Der Bilderkrieg ist integraler Teil der «asymmetrischen» Kriegführung. Die fehlgeleitete Annahme: Je grausamer der Anblick, desto effektiver die Abschreckung der Feinde.
Die Leiche des Feindes auszustellen, diese Handlung ist so alt wie die Menschheit; die Sieger signalisierten Triumph, Genugtuung und Warnung – so werde es allen ergehen, die uns vernichten wollen. Heute zeigt nur der Jäger Respekt, wenn er dem geschossenen Rotwild einen Tannenzweig ins Maul legt. Die Geste verrät nicht nur Achtung, sondern auch Angst; die Ehrung soll die Rache der Götter abwenden.
«Pour encourager les autres», lautet der zynisch-ironische Spruch Voltaires: Möge eine Hinrichtung euch Mahnung und Ansporn sein, damit ihr auf dem Pfad der Tugend bleibt. Bis in die Neuzeit haben Staaten die Leichen von Exekutierten am Galgen hängen lassen, um die Verführbaren Mores zu lehren. Das tun die Heutigen nicht mehr, schon gar nicht in der demokratischen Welt. Hier ist die Hinrichtung kein Volksfest; sie wird im stillen Kämmerlein versteckt, die Todesstrafe wird mit der Giftspritze «medizinisch» vollstreckt – kein Schmerz, kein Jubel. Man ahnt, warum. Egal, wie furchtbar der Schurke, wir schämen und fürchten uns wie bei der Jagd im wilden Tann. Bloss nicht die Götter herausfordern. Das Tabu reicht bis in die Steinzeit zurück.
Die ganze Welt ist die Bühne
Nur hat sich seit dem «Zweiten Dreissigjährigen Krieg» (1914–45) das Wesen des Krieges verändert. Wie im ersten (1618–48) haben die Kombattanten Gott (nunmehr Allah) auf ihrer Seite. Der erlaubt alles, ja fordert es im Namen der Erlösung vom Bösen. Doch es kämpfen nicht mehr Staaten gegen Staaten, sondern bewaffnete Horden aus sogenannten Freiheitskämpfern oder Terroristen, gegeneinander oder gegen einen Staat wie Israel. Zudem ist die Bühne heute die ganze Welt, auf der soll wie in Gaza der «Krieg der Bilder» entscheiden.
Den hatte die Hamas längst gewonnen; siehe die weltweite Empörung bis hin zur Anklage Israels vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Eher zufällig geriet eine Patrouille der israelischen Armee (IDF) an Yahya Sinwar, den Hamas-Chef, den sie im Feuergefecht umbrachte. Kriegsglück. Im All-out-Kampf, den die Hamas-Mordorgie an 1200 Israelis vor einem Jahr provozierte, haben die IDF die Führungsriege der Hamas eliminiert – und schliesslich den Top-Mann. Alsgleich fluteten Sinwars Bilder durchs Netz.
Nur zeigen die allermeisten Bilder Sinwar, wie er sich selber gesehen hat: als grimmig-entschlossenen älteren Herren mit grauem Bart und Haupthaar, der fast nie lächelte. Sodann veröffentlichten die IDF ein paar Fotos von dem schwer zugerichteten Toten – zum Beispiel von seinem Gebiss im weit aufgerissenen Mund, was offensichtlich der Identifizierung gedient hatte.
Doch diese Bilder wurden rasch zensiert. Haben sich die IDF geschämt? Bestimmt nicht, hatte doch die israelische Justiz Sinwar wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Er kam 2011 zusammen mit 1025 anderen im Austausch gegen eine einzige israelische Geisel frei. Ab 2021 plante er das Massaker vom 7. Oktober 2023. Er wurde Israels Staatsfeind Nr. 1.
