Der Machthaber der syrischen Übergangsregierung Ahmad al-Sharaa plant Wahlen erst in vier Jahren. Das bereitet vor allem den religiösen Minderheiten Sorgen.
Die Bevölkerung in Syrien ist sich bewusst, dass der gegenwärtige Augenblick, in dem die Hoffnung auf ein geeintes Land überwiegt, jeden Moment vorbei sein kann. Das Land – gerade erst von seinem brutalen Machthaber befreit – ist in einem fragilen Zustand. Vielleicht halten sie deshalb zusammen, vielleicht begegnen sich deshalb so viele Menschen in Syrien grösstenteils respektvoll.
«Wir gewöhnen uns Tag für Tag an die neue Situation. Ich bin optimistisch. Aber ich weiss auch, dass wir nicht allzu viel in den ersten zwei Monaten erwarten können. Es gibt viel zu tun, Syrien wird ein völlig neues Land.» Nagham ist Medizinstudentin, Christin und lebt in Damaskus. «Aber das ist die Sicht einer gewöhnlichen Frau, die nicht in die Politik involviert ist.»
Vor 47 Tagen wurde das Asad-Regime gestürzt. Jahrelang scheiterte die zerstrittene Opposition an der Machtübernahme. Zu viele Konflikte, zu viele Egoismen und Allianzen mit ausländischen Schutzmächten verhinderten den Erfolg. Doch die Rebellen aus Idlib, angeführt von Abu Muhammad al-Julani, der sich mittlerweile wieder Ahmad al-Sharaa nennt (sein ziviler Name), gelang es in wenigen Wochen, das Regime zu stürzen. Schneller, als es die Rebellen selbst erwarteten. In Damaskus angekommen, stehen sie vor einem Trümmerhaufen.
Ausgehöhlte Institutionen
Das Land ist bankrott, auch durch die Sanktionen des Westens. Es fehlt an Treibstoff, Getreide und Öl – eigentlich an allem. 90 Prozent der Menschen in Syrien leben in Armut, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz berichtet. Die Infrastruktur ist zu grossen Teilen zerstört, der Sicherheitsapparat zerschlagen, Polizei fehlt auf den Strassen. Das Asad-Regime hat die Institutionen praktisch hohl zurückgelassen – voller Korruption, ohne Regularien, ohne qualifizierte Fachkräfte, ohne Ausstattung.
Die Behörden in Syrien stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Die Übergangsregierung hat in einem ersten Schritt die Verfassung ausser Kraft gesetzt. Gesetze gibt es nicht, regiert wird mit Dekreten. Es ist eine Revolutionsregierung, deren Mitglieder letztlich anordnen können, was sie wollen. Zum Beispiel werden gerade alle bewaffneten Milizen im Land aufgelöst und dem Verteidigungsministerium unterstellt.
Wird es überhaupt Wahlen geben? Wird es auch Nichtmuslimen erlaubt sein, Staatspräsident zu werden, was bisher nicht möglich war? Soll es ein islamisches Staatswesen geben oder eine Demokratie? Dies ist die ganz entscheidende Frage: Will man überhaupt eine Demokratie installieren?
«Wegen all dieser komplexen und brisanten Fragen», so Syrien-Experte Daniel Gerlach, «will sich die Übergangsregierung Zeit kaufen.» Wahlen soll es in vier Jahren geben, das haben die neuen Machthaber in Aussicht gestellt. Auch mit einer Verfassung will man sich noch drei Jahre Zeit lassen. «Sharaa will jetzt erst mal die Regierung stabilisieren und nicht gleich in die politische Diskussion einsteigen», sagt Gerlach weiter. Die Islamisten, die überwiegend die Regierung bilden, seien zwar wahrscheinlich reformfähig, ein demokratisches System mit einer demokratischen Verfassung wäre für sie aber eigentlich unangemessen, für sie gälten die göttliche Offenbarung und die Scharia.
Sharaa muss viele Parteien besänftigen, viele unterschiedliche Erwartungshaltungen bedienen, im In- und im Ausland. Doch den Staatsaufbau kann der Anführer der Rebellengruppe HTS nicht aufschieben.
«Es fehlt die leitende Beamtenebene im Land, die zwischen politischen Entscheidungsträgern und der Verwaltung – die ihre Arbeit wieder aufgenommen hat – steht», so Gerlach, der vor wenigen Tagen aus Syrien zurückgekehrt ist. Es fehlen diejenigen, die mit den Verwaltungsträgern in Kontakt sind und die Politik umsetzen. Diejenigen, die im Moment in Syrien politische Entscheidungen träfen, seien ungefähr 15 bis 16 Personen, schätzt Gerlach.
Die Vertrauten von Sharaa
Vor allem liegt das Augenmerk in der Frage, welche Entscheidungen im Land getroffen werden, auf einer Person, dem HTS-Führer Ahmad al-Sharaa. Im Moment scheint die Mehrheit der syrischen Bevölkerung Sharaas politische Rolle anzuerkennen, vielleicht noch aus Freude und Dankbarkeit über die Befreiung.
Zum einen sind die Menschen sehr müde vom Krieg, zum anderen tritt Ahmad al-Sharaa betont versöhnlich auf. Er spricht von einem Land für alle, spricht in einer Sprache, die alle im Land verstehen. Sharaa selbst weiss, er braucht alle, auch die syrischen Arbeitskräfte, die noch mit Argusaugen auf die Entwicklung in ihrer Heimat schauen. Trotz der weitverbreiteten Sympathie, die das Volk ihm entgegenbringt, lebt Sharaa gefährlich. Er hat wenig Sicherheitspersonal um sich, aber viele Feinde aus dem alten Regime, Konkurrenten. Sollte ihm etwas zustossen, könnte der Transformationsprozess in Syrien auf einen Schlag beendet sein.
