Wenig Ego, viel Team: Die Pläne des Norwegers für den Industrieriesen drehen sich mehr um Menschen als um Technik.
«Ich gedenke, Revolution zu machen gegen die Lüge, dass die Mehrheit im Besitz der Wahrheit ist.» Das ist kein Satz, den man von Morten Wierod erwartet – einem umgänglichen Norweger, der in der konsensliebenden Schweiz neu ABB führt, den grössten Industriekonzern des Landes. Zu Recht, denn Wierod hat den Satz nie gesagt. Er stammt aus dem «Volksfeind», seinem Lieblingstheaterstück von Henrik Ibsen. Die Titelfigur stellt sich gegen die Mehrheit der Bewohner einer Stadt, um zu tun, was richtig ist.
Wierod hat alle Werke von Ibsen gelesen. Der bekannteste norwegische Dramatiker des 19. Jahrhunderts und der heutige CEO von ABB stammen aus derselben Stadt: Skien, einhundert Kilometer südwestlich von Oslo, nicht weit von der Ostsee. Wenn Wierod in der Schule ein Thema für einen Aufsatz wählen musste, nahm er Ibsen.
Das ABB-Fundament ist saniert – jetzt muss Wierod aufbauen
Viele der Stücke Ibsens seien heute noch aktuell, sagt Wierod überzeugt. So wie im «Volksfeind» die Fragen, ob man sich gegen die Mehrheit stellen soll und ob wirklich der Mann der stärkste ist, der ganz allein steht. Das sind auch schwierige Fragen für einen Manager, der ambitioniert ist und gewinnen will.
Allein hat man es schwer in einem Weltkonzern wie ABB mit 105 000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 32 Milliarden Dollar. Anfang August übernahm Wierod das Steuer und eine Aufgabe: ABB stärker wachsen zu lassen. Sein Vorgänger, der Schwede Björn Rosengren, hatte den Konzern binnen vier Jahren dezentralisiert, verschlankt, fokussiert und in die operative Erfolgsspur zurückgeführt. Die Geschäftszahlen stimmen wieder, der Aktienwert hat sich mehr als verdoppelt.
Darauf soll Morten Wierod aufbauen. ABB produziert Ausrüstung zur Elektrifizierung und Automation der Industrie, von Transformatoren bis zu Robotern. Die Energiewende und Investitionen in Energieeffizienz stützen das Geschäft. Der Daseinszweck wurde noch vom Vorgänger Rosengren definiert, ebenso die Finanz- und Wachstumsziele.
Manche neue Chefs rufen schnell eine neue Strategie und neue Finanzziele aus, um gleich einen Pflock einzuschlagen. Wierod hat zunächst nur versprochen, mehr Firmen zu übernehmen und so für mehr Wachstum zu sorgen. Aber auch das ist eigentlich ein Punkt von Rosengrens Liste.
«Es geht ja nicht um mich. Ich habe kein Ego, das verlangt, dass ich allem im Unternehmen meine Handschrift verpasse. Das ist nicht mein Stil», sagt Wierod im Gespräch. Der Manager bringt gern etwas zu Ende. Und wenn es die Arbeit des Vorgängers ist.
Generationen von Wierods arbeiteten bei Brown, Boveri & Cie.
Um fair zu sein: Wierod hat seine Handschrift schon an vielen Stellen von ABB hinterlassen. Der erst 52 Jahre alte Norweger ist seit mehr als 25 Jahren im Konzern. Er hat nie woanders gearbeitet. Diese Treue liegt in der Familie. In Skien gab es ein Werk vom ABB-Vorgänger Brown, Boveri & Cie. Wierods Vater und seine Mutter arbeiteten in diesem Werk, ebenso zwei Onkel der Mutter und Wierods Grossvater.
Ende der 1970er Jahre wartete der junge Morten am Fabriktor, um den Opa auf dem Heimweg zu begleiten. Der Grossvater montierte Sicherungseinsätze für Stromkreise: kleine Zylinder, die mit einem Metallstück und Quarzsand gefüllt werden. Wie das genau funktioniert, hat der Enkel nie gesehen. Kinder waren in der Fabrik nicht erlaubt. Da standen zu viele schwere Maschinen, die Metall pressten und Kunststoff spritzten.
Erst 1997 setzte Morten Wierod einen Fuss auf das Werksgelände: für ein Vorstellungsgespräch. Zu der Zeit war BBC bereits mit Asea zu ABB fusioniert, und Wierod schloss sein Studium als Elektroingenieur in Trondheim ab. Sein Vater, ebenfalls Ingenieur, hatte sich mittlerweile mit einem eigenen Elektroinstallationsbetrieb selbständig gemacht.
Doch zur allgemeinen Überraschung entschied sich der Sohn dagegen, die Firma des Vaters mit immerhin fünfzig Mitarbeitern zu übernehmen. Wierod wollte seinen eigenen Weg gehen, auch dem Familienfrieden zuliebe. Der Vater als Übervater in der Firma, das hätte nicht gepasst. ABB, auf ihre Art auch ein Familienunternehmen der Wierods, bot mehr Freiräume.
