Die zweitgrösste Volkswirtschaft der Euro-Zone hat sich hemmungslos verschuldet. Ein Sparprogramm der Regierung soll Abhilfe schaffen. Doch die politische Ausgangslage und die Stimmung im Land sprechen nicht dafür, dass Paris so schnell das Ruder herumreissen kann.
Einen Haushalt für Frankreich zu verabschieden – das sei, wie den Himalaja ohne Fäustlinge zu überqueren. Mit dieser Formel beschrieb der ehemalige französische Premierminister Bernard Cazeneuve kürzlich die Torturen des derzeitigen Regierungschefs und Hobby-Bergsteigers Michel Barnier.
Mit 3228,4 Milliarden Euro weist das Land den höchsten Schuldenstand in seiner Geschichte auf. Die Summe entspricht einer Schuldenquote von 112 Prozent des Bruttoinlandprodukts. In der Euro-Zone haben nur Italien und Griechenland im Verhältnis zu ihren Volkswirtschaften höhere Schulden. Eine Schmach für die Grande Nation.
Steuererhöhungen für Reiche
Bisher gehörte es zur politischen Tradition, ja fast zum guten Ton in Frankreich, mehr Geld auszugeben, als durch Einnahmen zu generieren, um so die Wirtschaft anzukurbeln. Seit einem halben Jahrhundert kamen damit alle Regierungen in Paris von links bis rechts durch.
So ging es jüngst auch Präsident Emmanuel Macron, der vor seinem ersten Amtsantritt 2017 Haushaltsdisziplin versprach und später von den Gelbwesten überrumpelt wurde. In der Folge versprach Macron, den Haushalt mit Wachstum zu sanieren. Als die Schulden dennoch weiter stiegen, begann die Regierung nicht etwa plötzlich damit, zu sparen.
Heute, nach sieben Jahren unter Macron, ist offensichtlich, dass sich Frankreichs finanzielle Lage dramatisch verschlechtert hat. So wird das Haushaltsdefizit für das laufende Jahr auf 173,8 Milliarden Euro beziehungsweise 6,1 Prozent der Wirtschaftsleistung geschätzt. Nach den Regeln ihres gemeinsamen Stabilitätspaktes dürfen EU-Staaten höchstens 3 Prozent neue Schulden machen.
Der neue Premierminister Barnier war also gefragt, rasch nach seinem Amtsantritt im September einen Sparhaushalt für 2025 vorzulegen, um die Brüsseler Kommission und die Finanzmärkte zu beruhigen. Die EU, die lange wegschaute, wenn Paris die Haushaltsregeln brach, hatte im Sommer ein Defizitverfahren gegen Frankreich (und sechs weitere Mitgliedstaaten) eingeleitet.
Mitte Oktober präsentierte Barnier in der Assemblée nationale seine Pläne. Sie sehen Einsparungen und Steuererhöhungen im Umfang von 60 Milliarden Euro vor – wobei 40 Milliarden Euro durch Ausgabenkürzungen und 20 Milliarden Euro durch neue Abgaben erreicht werden sollen.
Konkret will die Regierung mehrere tausend Stellen im öffentlichen Dienst streichen, die Indexierung der Renten aufschieben, bei der Entwicklungshilfe und bei Subventionen im Umweltbereich kürzen. Auf der Einnahmeseite sollen Spitzenverdiener und grosse Unternehmen mit einem Umsatz von über 1 Milliarde Euro (noch) stärker besteuert werden. Auch sollen die Steuern auf Flugtickets und Privatjets erhöht werden, und es soll eine Übergewinnsteuer für Energiekonzerne geben.
Barniers erklärtes Ziel: das Haushaltsdefizit im nächsten Jahr auf 5 Prozent zu senken und bis zum Jahr 2029 sogar den EU-Schwellenwert von 3 Prozent zu erreichen. