Wir tendieren dazu, das Bedrohungsbild Chinas zu überzeichnen und seine innenpolitischen Probleme herunterzuspielen. Ein Beispiel.
Zu einem Familienfest gehört ein voll besetzter Tisch. Ein zankendes Geschwisterpaar, ein pubertierender Cousin, der lieber woanders wäre, eine viel zu neugierige Tante und ein Onkel, der überall aneckt – das schwarze Schaf der Familie eben. In fünfzig Jahren wird man sich an solche Momente voller Nostalgie zurückerinnern.
Denn der voll besetzte Tisch wird leerer. Die Familien schrumpfen weltweit. Dort, wo sie jetzt schon klein sind, werden sie noch kleiner. In Europa und Nordamerika, haben Forscher vom Max Planck-Institut ausgerechnet, hatte eine 65-jährige Frau im Jahr 1950 durchschnittlich 25 lebende Verwandte. Ende dieses Jahrhunderts werden es noch 16 sein. In Lateinamerika ist der Rückgang am stärksten. Dort reduziert sich die Familiengrösse voraussichtlich um 70 Prozent und gleicht sich der nordamerikanischen Familiengrösse an. Die Familie der Zukunft ist die Kernfamilie: Eltern, Kind – und Grosseltern oder sogar Urgrosseltern. Denn diese leben immer länger.
Ein sozialer Umbruch ungeahnter Tragweite
China steht bereits mit einem Bein in dieser Zukunft. Dort wächst, befeuert durch die staatliche Einkindpolitik (1979–2016), gerade eine Generation heran, die kaum Geschwister, weder Cousins noch Tanten kennt.
Mit der Grossfamilie stirbt in China eine jahrtausendealte konfuzianische Tradition aus. Sie war bis vor kurzem ein fester Bestandteil der chinesischen Kultur, und dieses Ideal hat sich mit der Einkindpolitik nicht einfach aufgelöst. In den ersten zwei Jahrzehnten waren die Folgen der Einkindpolitik noch kaum spürbar. Die Einzelkinder stammten meist aus grossen Familien und wurden statt mit Geschwistern einfach mit vielen Cousins und Cousinen gross – die in China übrigens auch Brüder und Schwestern genannt werden.
Weil die Todesrate weiter sank, hatten die Chinesen kurz vor der Jahrtausendwende so viele Verwandte wie nie zuvor – und wie sie wohl nie wieder haben werden. Danach begannen die Verwandtschaftszahlen rapide zu sinken. Die Kinder, die heute auf die Welt kommen, haben ebenfalls oft Einzelkinder als Eltern. Gegen Ende des Jahrhunderts wird ein chinesisches Neugeborenes im Durchschnitt nur noch einen Cousin haben. Eine 65-jährige Chinesin wird sich durchschnittlich an einem einzigen Enkelkind erfreuen können.
Das ist ein radikaler gesellschaftlicher Umbruch, der Chinas Staat, Wirtschaft und Aussenpolitik in den kommenden Jahrzehnten in ungeahntem Ausmass beeinflussen wird.
China braucht einen richtigen Sozialstaat
In westlichen Gesellschaften können die wirtschaftlichen Folgen der schrumpfenden Familien durch einen ausgebauten Sozialstaat teilweise aufgefangen werden. Doch in China ist der Sozialstaat zu schwach. Was er nicht leisten kann, nimmt ihm die erweiterte Familie ab. Die sogenannte Sandwich-Generation, Frauen und Männer im Alter zwischen 40 und 60, ist Haupternährer, Kita, Arbeitslosenkasse, Altersvorsorge und Pflegeheim in einem.
Oft sorgen die Grosseltern für ihre Enkel, bis diese in den Kindergarten kommen. Arbeitslosengeld und Altersrenten sind in China verschwindend klein und decken nicht die Lebenskosten. Die Familie muss einspringen. Auch für einen Teil der Gesundheitskosten kommt meist die Familie auf. Somit hat die erweiterte Familie eine weitreichende systemstabilisierende Rolle in China. Ohne die Solidarität in der Familie wäre schon längst eine soziale Krise ausgebrochen.
Die Regierung weiss das und baut darauf. Dass die jüngeren Familienmitglieder die älteren versorgen müssen, ist gesetzlich vorgeschrieben. Die Angehörigen haben in erster Instanz für Lebenskosten, Unterkunft und Pflege der älteren Menschen zu sorgen, so steht es im Gesetz für den Schutz der Rechte und Interessen der Älteren, und sie müssen sie «oft besuchen». Wer also im Alter verwahrlost und vereinsamt, kann seine Angehörigen verklagen.
Das chinesische Gesetz gründet auf der vorherrschenden Moral. 90 Prozent der älteren Chinesen werden im Alter zu Hause betreut, 7 Prozent erhalten eine Betreuung und Pflege vom Sozialdienst des Wohnquartiers, nur 3 Prozent gehen ins Altersheim. Die chinesische Gesellschaft verachtet Familien, die ihre Grosseltern nicht zu Hause alt werden lassen.
Das Konzept der institutionellen Betreuung hat in China deshalb nie recht gefruchtet. Der Staat hat zwar um die Jahrtausendwende Altersheime gebaut mit dem Ziel, pro 1000 Einwohner 30 Betten zur Verfügung zu stellen. Doch eine Untersuchung von 2016 fand heraus, dass über anderthalb Millionen Betten unbesetzt blieben.