Die Jahre in China prägten ihn
Nach nicht einmal fünf Jahren wurde Wierod die Leitung seiner ersten ABB-Fabrik anvertraut, nahe Oslo. Plötzlich war er nicht mehr nur für den Vertrieb zuständig, sondern auch für die Produktion und die Technologie. Jeder in der Werksleitung war älter als sein Vater, er selbst zählte weniger als dreissig Jahre. Die Fabrik hatte grosse Probleme, die Schliessung stand im Raum. Und wurde abgewendet. «Ich habe wahrscheinlich nie wieder so hart gearbeitet wie damals», sagt Wierod. «Aber wir haben es geschafft.»
Nach Möglichkeit nie mehr als fünf Jahre lang dieselbe Sache machen, das hat sich Wierod zum Vorsatz gemacht. Er wechselte oft – immer innerhalb von ABB. Wegen dieser Abwechslung ging er auch nie zu einer anderen Firma.
Seine Ehefrau und er zogen 2008 für ABB nach China. Das hat ihn geprägt. Nicht die Unterschiede zwischen den Kulturen überraschten Wierod, sondern die Gemeinsamkeiten. Dass in China ein Ja auch ein Nein bedeuten kann und Hierarchien steiler sind als in Norwegen, das wurde im Vorbereitungskurs gesagt. Aber nicht, dass die Menschen überall eigentlich ziemlich gleich sind.
Jedenfalls wollen sie das Gleiche: erfolgreich sein, aber auch Teil eines Teams. Dass man ihnen zuhört und sie respektiert. Sie wollen Aufgaben bekommen, aber auch die Chancen, sie zu lösen. Daraus folgerte Wierod: Die Grundlagen für Erfolg sind überall ähnlich. Man kann schnell Resultate erzielen, wenn man gemeinsame Ziele hat und einen guten Teamgeist schafft. Und dafür Mitarbeiter austauscht, wenn es sein muss.
Den Zweikampf gewonnen
So geschah es in der Schweiz. Im Frühjahr 2022 übernahm Wierod den Geschäftsbereich Elektrifizierung, die grösste der vier Einheiten von ABB. In zwei Jahren trimmte er die Marge des Bereichs von 16 auf 20 Prozent und steigerte den Umsatz um 15 Prozent – durch klare Rollenverteilung und Verantwortung, aber auch neues Führungspersonal.
Manchmal allerdings gehen die Leute freiwillig. So wie Tarak Mehta, der vorige Leiter der Elektrifizierung. Als er und Wierod, damals Leiter des Bereichs Antriebstechnik, überraschend die Plätze tauschten, zeichnete sich ab: Der Vorentscheid für die Nachfolge von Björn Rosengren war gefallen. Mehta hat ABB inzwischen verlassen.
Sowohl Mehta wie auch Wierod seien gute Führungspersönlichkeiten, sagt ein Manager, der lange mit beiden gearbeitet hat. Der Norweger sei zurückhaltender und entscheide weniger von oben herab. Wierod komme nie mit einer vorgefassten Meinung in eine Sitzung, höre stets zu und sei sehr transparent – aber fordere auch Ergebnisse. Schliesslich sei ABB nicht einfach eine grosse, glückliche Familie, so der Weggefährte.
Auf dem Weg zur Schweizer Staatsbürgerschaft
Wierod hat die grossen Fragen vor sich: Wie wird das Geschäft in fünf oder zehn Jahren aussehen? Was muss ABB tun, um dann die richtigen Produkte zu haben? Und auch: Kann jemand diese Fragen beantworten, der keine Sicht von aussen mitbringt? Wierod denkt, dass er das kann – weil er im Konzern so viele unterschiedliche Positionen durchlaufen hat.
Am 1. August hisst Wierod die Schweizer Flagge – vor dem Sommerhaus der Familie an Norwegens Südküste. Er kennt die Schweiz gut: Im Jahr 2012 wurde er aus China abgezogen und in die Zentrale nach Zürich geholt. Die Familie mit den zwei Söhnen, beide mittlerweile Anfang zwanzig, fühlt sich hier wohl. «Ich bin in der Schweiz zu Hause», sagt er.
Wierod bemüht sich um die Staatsbürgerschaft. Es ist ein Langzeitprojekt. Nach der Ernennung zum CEO zog er vom Kanton Zürich in den Kanton Zug und muss nun fünf Jahre warten, bis er einen neuen Anlauf nehmen kann. In Zürich hatte Wierod schon am Deutschtest teilgenommen – und bestanden. Der Umzug habe nichts mit Steuern zu tun, sagt er. Es gehe darum, näher am Ferienhaus im Tessin zu sein.
Vor allem beim Sozialen unterscheide sich sein Führungsstil von jenem des ebenfalls sehr zugänglichen Rosengren, ist zu hören. Wierod hat gern auch Spass bei der Arbeit. In China veranstaltete er Karaoke-Abende für sein Team. In der Schweiz lädt er zum Grillieren oder am Vorabend von Sitzungen zum Dinner, um Dinge ungezwungener besprechen zu können. In firmeninternen Whatsapp-Gruppen postet er Memes oder Fotos vom Angeln, einem seiner Hobbys.
Zwischen Ibsen und Monty Python
Denn am Ende geht es Wierod doch um den Zusammenhalt. Schliesslich ist der Volksfeind in Ibsens «Volksfeind» eine zwiespältige Figur, keine Lichtgestalt. Und Wierods Lieblingszitat stammt auch nicht von Ibsen. Es ist von Monty Python: «Always look on the bright side of life.» Für ihn wäre nicht die Welt zusammengebrochen, wenn er den Spitzenjob nicht bekommen hätte.