Neues Jahr, neue Einrichtung: Tonnenweise landen Schränke und Betten täglich auf den Recyclinghöfen. Gleichzeitig erleben ausgerechnet Ikea-Möbel ein Vintage-Revival.
Wer im Norden von Zürich seine alten Möbel entsorgen will, muss zunächst an einem riesigen Schornstein vorbei. Hinter der Verbrennungsanlage Hagenholz türmen sich im gleichnamigen Recyclinghof Schrankwände, Matratzen, Betten und Schubladen, die darauf warten, verfeuert zu werden. 300 bis 400 Autos kommen hier jeden Tag an, gefüllt mit ausrangierten Möbeln, die auf den Haufen geworfen werden. Besonders gross sei der Andrang zwischen Weihnachten und Neujahr, sagt der Gruppenleiter Igor Mladenovic. «Dann kommen bis zu 1000 Autos, die Schlange reicht bis nach Oerlikon rein.»
Die Menge der Möbel, die die Zürcher im Recyclinghof abgeben, hat sich seit 2010 um 50 Prozent erhöht. Damit ist der Müllberg deutlich stärker gewachsen als die Bevölkerung. Für Mladenovic ist klar, wieso: «Die Leute kaufen ständig neue Möbel. Und die Sachen gehen viel schneller kaputt als früher.» 99 Prozent der Möbelstücke, die im Hagenholz landen, sind laut Mladenovic nicht mehr wiederverwendbar. «Wir stehen am Ende der Wertschöpfungskette.» Das letzte Glied dieser Kette bildet die thermische Verwertung der Möbel zu Strom und Wärme.
Gute Vintage-Möbel werden seltener
Auch Stefan Huber muss seine Mitarbeiter deutlich öfter ins Hagenholz schicken, als ihm lieb ist. Huber ist Geschäftsführer beim Verein Zürcher Brockenhaus und stellt fest: «Es wird immer schwieriger, an hochwertige Möbel zu kommen. Bei zehn Räumungen, die wir durchführen, ist vielleicht eine dabei, die wirklich gut ist.» Oftmals sei ein Grossteil nicht mehr zu gebrauchen und müsse entsorgt werden. «Die Qualität der Möbel, die wir erhalten, nimmt ab.»
Möbel hätten in den vergangenen Jahren eine ähnliche Entwicklung durchlaufen wie Mode, sagt Nicole Kind, Leiterin der Fachrichtung Industrial Design an der Zürcher Hochschule der Künste – «Fast Furniture» statt «Fast Fashion». «In früheren Generationen hat man Möbel noch vererbt oder zur Hochzeit geschenkt bekommen. Heute werden Wohnungen schon fast saisonal neu eingerichtet, ein Trend, der unter anderem von Einrichtungsmagazinen vorangetrieben wird.»
Verfügbarkeit weckt Wünsche
Trends, sei es bei der Mode oder bei Möbeln, verändern sich heute fast wöchentlich. Doch um die Wohnung laufend umzudekorieren, muss man sich regelmässig neue Möbel leisten können. Dass das heute problemlos möglich ist, ist vor allem dem Erfolg von Ikea zu verdanken. Durch eine Kombination aus geschicktem Marketing und tiefen Preisen schaffte es der Konzern, ständig neue Wünsche in den Konsumenten zu wecken. Oder, wie es ein ehemaliges Führungsmitglied gegenüber dem «Guardian» ausdrückte: «Wir haben die Nachfrage geschaffen, nicht der Verbraucher.»
Der Onlinehandel vereinfacht das Ganze zusätzlich: 2021 hatte der E-Commerce-Möbelmarkt einen Wert von mehr als 27 Milliarden Dollar, bis 2030 soll er laut einem Bericht des Marktforschungsunternehmens Next Move Strategy Consulting mehr als 40 Milliarden Dollar erreichen. Selbst der Onlinegigant Amazon hat inzwischen zwei Eigenmarken für Möbel: die moderne Mid-Century-Marke Rivet und die eher im Landhausstil gehaltene Stone & Beam.
Materialkosten machen einen Viertel aus
Wer sich sowieso ständig neue Sachen für seine Wohnung kauft, stört sich auch nicht daran, wenn sie schnell kaputtgehen. Die Rechnung sei eigentlich recht einfach, erklärt Kind. «Das Verhältnis vom Verkaufspreis zum Herstellungspreis ist in etwa 4 zu 1. Das heisst, wenn ein Tisch für 200 Franken verkauft wird, hat er in der Herstellung 50 Franken gekostet. Sie können sich in etwa vorstellen, was das über die verwendeten Materialien aussagt.»
Gespart werde überall, so Kind: zum einen beim Herstellungsort, der oft in Schwellenländer ausgelagert werde, zum anderen bei der Qualität des Materials. Fichte statt Eiche, Spanplatten statt Massivholz, weniger Klebstoffe, günstigere Scharniere. «Für ein Sofa kann man heute 10 000 Franken bezahlen oder 500 Franken.» Firmen, die versuchten, sich im mittleren Preissegment zu positionieren, hätten es auf dem Markt schwer.
