Die Künstlerin erzählt von ihrem sozialen Aufstieg und verrät, was für sie das gute Leben ist.
Es ist eine Szene auf dem roten Teppich am Filmfest München vor bald zwei Jahren, die bei Jovana Reisinger viel auslöst. In einer «unüberhörbaren Lautstärke» sagt jemand direkt neben ihr: «Was macht eigentlich die Prostituierte auf dem roten Teppich?» Die Leute lachen, kichern, schauen. Was soll das?
Mit dieser Zumutung beginnt «Pleasure», Reisingers fünftes Buch. Die Künstlerin fällt an dem Abend jedenfalls auf, so viel ist klar. Sie schreibt, sie stehe da, «in einem kurzen, knallpinken La-Perla-Kleid mit einem tiefen Ausschnitt, in den bläulich transparenten Heels, in meinem Namilia-Denimmantel mit aufgedruckten Penissen und meinem blauen Swarovski-Schmuck, meiner gefälschten blauen Dior Saddle Bag am linken Handgelenk baumelnd».
Dekonstruktion des «guten Geschmacks»
Der Vorfall hat Reisinger aufgewühlt. Die giftige Kommentatorin – eine elegant gekleidete, wohl gutsituierte Dame – hat ihr klargemacht, sie gehöre nicht auf den roten Teppich. Doch Reisinger ist zunächst nicht wütend oder empört über die Beleidigung aufgrund ihres Äusseren, sondern denkt direkt an ihre Leistung, die ihre Präsenz legitimiere, «Ich bin, weil ich arbeite». Schnell merkt sie, «wie abgefuckt dieser Mechanismus ist». Dann geht sie zur Toilette und schickt dem «Lover» ein freizügiges Selfie und anzügliche Nachrichten.
Das Buch sei «ein Manifest für den Glamour, eine Lanze für das Rumliegen, die Völlerei, den Kitsch», heisst es im Prolog. Beim Gespräch in Zürich trinkt Reisinger jedoch nicht etwa Champagner oder Margarita, sondern eine Limo. Anders als bei ihrem extravaganten Auftritt in der Öffentlichkeit, etwa auf Instagram, wo sie ständig Bilder von ihren Outfits postet, wirkt Reisinger beim Treffen nahbar, bodenständig. Sie trägt ein weisses Hemd und lange Hosen.
Sie redet, wie sie schreibt, in einer jungen und mit Anglizismen gespickten Sprache. «Ey Leute, ganz ehrlich, Oberfläche ist richtig geil!», sagt sie. Angeblich Unwichtiges, Oberflächliches sorge für so viel Reibung, dass es wichtig sei, da hinzuschauen. Etwa bei Kleidung: Reisingers Auftritt am Filmfest München habe offensichtlich provoziert.
Kategorien des guten Lebens
Warum stören sich Leute an ihren Outfits? Es gehe ihnen nicht um Geschmack, sondern vielmehr um soziale Normen, um Sexismus und Klassismus, findet Reisinger. Um die Dekonstruktion des sogenannten guten Geschmacks.
«Die Fragen, die wir uns immer stellen, wenn wir uns im Freundeskreis sehen oder wenn jemand ein Date hatte, sind immer die gleichen: Was hattest du an, was gab es zu essen, wie hast du geschlafen?» Darum erzählt Reisinger anhand der drei Kategorien Kleidung, Essen und Schlaf vom ausschweifenden Leben, das sie geniessen will.
Daraus entstanden ist eine Sammlung aus Anekdoten und persönlichen Geschichten eines wilden Alltags in der deutschen Kulturszene, inklusive Dates, Partys und Sex, und politischen Betrachtungen, die hier und da mit Sekundärliteratur unterfüttert werden, im Sinne eines erzählerischen Sachbuches. Die Sprache ist zackig, das Buch liest sich schnell. Es geht um Glamour, Exklusivität, Luxus.
Auf Hartz IV angewiesen
Dabei stammt sie aus ärmlichen Verhältnissen, wie sie erzählt. Reisinger, 35 Jahre alt, ist in München in einer mittelständischen Familie aufgewachsen. Im Gespräch erinnert sie sich, wie ihre Familie, als Reisinger noch ein Kind war, «mit viel Geld» nach Österreich zog, um dort ein Wirtshaus zu übernehmen, das seit mehreren Generationen in Familienbesitz war. Plötzlich fand sie sich auf dem Land wieder, in einem beschaulichen Dorf.
Doch das Abenteuer der Eltern nahm ein jähes Ende: Die Familie verlor nach einigen Jahren alles und zog nach München zurück. Plötzlich war die Familie auf Hartz IV, die damalige Sozialhilfe in Deutschland, angewiesen. «Ich wurde zuerst als armes Kind, dann als arme Frau sozialisiert», sagt sie.
