Die Ärztin Nicole Ochsenbein hofft, dass sich der Geburtenrückgang aufhalten lässt. Sie hat selber vier Kinder und sagt: Man könne sich auch als Eltern verwirklichen.
Sieht man den Korb mit den Geburtsanzeigen, muss man sich keine Sorgen machen, dass die Menschheit bald ausstirbt. Der vollgestopfte Korb steht im Büro von Nicole Ochsenbein, der Direktorin der Geburtsklinik des Unispitals Zürich (USZ). Frischgebackene Eltern bedanken sich so bei ihr und drücken ihre Freude über den Familienzuwachs aus.
Neben dem Korb liegt ein Stapel Karten, auf denen die Patientinnen die Klinik bewerten können. Fünf Sterne zum Ankreuzen bei maximaler Zufriedenheit. Ein Stern, sollte die Betreuung im Wochenbett als mangelhaft empfunden worden sein.
Sie sage den jungen Müttern manchmal im Scherz, es handle sich um Bonuskarten, sagt Ochsenbein: Für jedes weitere Kind liessen sich noch mehr Punkte sammeln, für das zweite, dritte, vierte. Und beim fünften Kind gebe es eine Belohnung.
Es wäre schön, wenn eine solche Aktion die Leute zum Kindermachen ermutigen würde, aber Ochsenbein weiss, dass dies nicht ausreicht. In der Schweiz kommen noch 1,3 Kinder pro Frau zur Welt, in Deutschland sind es 1,28. Die Geburtenzahlen gehen weltweit zurück. Selbst Länder wie Mexiko und Thailand sind betroffen. Nötig ist eine Fertilitätsrate von 2,1 Kindern, um die Bevölkerung konstant zu halten.
Südkorea hält den Rekord, dort lag die Geburtenrate 2024 bei 0,75 Kindern pro Frau. In Seoul gibt es inzwischen mehr Läden für Hundeartikel als für Babykleider. Auch in Berlin fehlen vielen Kitas die Kinder. Wenn wieder die Geburtenabteilung eines Schweizer Spitals schliessen muss, dann auch, weil sie zu wenig ausgelastet ist.
Was die OECD kürzlich einen «beispiellosen Einbruch» nannte, widerspiegelt auch die Statistik des Unispitals. 2015 kamen hier rund 3000 Kinder zur Welt. 2023 waren es noch 2400 Entbindungen. 2024 gab es zwar wieder 30 Geburten mehr. Aber der Trend zeigt nach unten.
Sein Interesse hat sie gepusht
Ochsenbein, in blauer Chirurgenkleidung, setzt sich aufs Sofa in ihrem Büro mit Blick über die Stadt und sagt: «Es gibt nichts Besseres als Kinder.» Sie spricht aus eigener Erfahrung: Sie ist selbst vierfache Mutter. Seit drei Jahren leitet die 53-Jährige die Klinik für Geburtshilfe am USZ, ihre Kinder sind 22, 20, 17 und 15.
Dass man mit vier Kindern Karriere macht, löst Staunen aus heute, da schon ein Kind berufstätige Eltern an die Grenze der Belastbarkeit bringt. Wenn die Leute sie fragen, wie sie das geschafft habe, antwortet sie: «Ich hätte noch mehr Kinder gewollt. Mein Mann fand aber nach dem vierten: Es reicht.» Sie lacht.
Die Wahl des richtigen Partners oder der richtigen Partnerin ist für Ochsenbein entscheidend bei der Kinderfrage. Ihr Mann arbeitet als Ökonom, und ohne seine Unterstützung wäre sie nie dort, wo sie jetzt sei. Er reduzierte sein Pensum phasenweise. Denn Ochsenbein sollte ihre Laufbahn zielstrebig verfolgen können.
Ochsenbein sagt, ihr Mann habe sie gepusht, nicht zuletzt durch sein Interesse an ihrer Forschung, wozu die Therapie des vorzeitigen Blasensprungs gehört: «War ich müde und hätte ein Paper am liebsten auf dem Schreibtisch liegengelassen, wollte er über dieses diskutieren. Er brachte einen anderen Blickwinkel ein. Das war manchmal anstrengend, aber auch inspirierend.»
