanktionen nicht übernommen. Wer sein Geld im Westen hatte und fürchtete, darauf nicht mehr zugreifen zu können, fand hier eine attraktive Alternative. Das gilt auch für einige der vielen Russen, die zuvor im Süden der Insel lebten.
Wie Iwan, den ehemaligen Fitnesstrainer aus Moskau, verschlägt es aber auch Menschen auf die Insel, die seit Kriegsbeginn im Ausland leben und zunehmend mit finanziellen oder administrativen Schwierigkeiten kämpfen.
Die Türkei hat bei der Vergabe von Aufenthaltsbedingungen die Schraube angezogen. Iwans mehrjähriges Schengen-Visum, das er noch vor dem Krieg in Moskau erhalten habe, laufe demnächst aus. «Viele Optionen habe ich nicht. Nordzypern ist eine davon», sagt er.
«Infrastruktur der Geldwäsche»
Die verbreitete Darstellung, der Bauboom der letzten Jahre werde allein durch Schwarzgeld und unsaubere Geschäfte getrieben, ist verkürzt. Völlig unbegründet ist sie dennoch nicht.
Besonders entlang der Küste fällt die hohe Dichte an Kasinos und Autohäusern mit Luxuslimousinen auf. Zudem gibt es mittlerweile über 200 Verkaufsstellen für Kryptowährung in Nordzypern. All diese Geschäftsfelder eignen sich gut dafür, undeklarierte Gelder in den offiziellen Geldfluss einzuspeisen. Der Ökonom Hamit spricht von einer «Infrastruktur der Geldwäsche».
Zwar lassen sich auch legitime Erklärungen hierfür finden. Touristen aus der Türkei und Israel, wo das Glücksspiel verboten ist, kommen nicht zuletzt wegen der Kasinos nach Nordzypern. Kryptowährungen wiederum haben für Russen im internationalen Zahlungsverkehr stark an Bedeutung gewonnen. «Die extreme Häufung dieser Einrichtungen ist trotzdem ein deutliches Indiz für Geldwäsche», sagt der Ökonom Hamit.
Ankara will Vertrauen zurückgewinnen
Mehr als für das ohnehin nicht sonderlich gut beleumundete Nordzypern ist das für die Türkei ein Problem. Ankara ist seit der Wiederwahl von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Mai 2023 bemüht, im Ausland wirtschaftspolitisches Vertrauen zurückzugewinnen.
Der Finanzminister Mehmet Simsek hat einen radikalen Kurswechsel eingeleitet, um die Inflation einzudämmen, die durch Erdogans desaströse Tiefzinspolitik immer weiter in die Höhe getrieben worden war. Gleichzeitig will Simsek Investoren gewinnen. Die Türkei ist dringend auf ausländische Geldgeber angewiesen.
«Wir sind Teil des türkischen Banksystems. Wenn Ankara entscheidet, gegen Geldwäsche vorzugehen, betrifft das auch uns», sagt Fikri Toros, ein Oppositionspolitiker im nordzypriotischen Parlament und früherer Vorsitzender der hiesigen Handelskammer. «Deshalb war der Druck so gross, das neue Gesetz vor der FATF-Jahressitzung im Juni zu verabschieden.»
Als wichtiger Zwischenschritt auf diesem Weg galt die Streichung von der sogenannten grauen Liste der Financial Action Task Force (FATF), der wichtigsten internationalen Plattform im Kampf gegen die Geldwäsche. Und hier kommt Nordzypern ins Spiel mit dem Zufluss undeklarierter Gelder und dem boomenden Immobilienmarkt.
Seit Mai gelten in Nordzypern neue Regeln für den Kauf von Immobilien durch Ausländer. Treuhandgesellschaften müssen nun die Namen der Eigentümer offenlegen. Zudem ist der Besitz auf eine Wohnung beschränkt. Eine Sonderregelung gilt für Festlandtürken, die drei Immobilien besitzen dürfen.
Unzufriedenheit bei lokaler Bevölkerung
Der türkische Finanzminister Simsek hat sein Ziel erreicht. Ende Juni wurde die Türkei von der grauen Liste gestrichen. Einen Beitrag dazu leistete auch das neue Gesetz in Nordzypern.
Wie sich die Änderungen vor Ort auswirken werden, ist noch unklar. Die wenigsten Beobachter rechnen aber damit, dass dadurch der Boom abgeschwächt wird – auch wenn sich das einige wünschten.
In der lokalen Bevölkerung ist viel Unzufriedenheit über die Entwicklung spürbar, obwohl indirekt nicht wenige davon profitieren. Viele Dienstleister und Händler konnten ihre Umsätze steigern, Landbesitzer sowieso. Selbst der Metzger im Ort schreibt seine Waren mittlerweile auf Russisch und Farsi an. Doch auch die Schattenseiten sind spürbar.
Überforderte Schulen
Weil grosse Bauunternehmen das Land aufkaufen, sind die Preise für Wohneigentum in die Höhe geschossen. «Mit unserem Gehalt ist eine Wohnung unerschwinglich geworden», sagt Sevgi Gülhan, die Leiterin der Primarschule von Yeni Iskele.
Grösseres Kopfzerbrechen bereitet Gülhan eine andere Entwicklung. Der Zuzug hat innert kurzer Zeit sehr viele neue Kinder an ihre Schule gebracht, die allermeisten ohne Sprachkenntnisse. «Wir haben 400 Schüler. 170 davon sprechen zu Hause kein Türkisch», sagt die Pädagogin.
Einige alteingesessene Eltern hätten sich bereits beschwert, dass die Ausbildung ihrer Kinder deswegen zu kurz komme. In westlichen Industriestaaten kennt man solche Debatten seit Jahrzehnten. Für Nordzypern sind sie völlig neu.
Der Ökonom Hamit sorgt sich eher um die langfristigen Folgen. «Es herrscht absoluter Wildwuchs. Bereits vor Jahren haben wir ein städteplanerisches Gesamtkonzept gefordert und eine Beschränkung auf Gebäude mit maximal fünf Stockwerken. Beides ohne Erfolg.» Auch der Umweltschutz werde vernachlässigt. Die Abwasser der Resorts gelangten ungefiltert ins Meer. «Die Gefahr, dass die gesamte Küste verschandelt wird, ist gross», mahnt Hamit.
Schwierige Landfrage
Hinzu kommt eine weitere, sehr zypriotische Dimension. Die Frage von Landbesitz und Restitution ist einer der grössten Stolpersteine bei den Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der geteilten Insel. Die Frage, unter welchen Umständen Land und Haus an die früheren Besitzer zurückgegeben werden und was dies für die gegenwärtigen Bewohner bedeutet, stellt sich auch in Yeni Iskele.
«Das Land in und um Yeni Iskele war bis zur Teilung grösstenteils in griechischer Hand», sagt Hamit. Bisher sei es landwirtschaftlich genutzt worden oder habe brachgelegen. Doch nun würden darauf Anlagen mit Hunderten von Ferienwohnungen gebaut, die wiederum an Menschen aus unterschiedlichsten Staaten verkauft würden. «Eine Einigung zwischen Griechen und Türken in der Landfrage wird dadurch noch schwieriger, als sie ohnehin schon ist.»