Wer gute Möbel zu einem günstigeren Preis erwerben will, schaut oft erst einmal beim Brockenhaus vorbei. Das Zürcher Haus hebt sich in seinem Sortiment von den anderen Brockis ab und bietet neben günstigen Möbeln mit Gebrauchsspuren auch hochwertige Designerstücke an. Doch diese zu bekommen, sei inzwischen gar nicht mehr so einfach, erklärt Stefan Huber. Bei den Designermöbeln kommt das Brockenhaus deshalb seit einigen Jahren nicht darum herum, ausgesuchte Stücke zuzukaufen, um eine gewisse Auswahl im Laden zu haben.
Schwere Möbel sind nicht mehr gefragt
Ein Brockenhaus, das Möbel einkaufen muss, ¨überrascht – doch Huber geht davon aus, dass dieser Anteil noch zunimmt. Welche Möbel das Brockenhaus erhält, hängt auch damit zusammen, aus welcher Generation besonders viele Leute sterben. «Ältere Generationen haben ihre Möbel viel länger, das sind zum Teil massgeschneiderte Sachen, die sie vor dreissig bis vierzig Jahren gekauft haben. Wenn jüngere Leute Sachen bei uns abgeben, ist viel Ikea dabei.»
Von den Älteren erhält das Brockenhaus zurzeit vor allem schwere, grosse Möbelstücke aus den 1970er- und 1980er-Jahren. «Die sind in der Stadt nicht so beliebt.» So kann es paradoxerweise sein, dass auch hochwertige, alte Möbel entsorgt werden müssen – weil sie vom Design her nicht mehr gefragt oder zu klobig für Stadtwohnungen sind.
Um den Stadtbewohnern, von denen viele kein Auto haben, die Entsorgung ihrer Möbel zu erleichtern, setzt Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ) auf mobile Entsorgungsstellen, die durch die Zürcher Quartiere ziehen. Diese sind speziell auf Velofahrer und Fussgänger ausgelegt, die Anlieferung mit dem Auto ist nicht erlaubt. Dennoch ist die Nachfrage gross: Was zunächst als Pilotprojekt an vier Orten begann, soll im Frühjahr dieses Jahres auf acht Stellen ausgeweitet werden. Um zumindest einen kleinen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft zu leisten, werden an den Entsorgungsstellen auch Tauschtische aufgestellt, an denen gut erhaltene Ware mitgenommen werden kann.
Reparieren lohnt sich oft nicht
Viel kommt dabei nicht zusammen: «Alles, was noch irgendwie Geld bringen könnte, wird in der Regel verkauft oder an die Brockenhäuser gegeben», sagt Igor Mladenovic. Dort wiederum betont man, man sei durchaus grosszügig, was die Annahme von Möbeln mit Gebrauchsspuren betreffe. «Wir haben das Glück, eine eigene Werkstatt zu haben, in der wir die Möbel reparieren können», sagt Stefan Huber. Wackelnde Beine werden fixiert, Tische abgeschliffen und Sofas neu gepolstert. «Aber bei Nullachtfünfzehn-Ware rechnet sich der Aufwand oft nicht. Und bei Ikea-Möbeln, die aus Spanplatten bestehen, hat Abschleifen sowieso keinen Sinn.»
Doch es gibt auch Ikea-Produkte, über die Huber sich besonders freut: «Vintage-Ikea» heisst der Trend, der in jüngster Zeit dazu geführt hat, dass jahrzehntealte Teile der schwedischen Firma enorm an Wert gewonnen haben. Möbel von bestimmten Designern werden online für ein Vielfaches ihres ursprünglichen Preises angeboten. Kürzlich habe man ein Ikea-Sofa vom Modell «Impala» für fast 6000 Franken verkauft, erzählt Stefan Huber.
Die Sachen seien oft besser als ihr Ruf, sagt auch Nicole Kind. Der Firma gelinge es, über die schiere Masse, optimierte Produktionsprozesse und eigene Fabriken Geld zu sparen, so dass es inzwischen mehr hochwertige Produkte in den Geschäften gebe. Ikea will nun auch vermehrt in Bereiche vordringen, in denen hochpreisige Möbel nach wie vor der Standard sind: Mit «Ikea for Business» will das Möbelhaus sich als Einrichtungspartner für Büros, Läden und Restaurants positionieren.
Mehr Bewusstsein bei Konsumenten?
Problematischer sind für Kind Möbeldiscounter, die jede Saison neue Produkte auf den Markt bringen und bestehende Linien nicht weiterentwickeln. «Das läuft dann so: Bekannte Marken stellen ihre Produkte auf den Möbelmessen vor, und zwei, drei Monate später sind die ersten Billigkopien auf dem Markt.»
Bei ihren Studierenden beobachtet Nicole Kind ein grosses Bewusstsein für qualitativ hochwertige und nachhaltige Möbel. Doch eine Anstellung bei einem Unternehmen zu finden, das solche Produkte herstelle, sei für junge Designer immer schwieriger. Sie wünscht sich darum ein stärkeres Bewusstsein bei den Konsumentinnen und Konsumenten: «Wenn Leute denken, ein Tisch darf nicht mehr als 200 Franken kosten, ist das ein Problem.»
Doch klar ist auch: Viel Geld für Möbel auszugeben, kann sich nicht jeder leisten. Im Erdgeschoss des Zürcher Brockenhauses gibt es darum eine Art «letztes Gefäss», einen Nebenraum, in dem beschädigte oder nicht verkaufte Möbel zu einem sehr tiefen Preis angeboten werden. Es ist die vorletzte Station im Leben eines Möbelstücks – vor dem Recyclinghof Hagenholz.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»