In Südengland entsteht der erste Neubau eines Kernkraftwerks auf der Insel. Gebaut wird es vom französischen staatlichen Energiekonzern Électricité de France. Diesem geht dafür das Geld aus, weshalb er nun in London Alarm schlägt.
Als feststand, dass der französische Energiekonzern Électricité de France (EdF) unweit der südenglischen Stadt Bristol ein neues Kernkraftwerk bauen würde, versprach der damalige CEO Vincent de Rivaz, dass schon 2017 die ersten Weihnachtstruthähne in Grossbritannien mit Energie aus dem Druckwasserreaktor gebraten würden. Das war im Jahr 2007.
Nun teilte das Unternehmen mit, dass das Atomkraftwerk Hinkley Point C bestenfalls 2029 fertig wird. Im schlimmsten Fall verzögert sich der Bau bis ins Jahr 2031. Ausserdem soll der Bau statt der ursprünglich veranschlagten 18 Milliarden Pfund wohl bis zu 35 Milliarden Pfund kosten.
Die Ursachen für die Kostenexplosion und die Bauverzögerung sind laut der Firma vielfältig: «Wie bei anderen Infrastrukturprojekten mussten wir feststellen, dass der Bau langsamer voranschritt als erhofft. Zusätzlich zur Inflation und zum Mangel an Arbeitskräften und Material hatten wir mit Störungen durch Covid und den Brexit zu kämpfen», schrieb die Unternehmensführung gemäss einer internen E-Mail, über die britische Medien am Donnerstag berichteten. Auch das Verlegen von elektrischen Kabeln und Rohren für die technische Infrastruktur ist laut der Firma komplizierter als gedacht.
Das AKW soll dereinst rund sechs Millionen britische Haushalte mit Elektrizität versorgen und etwa sieben Prozent des Strombedarfs des Landes abdecken. Der französische Energiekonzern EdF betreibt alle aktiven britischen Kernkraftwerke und ist Mehrheitseigner bei Hinkley Point.
Chinesen und Briten wollen nicht mehr zahlen
Der Bau des AKW Hinkley verzögert sich nicht zum ersten Mal. Auch vor Mehrkosten hatte EdF bereits im vergangenen Jahr gewarnt. Dass der Konzern nun aber Alarm schlägt, liegt daran, dass die Mehrkosten ein Milliardenloch ins Budget für Hinkley reissen.
Die Situation verschärft sich zusätzlich, weil der chinesische Partner in dem Projekt, der Energiekonzern China General Nuclear (CGN), Ende Dezember angekündigt hatte, dass er keine weiteren Gelder mehr für Hinkley Point sprechen werde.
CGN hält eine Minderheitsbeteiligung am AKW Hinkley Point C und war auch am geplanten Schwesterreaktor Sizewell in Suffolk beteiligt, das ebenfalls von Électricité de France gebaut wird. 2022 entschied die britische Regierung allerdings, die Chinesen vom Projekt auszuschliessen, und übernahm deren Anteil an Sizewell.
Angesichts der Finanzierungslücke in Hinkley Point fordert die französische Regierung nun von Grossbritannien, sich an dem Reaktor zu beteiligen. Doch für die Briten kommt das offenbar nicht infrage, wie die «Financial Times» vergangene Woche berichtete. Anders als Sizewell sei Hinkley kein staatliches Projekt, allfällige Mehrkosten müsse EdF dort tragen, hiess es dazu in London.
Gleichzeitig stockten die Briten allerdings das Kapital für den Sizewell-Reaktor auf, bei dem Grossbritannien Mehrheitseigner ist. Für Frankreich hängen die Schwesterreaktoren aber zusammen, weshalb die Regierung in Paris eine Gesamtlösung fordert. Gespräche dazu laufen bereits seit Monaten.
Die Ziele sind hochgesteckt
Das AKW in Hinkley Point C ist nicht die einzige Baustelle, die dem staatlichen französischen Energiekonzern zu schaffen macht. Zwar soll das neue Kernkraftwerk Flamanville in der heimischen Normandie Mitte 2024 ans Netz gehen, doch auch dort kämpft die Firma mit einer Verspätung von zwölf Jahren und Kosten, die viermal höher sind als ursprünglich veranschlagt. Dazu kommen längst überfällige Investitionen in den bestehenden Kraftwerkpark in Frankreich.
Trotzdem kündigte EdF vor kurzem an, im nächsten Jahrzehnt mindestens einen Reaktor pro Jahr bauen zu wollen. Auch die französische Regierung macht Druck. Frankreich will in den kommenden Jahren zusätzlich zu den bereits geplanten sechs Atomkraftwerken acht weitere AKW bauen, um Kohlekraftwerke zu ersetzen.
Auch in Grossbritannien zeigt man sich von der Kostenexplosion beim Bau der AKW unbeeindruckt. Vielmehr will die Regierung die Atomenergie weiter ausbauen, um CO2-Emissionen einzusparen und den Anteil fossiler Brennstoffe am Energiemix zu reduzieren. So kündigte der konservative Regierungschef Rishi Sunak Mitte Januar den «grössten Ausbau der Kernkraftkapazitäten seit siebzig Jahren» in dem Land an.