Sie teilten sich die Kinderbetreuung, dazu probierten sie Kita, Au-pair und Nanny aus. Eltern und Schwiegereltern halfen mit zu Randzeiten oder wenn ein Kind krank war, so dass Ochsenbein keinen Kongress auslassen musste und ohne zeitliche Einbusse jede Karrierestufe nehmen konnte. «Wir haben jongliert und es so hinbekommen.»
Kinder gelten als «unbezahlte Arbeit»
Jahrelang wurde die schwierige Vereinbarung von Familie und Beruf ins Feld geführt, linke Politikerinnen und Politiker fordern mehr staatliche Unterstützung für Eltern und die externe Kinderbetreuung. Auch Ochsenbein sieht darin einen zentralen Punkt, weshalb Paare zögerten, eine Familie zu gründen. Frauen schreckten davor zurück, die Hauptlast der Verantwortung zu tragen.
So erlebt sie es in der Schweiz. In Belgien, wo sie ein paar Jahre geforscht hat, damals bereits zweifache Mutter, sei es eine Selbstverständlichkeit, dass eine Frau arbeite. Das merkte sie an den Öffnungszeiten der Kitas: «Mir nützt eine Krippe nichts, wenn sie erst um 7 Uhr öffnet und meine Arbeitszeit um 6 Uhr beginnt. Oder wenn ich die Kinder bis 18 Uhr abholen muss, ich aber im Spital nicht wegkomme vor 19 Uhr.»
Nur: Auch in skandinavischen Ländern, wo inzwischen sogar Grosseltern ein Elterngeld erhalten, wenn sie ihre Enkel hüten, werden weniger Kinder geboren. Man hat heute so viele Möglichkeiten, Kinder sind dabei nur eine Option und beim zunehmenden Individualismus, der Freiheit und Autonomie hoch wertet, für viele nicht die attraktivste. Wenn in öffentlichen Debatten das Kinderhaben nur noch mit «unbezahlter Arbeit» und Stress gleichgesetzt wird, ist das bestimmt kein Anreiz.
Was würde Ochsenbein einem jungen Menschen sagen, der befürchtet, Kinder hinderten ihn an seiner Entfaltung? Man könne sich doch auch als Mutter oder Vater verwirklichen, sagt sie. Man lerne sich neu kennen mit Kindern, weil diese einen anders forderten. «Kinder halten sich an keine Terminplanung. Sie bringen vieles durcheinander, man muss anpassungsfähig werden. Das kann bereichernd sein.»
Das Wagnis Elternschaft eingehen
Ochsenbein spricht oft von Mut. Es brauche Mut, um sich auf das Abenteuer Kinder einzulassen. Wer sich nicht entscheiden kann, weil die Bedingungen später vielleicht doch besser sind als jetzt, dem sagt sie: «Es ist nie der passende Moment.» Denn vor lauter Hin und Her kann man auch den richtigen Zeitpunkt verpassen.
Die Reproduktionsmedizin macht es zwar möglich, dass man den Kinderwunsch aufschieben kann, etwa indem Frauen ihre Eizellen einfrieren lassen. Nach wie vor bleibt aber jedes zehnte Paar in der Schweiz ungewollt kinderlos.
Es ist ein Trugschluss, zu meinen, dass man mit 42 Jahren noch problemlos Mutter werden kann. Deshalb sagt Ochsenbein nicht nur: «Findet den richtigen Partner.» Sondern auch: «Bekommt möglichst früh Kinder.»
Nun hat nicht jede Frau dasselbe Glück wie sie. Viele warten trotz intensivem Dating auf die grosse Liebe. Ist der Kinderwunsch nicht dringend, verzichtet man halt auf die Erfahrung der Elternschaft – es gibt Schlimmeres. So sehen es viele Unentschiedene.
Überhaupt kommt die Beziehungsunlust junger Leute hinzu. Manche Soziologen halten den Trend des Single-Daseins für ausschlaggebend für die sinkende Geburtenrate. Gegen Ansprüche bei der Partnerwahl lässt sich nichts einwenden. Dennoch, so sagt es Ochsenbein: «Man muss den Mut haben, eine Beziehung einzugehen, für Kinder, ob man verheiratet ist oder nicht.»