Mit 18 zog Reisinger aus dem Elternhaus aus und studierte Kommunikationsdesign, Drehbuch und Dokumentarfilmregie. Inzwischen arbeitet Reisinger als Autorin, Filmemacherin, Schauspielerin, bildende Künstlerin. Ihre Person und ihre Geschichte sind dabei zentral. Etwa wenn sie eine Kolumne für die deutsche «Vogue» oder die Single-Kolumne für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schreibt, wo es um ihr Leben ohne fixe Partnerschaft geht. Oder wenn sie im Theater sich selber spielt.
Kultur-High-Society
Versteckte sie während des Studiums noch ihre Herkunft, bekennt sie sich heute ganz offen dazu und zelebriert sie. Ihr Auftreten ist extravagant bis schrill, auch auf Instagram, wo sie das schöne Leben inszeniert. «Pleasure» eben, Reisinger meint mit dem Begriff: Genuss und Bedürfnisbefriedigung.
Dank ihrem Erfolg gehe es ihr heute auch finanziell gut. Trotzdem werde sie auf dem roten Teppich als Unterschichtskind abgestempelt. «Bin ich mit meinem Penis-Outfit besonders glaubwürdig, besonders echt, besonders nahbar, besonders authentisch, weil es meiner Herkunft entspricht?», fragt Reisinger im Kapitel «Die Schlampenkolumnistin». Wenn sie bei der Kleidung die Gepflogenheiten der Kultur-High-Society eingehalten hätte, wäre sie wohl nicht so angegriffen worden.
Sie führt in ihrem Buch den Wechsel des sozialen Milieus vor, den sie durchgemacht hat. Von Sozialbau und Hartz IV zu Champagner auf dem roten Teppich. Und fokussiert dabei auf ausgefallene Outfits (lange, glitzernde Fingernägel und Highheels), üppiges Essen, ausgelassene Partys. Und erzählt von Dates mit dem «Crush» oder dem «Lover».
Inspiration aus dem Rap
Privat höre sie gerne «fotzige Musik», sagt sie. Etwa die Rapperinnen Ikkimel, Domiziana oder Shirin David, die sich selber frauenverachtende Adjektive zuschreiben. «Ich liebe diese Art von Musik, weil sich die Künstlerinnen spielerisch und ‹unapologetic› die Deutungshoheit zurückholen, zum Beispiel über ‹Fotze›, das schlimmste Schimpfwort für Frauen überhaupt.» Das macht auch Reisinger in ihrem Buch: Sie sei eine Tussi, ein It-Girl, das gerne «slutty» aussehe, «wie eine Schlampe».
Das klingt vulgär, die Provokation ist Absicht. Reisinger will das Publikum mit seinen Vorurteilen konfrontieren. Und das gelingt ihr eindrucksvoll. Reisinger unterwandert auf ihre subversive Art gängige gesellschaftliche Normen. Sie schafft es, zu zeigen, dass scheinbare Oberflächlichkeiten keine sind.
«Glitzerhandtasche, die Absätze und der Lippenstift waren nie das Problem», sagt sie. Das Problem liege ganz woanders, beim Patriarchat, bei geschlechtsspezifischer, sexueller Gewalt gegen Frauen, bei Ungerechtigkeiten in Bezug auf Gleichstellung, Sicherheit, Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Doch sind freizügige Kleidung und Glitzer wirklich emanzipiert?
Widersprüche sind okay
«Ist es nicht zu billig zu sagen: ‹Ihr seid alles hohle Konsumentinnen›? Wieso kann ich nicht Make-up tragen und schlau sein und das Patriarchat kritisieren? Ich sehe den Widerspruch nicht», sagt Reisinger. Genau das sei die feministische Wirkung ihres selbstbewussten Auftretens. Als von unten kommende Frau in der teilweise elitären Kulturszene liebt sie es, das Establishment mit ihrem als vulgär verstandenen Verhalten zu provozieren. Und das gelingt ihr auch.
Reisinger will «über das ausbeuterische System lachen und trotzdem darin brillieren», wie sie schreibt. Und dieser Widerspruch sei okay, findet Reisinger, das Leben sei ein grosser Widerspruch. «Ich will die Geschenke haben, aber es trotzdem unfair finden, dass manche zu viele Geschenke bekommen und andere wiederum keine», sagt sie. Diese Gleichzeitigkeit müsse stattfinden können.
Sie thematisiert damit Konventionen, mit denen Frauen bis heute zu kämpfen hätten: «Mit künstlichen Fingernägeln oder einem ultrakurzen Kleid kannst du nicht Professorin werden, ‹it’s not gonna happen›.» Die Behauptung, wir seien heutzutage bei der Gleichstellung der Geschlechter schon so viel weiter, sei schnell widerlegt.
Die Stärke von «Pleasure» liegt in der subversiven Kraft der «Tussi», in Reisingers bemerkenswerter Präsenz, die an den eigenen Vorstellungen kratzt. Und in der Unaufdringlichkeit, in der Lockerheit, wie Reisinger ihre Erfahrungswelt und ihre Kritik äussert. An wen sich ihr Schaffen richte? «An alle. Aber Achtung, ich habe keinen Ratgeber geschrieben», sagt Reisinger.
Jovana Reisinger: Pleasure. Park x Ullstein, Berlin 2024. 320 S., Fr. 34.90.