Auch Männer werden auf den Langstrecken immer schneller – aber Frauen stossen in neue Dimensionen vor. Wissenschafter sind sich sicher: Läuferinnen profitieren besonders stark von neuartigen Carbonschuhen.
Die Moderatoren im amerikanischen Fernsehen kreischten vor Begeisterung, als Ruth Chepngetich im Oktober beim Chicago-Marathon über die Ziellinie stürmte. Während die Kenyanerin einige Meter zurückjoggte, um fahnenschwenkend Ovationen entgegenzunehmen, kamen ihr respektable männliche Profis entgegen, die sich noch im Rennen befanden. Sie erlebten eine denkwürdige Demütigung.
2:09:56 Stunden über 42,195 Kilometer: Chepngetich gelang in Chicago eine Leistung für die Geschichtsbücher. Bis 2019 lag der Frauen-Weltrekord noch bei 2:15:25 Stunden, die Zeit von Paula Radcliffe wirkte phasenweise unantastbar. Und jetzt war Chepngetich mehr als fünf Minuten schneller.
Sofort schlug die Stunde der Zyniker. Ein solcher Quantensprung sei nur mit Doping erklärbar, lautete ihr Urteil. Rasch kursierten unterstützende Argumente. Chepngetichs Manager, Federico Rosa, betreute vor ihr zwei andere Läuferinnen, die des EPO-Konsums überführt wurden. Kenyas Leichtathletik hat generell ein gravierendes Betrugsproblem: Derzeit hat die Athletics Integrity Unit 120 Athletinnen und Athleten aus dem ostafrikanischen Land gesperrt.
Zudem lief Chepngetich in Chicago zu schnell los, mit einem absurd anmutenden Schnitt von drei Minuten pro Kilometer. Nach bisher geltenden Annahmen hätte sie auf der zweiten Hälfte einbrechen müssen.
Marathonprofis können härter und länger trainieren
Aber die einstigen ungeschriebenen Gesetze gelten nicht mehr. Chepngetichs Leistung ist keineswegs ein einmaliger Ausreisser nach oben, sondern vielmehr die konsequente Fortsetzung einer Entwicklung, die 2016 begonnen hat. Seit die weltbesten Läuferinnen und Läufer in Schuhen unterwegs sind, in deren Mittelsohlen carbonfaserverstärkte Kunststoffplatten eingebaut wurden, ist nichts mehr wie vorher.
Die steifen Platten sorgen kombiniert mit weichem Zwischensohlenschaum für einen Federeffekt: Sie geben den Athletinnen und Athleten Energie zurück, die früher verpuffte. Man schnellt nach vorne, statt die Zehen abrollen und über die Muskulatur beschleunigen zu müssen.
Wer bei jedem Schritt drei oder vier Prozent weniger Energie benötigt, rennt augenblicklich schneller. Noch wichtiger ist für Profis aber wohl ein längerfristiger Effekt. Weil Muskulatur und Gelenke weniger ermüden, können Läuferinnen und Läufer intensive Intervalle in kürzeren Abständen absolvieren. Auch die Verletzungsgefahr sinkt. Zusammengefasst heisst das: Carbonschuhe machen möglich, dass Marathon-Asse härter und länger trainieren als je zuvor.
Physiologische Unterschiede begünstigen Frauen
Mehrere physiologische Unterschiede sprechen dafür, dass Frauen von den Innovationen noch stärker profitieren als Männer. Eine Gruppe von Sportwissenschaftern um Joel Mason von der Uni Leipzig hat sie in einer Studie zusammengetragen.
Frauen haben in der Regel eine höhere Schrittfrequenz. Der Federeffekt der Schuhe kommt somit bei ihnen häufiger zur Geltung. Elite-Läuferinnen sind im Schnitt leichter und haben eine geringere Körpergrösse als ihre männlichen Kollegen, auch ihre Schuhgrösse ist anders. All diese Faktoren dürften nach Einschätzung der Forscher die unterstützende Wirkung der Schuhe verstärken.
Die Entwicklung der Weltrekorde scheint die These zu bestätigen. Bei den Männern wurden die Bestmarken auf den klassischen Strassenlaufdistanzen seit 2016 um ein bis zwei Prozent verbessert. Auf den Bahndistanzen fiel der Leistungssprung bisher geringer aus – hier werden die neuen Schuhe erst seit 2019 verwendet.
Die Frauen sind im gleichen Zeitraum in neue Dimensionen vorgestossen. Ihre Zugewinne sind auf sämtlichen Strecken von den 1500 Metern bis zum Marathon exorbitant. Im Zehn-Kilometer-Strassenlauf ist der Weltrekord heute mehr als fünf Prozent besser als 2016, was die Aussage falsifiziert, Chepngetichs Auftritt im Marathon sei ein singuläres Phänomen. Die Kenyanerin war lediglich etwas mehr als vier Prozent schneller als Radcliffe, welche den Weltrekord vor Einführung der Carbonschuhe hielt.