Sie erlebe Frauen, die nie Kinder gewollt hätten, dann würden sie schwanger und wüchsen in die Mutterrolle hinein. Wäre es manchmal sogar wünschenswert, man würde hineingeschubst in die Erfahrung Kinderhaben? Die Planung des Lebens aus der Hand geben, weil man es sowieso nicht bis ins Detail planen kann?
«Man kann im Kinderhaben keinen Führerschein machen», sagt sie. Sie erlebe Frauen, die von einer Schwangerschaft «überrumpelt» würden und sich überlegten, abzutreiben, und sich dann doch anders entschieden. Und später froh darüber seien. Oder solche, die jede Vorsorgeuntersuchung vornehmen lassen wollten, um sicherzugehen, dass das Kind gesund sei. Dann erwachen die Muttergefühle, und plötzlich verzichten sie auf die zum Teil invasiven Methoden, weil diese den Fötus gefährden könnten.
Eltern werden sei vergleichbar mit Fahrradfahren lernen: «Man bekommt einen Schubs, es wackelt noch ein bisschen, und plötzlich merkt man, dass es geht.»
Die Angst vor dem Gebären
Bei der Suche nach Gründen für die Unlust auf Kinder geben Feministinnen weiterhin dem Patriarchat die Schuld. Männern, die ihre schwangeren Frauen schlecht behandeln würden. Aber auch empathielosen Ärzten und groben Hebammen, die bei den Gebärenden ein potenzielles Trauma auslösten. So argumentierte kürzlich eine Kolumnistin der «Wiener Zeitung».
Der Geburtsvorgang könne traumatisch erlebt werden, sagt Ochsenbein: «Eine Geburt ist ein Marathon, die Gebärenden kommen an ihre Grenzen. Wir tun alles, um eine dramatische Geburt zu vermeiden.» Angst vor dem Ereignis, so hofft sie, sollte niemanden daran hindern, schwanger zu werden.
Man gebäre ja nicht mehr wie im 18. Jahrhundert, fügt sie an, deshalb sei dies kein Argument. «Die Schmerzen können wir durch die moderne Medizin lindern.» Nicht zu vergessen: Viele Frauen erlebten das Gebären als etwas Grosses, Gewaltiges, aber eben auch Schönes.
Staatliche Geburtsgeschenke bleiben wirkungslos
Regierungen überall auf der Welt versuchen heute Paare mit Geburtsprämien und einer Erhöhung des Elterngeldes, mit Steuersenkungen für Familien oder einer Medaille ab dem fünften Kind zum Kinderbekommen zu ermuntern. Auf die Reproduktionsfreudigkeit wirkt sich das aber kaum aus, wie Länder wie Japan zeigen. Selbst Wohnraum für Familien ist hier stark subventioniert, und trotzdem werden nur 1,15 Kinder pro Frau geboren. Regierungen beeinflussen nur bedingt, ob man sich für Kinder entscheidet. Das sagen Demografen.
Ochsenbein würde dem zustimmen. Wegweisender war für sie ihre Doktormutter: Die Medizinprofessorin im deutschen Freiburg hatte fünf Kinder. Auch sie möchte diese Vorbildfunktion für ihre Assistenzärztinnen haben. «Wenn ihr Kinder wollt, dann wartet nicht, bis ihr den Facharztabschluss habt und mit der Ausbildung fertig seid», vermittelt sie den jungen Frauen.
Eröffnet ihr eine Mitarbeiterin, dass sie schwanger ist, ist ihr erster Gedanke nicht: «Mist, jetzt fällt schon wieder eine aus, wie lässt sich diese ersetzen?» Sondern sie freue sich. «Denn wenn ich mich nicht freue und Verständnis habe, wer dann?»
Am Schluss sei alles eine Frage der Organisation, auch als Arbeitgeber. Mutterschaft bedeutet zwar, dass eine Ärztin danach meistens ihr Pensum reduzieren will. Aber auch dann überwiegt das Positive für Ochsenbein. «Die Erfahrung einer eigenen Schwangerschaft und eigener Kinder ist wertvoll in der Geburtshilfe.»
Was bedeutete eine Welt ohne Kinder? Sie denkt nicht lange nach und sagt: «Eine Welt ohne Lachen.» Dann muss sie los zum Studentenunterricht. Kinder sind die Zukunft. Hier rechnet man damit.