Einst hat ein Crowdfunding die Karriere von Franjo von Allmen gerettet. Im vergangenen Winter ist er über alte Regeln einfach hinweggerast. Doch wird ihm seine wilde Seite irgendwann zum Verhängnis?
Eigentlich heisst es über die schnellen Pisten im Ski-Weltcup ja, dass man sich an sie nur herantasten könne, Schritt für Schritt müsse das geschehen, Abfahrt, Super-G, eine Fahrt und noch eine. Val Gardena, Wengen, Kitzbühel. Weite Sprünge, steile Hänge, enge Kurven. Eine Fahrt und noch eine, und mit der Zeit geht es immer schneller, rückt die Weltspitze näher, wo sich all die erfahrenen Haudegen tummeln. Aber nur mit der Zeit.
Doch im vergangenen Winter tauchte ein junger Mann im Weltcup auf, der sich um all das foutierte. Franjo von Allmen hiess dieser junge Mann, 22 Jahre alt erst, aufgewachsen in Boltigen, Berner Oberland.
Beim Super-G in Val Gardena, seinem dritten Rennen im Weltcup, fuhr von Allmen unter die ersten zehn. Marco Odermatt hatte das einst im 21. und Beat Feuz im 29. Anlauf geschafft.
Beim Super-G in Garmisch-Partenkirchen, seinem 12. Weltcup-Rennen, fuhr von Allmen auf das Podest. Odermatt brauchte dafür 35 und Beat Feuz 36 Rennen.
Bei der Abfahrt in Kvitfjell, seiner neunten im Weltcup, fuhr von Allmen in die Top 5. Früher als Odermatt, Aleksander Kilde, auch früher als Feuz, Peter Fill, Kjetil Jansrud und Aksel Lund Svindal. Sie waren in den letzten Jahren die besten Abfahrer der Welt.
Der Onkel sah ihn schon früh im Weltcup
Von Allmens Debütsaison war wie ein Film im Spulmodus, Stufe sehr schnell, oben am Berg, das sowieso, aber auch unten im Tal. Im Februar sass von Allmen im «Sportpanorama» des Schweizer Fernsehens. Im Mai wurde der berühmte österreichische Brausekonzern sein Hauptsponsor. Im Juli nahm ihn ein Luxusuhrenhersteller unter Vertrag. Es sind die höchsten Weihen für einen Skifahrer aus der Schweiz.
Nun beginnt in Beaver Creek, Colorado, die zweite Weltcup-Saison von Franjo von Allmen, eine Abfahrt am Freitag, ein Super-G am Samstag. In der ersten ist er über alte Regeln einfach hinweggerast. Und jetzt?
An einem Tag im Oktober sitzt von Allmen im Hotel Sonne in St. Moritz, die Hände mächtig, die Schultern breit, auf dem Kopf eine Dächlikappe, verkehrtherum. Er redet darüber, warum das alles so schnell gegangen ist bei ihm. Aber so genau weiss er das auch nicht. Er überlegt ein wenig, und irgendwann landet er bei seiner Lockerheit. So sei er eben, immer schon gewesen, locker, unbekümmert. Und ja, «Stand jetzt» auch heute noch, in der zweiten Saison, in der die Erwartungen natürlich höher seien. Aber abschliessend, sagt er noch, werde man das dann erst im Starthaus sehen. Und lacht.
Im Berner Simmental stehen Bauernhäuser auf den Wiesen, die Fassaden sonnenverbrannt, und über manches Haus stülpt sich ein mächtiges Dach. Auf der Hauptstrasse talaufwärts, gleich hinter Boltigen, 1287 Einwohner, nimmt ein dunkler Kombi Fahrt auf. Biegt irgendwann rechts ab. Saust jetzt die spitzen Kehren des Jaunpasses hinauf, der das Simmental mit dem Greyerzerland verbindet.
Hinter dem Steuer sitzt Emanuel Kammer und sagt, er habe es schon früh gesagt: «Der Franjo schafft es in den Weltcup, ganz sicher.» Kammer hat in seinem Leben viele junge Skifahrer gesehen, er war lange Juniorentrainer im Skiklub Boltigen. Eines Tages bringt seine Schwester ihren dreijährigen Sohn Franjo mit ins Training.
Und dieser Franjo, erzählt Kammer, der stolze Onkel, sei einfach auf die Ski gestanden, und die Ski seien gefahren, schnell seien sie gefahren. Und bald immer schneller, weil der Bursche, der da auf den Ski stand, das im Gespür hatte: wie es schnell vorwärtsgeht. «So etwas habe ich noch nie gesehen», sagt Kammer.
