Schlechte Prognosen über die Einspeisung von Solarstrom haben vor einer Woche dazu geführt, dass viel zu wenig Strom im System war. Die Netzgesellschaft Swissgrid konnte für einen Ausgleich sorgen – zu horrenden Kosten von schätzungsweise 30 Millionen Franken.
Ein Stromsystem ist ein fragiles Gebilde: Angebot und Nachfrage müssen jederzeit genau im Gleichgewicht sein, sonst kommt es zu einer Störung, die im schlimmsten Fall zu einem Blackout führt. Die Kosten eines solchen Zusammenbruchs sind gigantisch, weshalb der Übertragungsnetzbetreiber alles unternimmt, um dies zu verhindern. In der Schweiz kam es am Montag vor einer Woche kurzzeitig zu einer starken Unterdeckung: Es fehlte die Leistung von einem Kraftwerk in der Grösse des AKW Leibstadt.
Bis zu 12 000 Euro je Megawattstunde
Gefragt ist in einer solchen Situation die nationale Netzgesellschaft Swissgrid. Sie muss den fehlenden Strom zukaufen, um ein Ungleichgewicht im Netz zu vermeiden. Dabei klopft sie zum Beispiel bei Speicherkraftwerken an, die kurzfristig Wasser turbinieren können, was für diese sehr lukrativ ist. Nicolas Schledermann, langjähriger Energiehändler bei der Firma Ompex, kann sich nicht daran erinnern, schon einmal ein ähnlich grosses Defizit beobachtet zu haben.
In der Spitze wurden laut Schledermann astronomische 12 000 Euro für eine Megawattstunde bezahlt – an der Strombörse kostet eine Megawattstunde an normalen Tagen um die 70 Euro. Ompex schätzt, dass es 20 bis 30 Millionen Franken gekostet hat, das Stromdefizit der Schweiz zu beseitigen. Das sind Kosten, die von den Stromversorgern letztlich auf die Konsumenten überwälzt werden.
Swissgrid beschwichtigt auf Anfrage: «Die Situation war nicht besorgniserregend», es sei genug Regelleistung im Schweizer System vorhanden gewesen. Man sei deshalb nicht auf die Unterstützung der Partner in den Nachbarländern angewiesen gewesen. Mit Regelleistung sind dabei Kapazitäten von Kraftwerken gemeint, die Swissgrid kurzfristig abrufen kann, um einen Ausgleich zu schaffen.
Wie kam nun die Schweiz in eine solch defizitäre Lage? Versorger und Produzenten müssen jeweils im Voraus der Swissgrid ihr Angebot und ihre Nachfrage mitteilen. Basierend auf diesen sogenannten Fahrplänen organisiert Swissgrid den Netzbetrieb. Kommt es kurzfristig zu einer Abweichung vom Plan, muss zusätzlich Strom beschafft oder bei Überschüssen im Netz müssen Kraftwerke heruntergefahren werden.
Am Montag, 22. April, war nun die Abweichung vom Fahrplan enorm. Was war passiert? Nach sehr warmen Apriltagen mit Temperaturen von 25 Grad kam es ab Monatsmitte zu einem Wintereinbruch. Am Montag schneite es bis in die Niederungen. Die Solarmodule waren schneebedeckt. Damit ging die Produktion von Solarstrom entgegen den Erwartungen auf praktisch null zurück. Mittlerweile beträgt die in der Schweiz installierte Leistung von Solarstrom über 6 Gigawatt. Es fällt somit ins Gewicht, wenn man sich hier grundlegend verschätzt.
Swissgrid schreibt denn auch, dass die Wetterprognosen vom Freitag davor einen Einfluss gehabt hätten. Die Stromlieferanten hätten sich auf diese abgestützt, doch je älter Prognosen seien, desto grösser sei die Gefahr von Abweichungen von den Fahrplänen. «Diese Situation wird sich mit dem vorgesehenen Zubau an neuen Erneuerbaren weiter akzentuieren.»
Das Problem sei dabei aber nicht der Solarstrom an sich, sondern die Prognosen und Daten, betont Swissgrid. Dieser Herausforderung könne die nationale Netzgesellschaft nicht alleine begegnen. «Alle Akteure sind gefordert, die Datenqualität und die Güte der Prognosen zu erhöhen.»
Auch der Ompex-Spezialist Schledermann bemängelt, dass die Solarproduktion heute per Daumenregel vorausgesagt werde. Solaranlagen sind mittlerweile auf vielen Schweizer Hausdächern installiert. Weil die Photovoltaik immer stärker ausgebaut wird, würden sich damit die Prognosefehler potenzieren. Und wenn dann die Prognose so danebenliegt wie am Montag, kommt es zu einer Feuerwehrübung und gehen die Beschaffungskosten für Regelenergie durch die Decke.
Reform des Preissystems gefordert
Welche Lehren kann man aus dem Vorfall ziehen? Es braucht, erstens, bessere Prognosen zur Solarenergie. Jeder Versorger muss wissen, wie viele Anlagen in seinem Gebiet stehen und wie viel diese wann ins Stromnetz einspeisen. Zweitens müssen die Übertragungsnetze schneller ausgebaut werden als bisher, damit der Solarstrom auch dorthin gelangt, wo er gebraucht wird. Hier dauere es zuweilen Jahrzehnte, bis die Bewilligungsverfahren durchlaufen seien, klagt Swissgrid.
Drittens sind bessere Märkte für Regelenergie gefragt. Hier geht es zum einen um die Teilnahme an den entsprechenden europäischen Plattformen. Die Schweiz ist wegen des fehlenden Stromabkommens mit der EU zum Teil davon ausgeschlossen. Für die Netzstabilität wäre dies ein grosser Vorteil und würde die Beschaffung von Regelenergie verbilligen.
Schledermann von Ompex regt zudem ein stärker am Markt orientiertes Preissystem an. Wer wie am Montag vor einer Woche zu wenig Energie hatte, musste horrende Preise bezahlen. Hatten andere Marktteilnehmer dagegen unerwartet zu viel Strom, erhielten sie nicht einmal den viel tieferen Börsenpreis vergütet, der sich am Vortag für die entsprechende Stunde gebildet hatte. Sie werden somit schlecht dafür belohnt, dass sie das Problem reduzieren.
Ein marktgerechteres System könnte die Wohlfahrtsverluste verringern, ist Schledermann überzeugt. Die Swissgrid hat vor einigen Jahren eine Reform angekündigt. Nun will man offenbar vorwärtsmachen. Derzeit liefen entsprechende Abklärungen, sagt Swissgrid. Klar ist nach dem jüngsten Vorfall, dass das Thema hoch oben auf die Traktandenliste gehört, damit das Problem trotz starkem Ausbau der Solarenergie beherrschbar bleibt.