Noch immer sind die Abkommen unter Verschluss, doch nun gibt das Aussendepartement dem Druck nach. Die Parteien dürfen je zwei Auserwählte in den «Reading room» schicken.
Ein böses Gerücht machte in Bern kurz vor Weihnachten 2024 die Runde: Nach Abschluss der Verhandlungen mit der EU habe der Bundesrat über das ebenso wichtige wie umfangreiche Vertragspaket diskutiert, ohne die Abkommen selbst gesehen zu haben. Nur Ignazio Cassis, der als Aussenminister federführend ist, habe Zugang zu sämtlichen Verträgen gehabt. Seine Kolleginnen und Kollegen hingegen hätten sich mit Zusammenfassungen abspeisen lassen, hiess es.
Das klang zwar spannend, hatte aber mit der Realität nichts zu tun. Wie es in zwischenstaatlichen Verhandlungen in dieser Phase üblich ist, hatte (und hat noch heute) nur ein kleiner Kreis von Diplomaten und Fachleuten Zugang zu den jeweiligen Verträgen. Doch alle Mitglieder des Bundesrats konnten die Texte der neuen und aufdatierten bilateralen Abkommen in einem speziellen Lesezimmer – in Bern als «Reading Room» bekannt – einsehen.
In den nächsten Tagen und Wochen erhalten weitere Kreise Zugang in dieses ganz besondere Studierzimmer: Am Mittwoch hat das Aussendepartement (EDA) auf Anfrage bestätigt, dass je zwei Mitglieder der Bundeshausfraktionen aller Parteien die Abkommenstexte in der englischen Originalversion unter strengen Auflagen einsehen dürfen.
Gesamthaft bis zu 1500 Seiten Text
Aufgrund von Anfragen mehrerer Parteien sowie der Wichtigkeit des Dossiers habe sich das EDA zu diesem Schritt entschieden, erklärte dessen Sprecher Michael Steiner. Weil die Texte jedoch nach wie vor vertraulich seien, werde der Zugang pro Fraktion beschränkt. Die auserwählten Parlamentarier müssen zudem eine Vertraulichkeitserklärung unterzeichnen.
Danach können sie die mit der EU ausgehandelten Abkommenstexte in einem speziellen Zimmer im Bundeshaus in den Räumlichkeiten des Aussendepartements einsehen. Weiter ist im Arrangement des EDA, über das der «Blick» am Mittwoch zuerst berichtet hat, vorgesehen, dass keine Fotos oder Kopien gemacht werden dürfen. Offenkundig befürchtet das EDA, dass es zu Indiskretionen kommt.
Von der SVP werden der Fraktionspräsident Thomas Aeschi und die Nationalrätin und Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher die Verträge einsehen. Bei der FDP wird intern noch darüber diskutiert, wer teilnehmen wird. Die SP wird laut einer Sprecherin ebenfalls erst in den nächsten Tagen entscheiden, wen sie delegieren wird. Und auch bei der Mitte ist noch unklar, wer Einsicht nehmen wird. Entscheidend sei, dass parteiintern zu gegebener Zeit eine breite und konstruktive Diskussion stattfinden könne, sagte eine Sprecherin.
Die Geheimniskrämerei hat einen einfachen Grund. Bis anhin haben der Bundesrat und das EDA die Verträge noch nicht veröffentlicht, weil das sogenannte «legal scrubbing» – die rechtliche Überprüfung der ausgehandelten Abkommenstexte – weiterhin läuft. Sowohl in Bern als auch in Brüssel sind die involvierten Spezialisten damit beschäftigt, die Hunderte von Seiten durchzuarbeiten, um Fehler oder Missverständnisse zu vermeiden, die sich später nicht mehr korrigieren lassen.
Der Fahrplan des EDA sieht vor, dass auf Schweizer Seite der Chefunterhändler Patric Franzen und die jeweiligen Verhandlungsleiter die endgültigen Abkommenstexte im Mai paraphieren. Geplant ist, dass zu diesem Anlass auch der Chefunterhändler der EU nach Bern reist. Voraussichtlich im Juni will der Bundesrat schliesslich die Vernehmlassung eröffnen. Zu diesem Zeitpunkt sollen alle Vertragstexte mitsamt dem Kleingedruckten und sämtlichen Erläuterungen veröffentlicht werden. Die Rede ist von gesamthaft bis zu 1500 Seiten.
Die Schweiz und die EU haben die Verhandlungen im vergangenen Dezember für beendet erklärt. Damals hat der Bundesrat aber lediglich Faktenblätter zu den wichtigsten Fragen veröffentlicht, von den neuen Regeln rund um Rechtsübernahme und Streitbeilegung über die Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit bis zum Stromabkommen, dem Lohnschutz und dem internationalen Bahnverkehr.
Mehr Transparenz als beim Rahmenvertrag
Allerdings sind wichtige Eckwerte des geplanten Pakets schon lange öffentlich. Viele Grundsätze haben die Schweiz und die EU bereits vor den Verhandlungen in umfangreichen Sondierungen geklärt. Diese Leitlinien finden sich im sogenannten «Common Understanding», das beide Parteien im Dezember 2023 veröffentlicht haben. Im Vergleich zum gescheiterten Rahmenabkommen war der Bundesrat beim Neuanlauf von allem Anfang an bemüht, rasch so viel Transparenz wie möglich zu schaffen. Er wollte damit Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, die von angeblichen «Geheimverträgen» sprachen. Auch der jüngste Schritt, die selektive Öffnung des europapolitischen «Reading room», dient diesem Ziel.
Die Bundeshausfraktionen sind nicht die Einzigen, die Zugang zu den Verträgen erhalten. Auf Anfrage können auch die Mitglieder der Begleitgruppe, die der Bundesrat im Hinblick auf die Verhandlungen geschaffen hatte, die englischen Abkommenstexte einsehen. Dazu zählen unter anderem die Kantone, der Gewerbeverband, die Gewerkschaften sowie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse.
Das mag dazu beitragen, dass man sich bei Economiesuisse in der Lage sieht, ein höheres Tempo anzuschlagen: Entgegen der bisherigen Planung will der Verband sein Gesamturteil zu dem Paket nicht erst im September fällen, sondern bereits im Juli. Allerdings gelten für die Verbände und die Kantone dieselben Spielregeln wie für die Parteien: Der Zugang ist auf zwei Mitglieder pro Organisation beschränkt, und auch sie müssen vorläufig schweigen.