Im dunklen Kombi sitzt auch Christian Teuscher, er ist der Präsident des Skiklubs Boltigen, und so sitzen sie da, Kammer links, am Steuer, und Teuscher rechts, auf dem Beifahrersitz. Bald sprudeln die Geschichten nur so aus den beiden heraus.
Hier, an diesem Bord, hat Franjo mit den anderen aus dem Skiklub eine Schanze gebaut, und dann sind sie über die Passstrasse gesprungen.
Dort, an der Bushaltestelle, hat ihm die Mutter die Ski hingestellt, damit er nach der Schule direkt auf den Berg kann, weil das eben so ist in Boltigen: Wenn es geht, geht man Ski fahren.
Da hinten ist er durchgefahren, wenn er am Abend nach Hause gefahren ist, vom Skigebiet auf dem Jaunpass bis direkt vor die Haustür.
Ein Zwaspel
Von Allmens Elternhaus steht direkt an der Passstrasse, seine Vorfahren haben hier einst einen Bauernhof geführt. Steil fallen die Wiesen vor dem Haus ab ins Tal, und einmal, als er noch ein Knirps war, trieb Franjo es dort mit den Geschwistern beim Bobfahren besonders wild: ein Sprung in den harten Schnee, ein gebrochenes Bein, ein Gips. Doch bald habe man gar nicht mehr gemerkt, dass sein Neffe einen Gips trage, erzählt Kammer. Er sei halt schon immer ein «Zwaspel» gewesen, dieser Franjo.
Ein Zwaspel, soll heissen: ein lebhafter, ein zappeliger Kerl. Einer, bei dem immer etwas gehen muss.
Ja, so sei das schon, sagt von Allmen. Die Berge sind ihm wichtig, klar, aber hinaufwandern? Lieber hinaufrennen. Oder, noch lieber, hinunterfahren, mit den Ski oder dem Mountainbike. Und wenn er einmal ein wenig Zeit für sich braucht, dann nimmt er kein Buch zur Hand, sondern «schlüsselt» an einem Oldtimer. Oder «chnuschtet» sonst an etwas herum, weil der gelernte Zimmermann dann am besten den eigenen Gedanken nachhängen kann.
Entweder, sagt von Allmen, sei man ein Mensch, der das Adrenalin suche. Oder man suche es eben nicht. «Und ich gehöre schon zu denen, die es suchen», sagt er. Im Sommer tut er das – wie andere Skifahrer – gelegentlich auf dem Motocross.
Mit dem Adrenalin und auch mit dem Risiko ist es ja so: Der Grat ist schmal. Und von Allmen ist keiner, der vor ihm zurückschreckt. Er sucht ihn, balanciert auf ihm. «Das Limit suchen, herausfinden, was geht und was nicht: Das finde ich interessant», sagt er, und das gilt auf der Piste und daneben. Im August treibt er es dabei etwas zu wild; er verletzt sich in der Freizeit am Knie, muss wochenlang pausieren, verpasst deshalb das Trainingslager in Südamerika.
Den Grat suchen, auf ihm balancieren, das macht von Allmen auch im letzten Winter, als er den Skizirkus so schnell erobert. Am Ende belegt er in der Abfahrts- den 17. und in der Super-G-Wertung den 14. Platz. Ein anderer 22-Jähriger ist in beiden Klassementen nicht in Sicht. Die meisten Konkurrenten sind viel älter.
Von Allmen hält mit ihnen mit, und er schafft das auch, weil er ist, wie er ist: unbekümmert. Mutig. Am Limit. Und manchmal auch darüber. In Bormio stürzt von Allmen im Abfahrtstraining. Hinterher sagt der Schweizer Abfahrtstrainer Reto Nydegger, von Allmen sei ihm manchmal etwas zu wild unterwegs.
Der Trainer wünscht sich mehr Stabilität
In Wengen wird von Allmen in der ersten Abfahrt gestoppt, weil der Teamkollege Marco Kohler schwer gestürzt ist. Von Allmen muss an Kohler vorbeifahren, wird an den Start zurückgeflogen – und wird trotz allem 14. Bei seinem Debüt in Kitzbühel, auf der schwierigsten Abfahrt im Weltcup, ist er mit der drittschnellsten Zwischenzeit unterwegs, fährt mit viel Risiko in die Traverse vor dem Ziel – und lässt dann ein Tor aus, weil er einsieht, dass es sonst zu eng wird.
Es sind Schlüsselmomente der Saison. Sie zeigen den wilden von Allmen, den coolen von Allmen und den cleveren von Allmen. Der Abfahrtstrainer Nydegger sagt, es sei für den 23-Jährigen im letzten Winter alles sehr schnell gegangen. Er schiebt dann noch nach, dass es «sicher grad schnell genug» gewesen sei.