Warum dann die rasche Bilder-Zensur? Der Bilderkrieg ist in unserer Zeit Prinzip; er ist integraler Teil der «asymmetrischen» Kriegführung. Je grausamer der Anblick, desto effektiver die Mobilisierung der Getreuen. Beachtenswert ist aber diese Asymmetrie: Das schiere Faktum der Sinwar-Tötung reichte in Israel aus; es stärkte den Willen der Soldaten und Benjamin Netanyahu. Aber die andere Seite, die weiter Raketen abfeuert, hat sich nicht gezügelt, wie es sich Voltaire gedacht hatte. Das Exempel stärkte die Wut der Israel-Feinde.
Zweischneidige Waffe
Die Tweets bei X geben keine systematischen Umfrageergebnisse her, liefern aber erhellende Illustrationen. «Alle Israelis werden bald wie (Sinwar) sterben.» «Möge Allah den Märtyrer gnädig aufnehmen.» Er bleibt «unser heldischer Freiheitskämpfer». Die Tweets feiern den «heroischen Tod auf dem Schlachtfeld». Israel sei ein «Terroristenstaat». Die Bilder sind «Millionen-Prozent Fake». Das sei gar nicht Sinwar; der Erlöser lebt also. «Die zionistischen Dämonen wollen mehr Baby-Blut», «Wir werden stärker, Inschallah», «Lang lebe der Widerstand!». Eine Karikatur zeigt einen IDF-Soldaten, dem Hamas-Raketen in den Schlund fliegen.
Sind die IDF moralisch besser? Solche blutrünstigen Tweets verfasst sie nicht. Die zensierten Bilder von der Sinwar-Leiche lassen aber ahnen, dass Israel taktisch klüger ist als die Kassam-Brigaden der Hamas, als sie das Massaker vom 7. Oktober entfachten. Die haben Vergewaltigung, Verstümmelung und Mordlust gefilmt und verbreitet. So sollten die Untertanen für den gewollten israelischen Vergeltungsschlag moralisch aufgerüstet werden. Die Entmenschlichung sollte Durchhaltekraft im kommenden Krieg gegen Israel spenden, die Macht der Hamas festigen. Falsch kalkuliert. Stattdessen hat sie den Kampfwillen der Israeli verstärkt.
Der Bilderkrieg ist also eine zweischneidige Waffe, weshalb die Regierung das Triumphgeheul scheute, die schrecklichen Aufnahmen vom toten Sinwar sistierte. Voraussage: Es wird einen neuen, vielleicht nicht so einen intelligenten und charismatischen Führer wie Sinwar geben. Aber wider die weltweite Entrüstung im Bilderkrieg haben die IDF zumindest zwei taktische Siege errungen: die Enthauptung der Hamas und die Fast-Vernichtung der Kassam-Brigaden. Im Südlibanon, gegen den viel besser trainierten Hizbullah, wird es nicht so einfach sein.
Bescheidene Macht der Bilder
Die Moral von der Geschicht? Voltaire lag falsch. Um ein wirkmächtiges Exempel zu statuieren, braucht es mehr als die Zurschaustellung von geschundenen und gequälten Delinquenten. Nicht einmal die tausendfach verbreiteten Fotos und Clips von der Zerstörung in Gaza und im Südlibanon haben die IDF eingeschüchtert, die sich in einem existenziellen Krieg befinden, der au fond dem imperialen Iran gilt.
Letztlich entscheiden nicht Bilder, sondern überlegene Armeen den Krieg – Stahl, Soldaten und strategisches Know-how. Und der Frieden? Man wünscht ihn sich, obwohl der Hundertjährige Krieg weitergehen wird. Er begann 1929, als eine wütende Menge von Arabern 70 Juden in Hebron massakrierte, die keine Zionisten, sondern nur fromme Gläubige waren.
In dieser vermaledeiten Gegend bringt ein einzelner toter Sinwar keine Abschreckung. Bekannt sind die Berichte aus dem alten London, wo im Publikum die Taschendiebe ausschwärmten, derweil ein Kollege gerade gehängt wurde. Denn bescheiden ist die Macht der Bilder. Auf X werden Kriege nicht gewonnen. Sondern auf dem Schlachtfeld.
Josef Joffe, deutscher Publizist, hat an den Universitäten Harvard, Stanford und Johns Hopkins Politik gelehrt.