Die Relationen zwischen den Geschlechtern verschieben sich. Früher waren die weltbesten Frauen auf Mittel- und Langstrecken zehn bis zwölf Prozent langsamer als die weltbesten Männer. Jetzt ist der Abstand auf acht bis zehn Prozent geschrumpft.
Chepngetich war in Chicago nur noch gut sieben Prozent langsamer als ein Jahr zuvor Kelvin Kiptum, der mittlerweile verstorbene männliche Weltrekordler. Dass der relative Unterschied zwischen den Geschlechtern im Marathon besonders klein ist, scheint plausibel: Hier profitieren Frauen besonders von der Präsenz männlicher Pacemaker, welche sie bis ins Ziel begleiten können.
All das beweist nicht, dass Chepngetich sauber ist. Aber ihre Zeit von Chicago ist keineswegs unerklärbar. Dass Frauen Marathons unter 2:10 Stunden rennen können, ist die neue, spektakuläre Realität des Laufsports.
Placebo-Effekt: Darum rennen jetzt auch mässig trainierte Hobbyathleten schneller
Die Ergebnislisten der grossen Stadtläufe scheinen keinen Zweifel zu lassen: Mehr Menschen als je zuvor schaffen den Marathon unter drei, vier oder fünf Stunden. Schuhe mit Carbonplatten in der Sohle, so der verbreitete Konsens, haben auch den Freizeit-Laufsport revolutioniert.
Allerdings werden Hobbyathleten nicht etwa schneller, weil sie ebenso wie die Profis vom Mechanismus der Schuhe profitieren würden. Sondern vielmehr, weil sie so sehr von deren Wirkung überzeugt sind, dass diese tatsächlich eintritt. Davon sind zumindest Wissenschafter der neuseeländischen University of Waikato überzeugt. Bereits eine offensive Bewerbung der Schuhe löse einen Placebo-Effekt aus, schreiben sie in einer Studie.
24 mässig trainierte Probandinnen absolvierten unter Anleitung der neuseeländischen Forscher mehrere Sechs-Minuten-Intervalle in einem vorgegebenen Tempo. Einmal rannten sie im Nike Vaporfly Next% 2, der den Frauen als «leistungssteigernder Superschuh» präsentiert wurde, ein anderes Mal in schwarz übermalten Schuhen ohne Carbonplatte.
Das Ergebnis: Die durchschnittliche Sauerstoffaufnahme während der Intervalle war mit beiden Schuhen sehr ähnlich. Die teuren Nike-Modelle reduzierten den Energieaufwand also im Vergleich zu den traditionellen Schuhen praktisch nicht.
Dennoch erklärten 87,5 Prozent der Läuferinnen anschliessend, den «Superschuh» zu bevorzugen. Sie stuften dessen Komfort auf einer 100-Punkte-Skala 14,6 Punkte höher ein. Er mache das Laufen freudvoller, weniger schwer, reduziere das Verletzungsrisiko. Und: Man fühle sich schneller.
Der Placebo-Effekt ist auch im Laufsport nicht zu vernachlässigen: Wem das Gehirn das Gefühl vermittelt, schneller zu rennen, der tut es längerfristig tatsächlich. Die vollmundigen Versprechen der Schuhhersteller werden somit zur selbsterfüllenden Prophezeiung.
Hobbyläufer sind gut beraten, nicht einfach kurzerhand den nächstbesten «Superschuh» zu kaufen. Eine Studie aus dem Jahr 2022 belegte erhebliche Unterschiede zwischen den seinerzeit führenden Modellen. Bei einem Test mit ambitionierten Hobbyläufern (5000-Meter-Bestzeit um die 16 Minuten) schnitten die Modelle von Nike und Asics deutlich besser ab als jene von Saucony und New Balance. Die Exemplare von Hoka und Brooks erreichten sogar nur das Niveau eines Vergleichsmodells ohne Carbonplatte.
Bei der nächsten Produktreihe ebneten sich die Unterschiede zwischen den Herstellern ein, insbesondere Adidas und die Schweizer Firma On haben aufgeholt. Eine weitere Erkenntnis aus der Studie von 2022 dürfte jedoch unverändert gelten: Der Effekt der einzelnen Modelle ist individuell sehr unterschiedlich. Konkret kann das bedeuten, dass ein Läufer mit dem Nike Vaporfly Next% 2 deutlich weniger Energie benötigt als mit dem Asics Metaspeed Sky, um ein bestimmtes Tempo zu erreichen. Bei einem anderen Läufer kann es jedoch genau umgekehrt sein.
Das Fazit lautet also: Wer den für sich perfekten Schuh finden möchte, kommt kaum noch um einen Vergleichstest unter professioneller Anleitung herum.