Für Nydegger ist von Allmen ein Rohdiamant, aber er betont, dass es schon noch einiges zu schleifen gebe. Und da fehlen die Trainingstage in Südamerika, die von Allmen im Sommer wegen seiner Verletzung verpasste. «Franjo steht vor einer Saison der Bestätigung, man sollte jetzt nicht gleich wieder einen Podestplatz von ihm erwarten», sagt Nydegger. Der Boltiger müsse stabiler werden. Aber der Trainer will das Talent auch nicht zu sehr in eine Struktur drängen, es nicht zu sehr einhegen. «Sonst laufe ich Gefahr, sein Gefühl für das Tempo zu ersticken», sagt Nydegger.
Da ist es wieder, das Gefühl fürs Tempo: Wer über von Allmen redet, wer ihn eine Weile begleitet hat, der kommt unweigerlich darauf zu sprechen. Das gilt für Emanuel Kammer, den Onkel. Für Nydegger. Auch für Fred Labaune, der von Allmen am Regionalen Leistungszentrum in Gstaad betreut hat, drei Jahre lang.
Von Allmen, sagt Fred Labaune, sei keiner mit Lehrbuchtechnik, das verbinde ihn mit Marco Odermatt. Aber dieses Tempogefühl, diesen Instinkt, «die Ski immer talwärts» zu stellen, wie es Emanuel Kammer sagt: Das kann man nicht lernen. Das hat man. Oder nicht. Wie von Allmen. Wie Odermatt. Wie Beat Feuz, mit dem von Allmen gerne verglichen wird, auch in Österreich, wo man den rasanten Aufstieg des nächsten jungen Schweizers durchaus besorgt zur Kenntnis genommen hat.
Mit 17 verliert er den Vater
Über den Feuz-Vergleich freut sich von Allmen natürlich, er lacht und sagt, das sei ja schon ein gutes Zeichen. Aber er sagt dann auch, dass er Franjo sei. Und der hat eine eigene Geschichte, in der es auch schwierige Zeiten gab. Zum Beispiel in den Jugendjahren, in denen er zwar schnell ist, aber das Ziel nicht so oft sieht.
Oder später, mit 17 Jahren, als er den Vater früh verliert und seine Welt aus den Fugen gerät. Von Allmen stellt danach alles infrage – auch, ob er sich weiterhin Skipisten hinunterstürzen will. Er beschliesst, dass er will, doch das Geld ist knapp bei den von Allmens. Und das Skifahren teuer, gerade in diesem Alter.
Schliesslich lanciert von Allmen ein Crowdfunding, fast 16 000 Franken kommen zusammen, das Geld kommt aus Boltigen, aus dem ganzen Simmental. «Zu sehen, dass die Leute an mich glauben, das hat schon etwas mit mir gemacht», sagt von Allmen, und bald darauf startet er durch. An den Junioren-WM 2022 gewinnt er dreimal Silber.
Wer heute durch das Simmental fährt, sieht da und dort eine schwarze Fahne an einer Hauswand hängen, auf der drei weisse Buchstaben prangen: FvA, Franjo von Allmen. Es gibt einen Fanklub, der sich Franatiker nennt und rund 520 Mitglieder zählt; einen Metzger, der von Allmen eine Wurst gewidmet hat; eine Bar, die einen Shot anbietet, den der Rennfahrer höchstpersönlich kreiert hat.
Es ist in Boltigen und Umgebung wie überall, wo der Skisport den Leuten etwas bedeutet: Wenn aus dem eigenen Dorf, aus dem eigenen Tal plötzlich einer auftaucht, der ein Star werden könnte, kriegen sie sich dort vor Freude kaum mehr ein. Denn sie wissen, dass das ein seltenes Glück ist.
Im Simmental dunkelt der Novembertag schon ein. Der Kombi ist am höchsten Punkt des Jaunpasses angekommen. In der Nähe ziehen sich zwei Skilifte über jene grünen Wiesen, auf denen Franjo von Allmen einst das Skifahren erlernt hat. Auf einem Hügel steht eine Schneelanze für die künstliche Beschneiung, es ist die erste im ganzen Skigebiet.
Früher, erzählt Emanuel Kammer, habe es immer viel Schnee gegeben, drei, vier Monate am Stück seien die Lifte gelaufen. Aber im letzten Winter sei das nur noch während 65 Tagen möglich gewesen. Und bis vor die Haustüre, so wie einst Franjo von Allmen, können die Jungen aus dem Dorf heute nur noch ganz selten fahren.
Boltigen geht der Schnee aus, so, wie er im Emmental weniger geworden ist, wo Beat Feuz einst seine ersten Kurven fuhr. Oder in Nidwalden, dem Kanton von Marco Odermatt. Und überhaupt in den tieferen und mittleren Lagen in der ganzen Schweiz. Gehen ihr bald auch die Skihelden aus?