Doch die Familien schrumpfen unaufhaltsam, es braucht eine Lösung. China experimentiert bereits mit Online-Spitälern, Pflegerobotern und anderen intelligenten Gadgets. Es will mehr Ärzte und vor allem Pflegekräfte ausbilden, die dann zu den älteren Menschen nach Hause kommen. Im Mai letzten Jahres hat die Zentralregierung die Provinzen dazu aufgefordert, innert zwei Jahren ein System für die Altenpflege aufzubauen. Das ist ambitioniert und belastet die ohnehin schon verschuldeten Provinzregierungen zusätzlich.
Die Zeit drängt tatsächlich. Diego Alburez, der beim Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock zu Verwandtschaftsbeziehungen forscht, gibt zu bedenken: Die Nachfrage nach Altenpflege wird viel grösser sein als angenommen. Er sagt, die Regierungen gingen weltweit davon aus, dass die informelle Pflege von Angehörigen in der Zukunft im selben Masse vorhanden sein werde wie heute. «Aber gerade im Kontext von China geht diese Rechnung nicht auf.»
Auch Chinas Regierung setzt weiterhin auf die Pflegebereitschaft von Angehörigen. In den Fünfjahresplänen der Kommunistischen Partei steht, Kinder sollten in der Nähe ihrer Eltern oder mit ihnen unter einem Dach wohnen. Damit setzt die Regierung weiterhin auf die Ressource der informellen Pflege, die kontinuierlich wegbricht. Die Sandwich-Generation von Einzelkindern wird die Last des überalterten Landes in Zukunft nicht mehr alleine stemmen können.
Das fehlende Sozialkapital der erweiterten Familie
Das Phänomen der schwindenden Familien hat auch wirtschaftliche Konsequenzen. Eine Chinesin, die sich mangels Geschwister alleine um ihre alternden Eltern kümmert, ist weniger flexibel. Sie schultert die finanzielle Bürde der Gesundheits-, Pflege- und Lebenskosten ihrer Eltern. Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie für einen neuen Job die Stadt wechselt oder ein eigenes Unternehmen gründet.
Das Sozialkapital der Grossfamilie hat zum Wirtschaftsaufschwung Chinas beigetragen. Sie hat zum Beispiel die Urbanisierung ermöglicht. Die vielen Wanderarbeiter, die in die Metropolen strömen mit der Aussicht auf einen Job als Kellner, Fabrikarbeiter, Bauarbeiter oder Putzhilfe, stützen sich oft auf Verwandte, die schon in der Stadt sind. Diese vermitteln ihnen einen Job, bei ihnen können sie unterkommen. Um ihre Kinder, die sie auf dem Land zurückgelassen haben, kümmern sich ebenfalls Verwandte.
Es ist unbestritten, dass Chinas wirtschaftliche Entwicklung vom grossen Anteil junger, erwerbsfähiger Menschen an der Bevölkerung bis 2010 stark profitiert hat. Diese hatten ein Netz von Verwandten, die ihnen dabei halfen, eine Ausbildung zu finanzieren, in gute Positionen zu gelangen, Geschäftsmöglichkeiten zu erschliessen. Die Pflege von Kindern und älteren Familienmitgliedern wurde innerhalb der Grossfamilie aufgeteilt.
Ebenso wie Familienbande zu Chinas Aufschwung beitrugen, kann deren Auflösung einen Abschwung begünstigen. Es ist unklar, ob Wanderarbeiter das Risiko der Migration in Zukunft auf sich nehmen werden, wenn das unterstützende Netzwerk fehlt. Es ist fraglich, ob Einzelkinder den Mut haben, trotz ihren familiären Verpflichtungen ein Investitionsrisiko einzugehen. Der wachsende Anteil älterer Menschen an Chinas Bevölkerung belastet die Wirtschaft – sie konsumieren weitaus mehr, als sie produzieren.
Chinas globalen Ambitionen sind Grenzen gesetzt
«Mit grossartiger Demografie kommt grosse Macht», hat der amerikanische Politökonom Nicholas Eberstadt gesagt. Der Umkehrschluss stimmt auch: Schlechte demografische Voraussetzungen mindern die Möglichkeiten der Machtausdehnung einer Nation. Wenn Chinas Regierung seinen Sozialstaat massiv ausbauen muss, weil die unterstützenden Familienstrukturen zunehmend fehlen, wird sie weniger Ressourcen haben für geostrategische Projekte wie die neue Seidenstrasse.
Auch die militärische Risikobereitschaft verringert sich. Chinas Herrscher werden sich gut überlegen, einen Krieg zu beginnen, wenn der Grossteil der Soldaten Einzelkinder sind und ihr möglicher Tod deren Familien in den Ruin treiben könnte.
Wir richten den Blick allzu oft auf die wachsende Bedrohung, die von China ausgeht, und vernachlässigen dabei die sorgfältige Analyse der innenpolitischen Probleme, vor denen Chinas Regierung steht – und die Chinas globalen Machtansprüchen im Wege stehen. Der Verlust der Grossfamilie hat für China weitreichende Konsequenzen. Das Problem ist tiefgreifender als eine simple Überalterung der Gesellschaft. Es sind soziale Beziehungen und Strukturen, die fehlen werden und die erheblich zu Chinas Aufschwung beigetragen haben. Die Lösung dieses Problems wird die Herrscher Chinas beschäftigen und erhebliche Ressourcen in Anspruch nehmen.