Obwohl der Rebellenführer mit dem Versprechen angetreten ist, das gesamte syrische Volk zu vertreten, sitzt in der Interimsregierung weder ein Alawit noch ein Schiit, noch ein Druse oder ein Christ. «Zurzeit geht es darum, das Land zusammenzuhalten. Sharaa vertraut auf diejenigen, auf die er sich jahrelang verlassen konnte», sagt Gerlach.
Sharaas Bart ist inzwischen kürzer geworden, er trägt jetzt Anzug und Krawatte, sieht immer mehr aus wie ein Typ aus der Startup-Szene, immer weniger wie der Islamist, auf den die USA ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt haben – und aus der Zeit, als er noch Al-Kaida-Kämpfer war.
«Seine islamistischen Gefolgsleute haben Erwartungen und werden ihm, auch wenn er im Moment grosse Autorität geniesst, nicht für immer bedingungslos folgen», sagt Gerlach. Gerade solche Gesten, wie eine Krawatte anzuziehen, bedeuteten für viele aus dem islamistischen Spektrum eine Anbiederung an den Westen. «Bei manchen von diesen Islamisten gilt das sogar als ‹Kufr›, arabisch für Unglaube.»
Im Moment sind Sharaas wichtigste Stütze die Bürgerinnen und Bürger. Sie fordern ein inklusives Modell für alle Syrer, ungeachtet der Religion und Ethnie. «Jetzt ist der Moment der syrischen Zivilgesellschaft», sagt der syrische Arzt und Aktivist Zaidoun al-Zoabi, der seit Jahren eine medizinische Hilfsorganisation leitet und sich für den Frieden einsetzt.
Im Dezember 2012 wurde er von der syrischen Geheimpolizei inhaftiert und nach mehreren Wochen wieder freigelassen. 2013 floh er, nachdem das Regime gedroht hatte, ihn zu töten. Während der Kämpfe in Aleppo im Oktober 2015 brach er während eines Interviews mit der CNN zusammen: «Wir sind hilflos und hoffnungslos», sagte er: «Bitte tut etwas, um diesen blutigen Krieg zu beenden. Ich bin so müde.»
Heute ist Zoabi voller Zuversicht. Gerade ist er aus Syrien abgereist, wo er mehrere Wochen war und mit Hunderten von Menschen gesprochen hat. «Jetzt nimmt sich die Zivilgesellschaft den Raum. Die Syrer führen Dialoge, verhandeln, organisieren Aktivitäten und engagieren sich ehrenamtlich.» Die Zivilgesellschaft habe in den letzten Wochen eine unglaubliche Reife gezeigt, sagt Zoabi.
Prekäre Situation der Alawiten
Daniel Gerlach glaubt, dass es noch nie eine Zeit gegeben habe, in der die Zivilgesellschaft eine wichtigere Rolle gespielt habe und spielen musste. «Vor Ort sind die staatlichen Institutionen schwach, es gibt keine Ordnungskräfte, was bedeutet, die Gesellschaft hält gerade alles zusammen.»
Es waren nicht staatliche Ordnungskräfte, sondern ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die dafür gesorgt haben, dass es in der Nacht zum 8. Dezember kein grosses Blutvergiessen gegeben hat. Sie haben auf die gesamte Bevölkerung eingewirkt. So erzählen es die Menschen in Syrien Daniel Gerlach, der seit Jahren Kontakte zur syrischen Zivilgesellschaft pflegt und die Opposition begleitete. Er unterstützte den Dialog zwischen Syrern im Regimegebiet und solchen im Oppositionsgebiet. Daraus ist die bedeutendste europäisch unterstützte gesellschaftliche Initiative zu Syrien entstanden: der Rat der syrischen Charta. «Er führt den Dialog mit den Vertretern der gesellschaftlichen Gruppen, damit es zwischen den Konfessionen nicht explodiert.»
Zoabi sieht momentan besonders die Alawiten gefährdet: «Die Situation der Christen, wie ich sie in Aleppo und Homs gesehen habe, ist stabil. Ebenso in Damaskus. Die drusische Gemeinschaft befindet sich ebenfalls in einer guten Position, genauso die Ismailiten. Das Hauptproblem sind die Alawiten. Meine Sorge ist, dass jetzt mit den Alawiten abgerechnet wird.»
Die Alawiten stehen besonders im Fokus der Sunniten. Sie, zu denen weniger als zehn Prozent der Syrer gehören, werden mit dem ehemaligen Herrscher assoziiert. Auch Asads Familie gehörte zu den Alawiten. Doch auch die Alawiten litten unter der Herrschaft, wurden unterdrückt, wenn sie aufbegehrten. Nur sieht das die syrische Gesellschaft nicht.
Auch Gerlach spricht von der Gefahr: «Die Angst vor Rachemorden, also konfessionell motivierten Angriffen auf – meistens – junge Männer, ist gross.» Gerade in Tartus ist Gerlach aufgefallen, dass ab neun Uhr abends die Strassen leer sind. «Ich kannte ein Leben dort, das die ganze Nacht überdauerte.»
Dies hänge damit zusammen, dass in der Stadt zu 90 Prozent Alawiten wohnen, die nun grosse Angst hätten vor Übergriffen von Milizionären, die im Windschatten der neuen Regierung agieren. «Wenn das so weitergeht mit diesen Morden und Übergriffen, dann werden die Alawiten, obwohl sie überhaupt keine Lust haben auf Krieg, zu den Waffen greifen, und dann werden die Alawiten zurückschlagen», sagt Gerlach.
Natalie Amiri ist eine deutsch-iranische Journalistin. Sie moderiert den «Weltspiegel» im ARD. Von 2015 bis 2020 leitete sie das ARD-Studio Teheran.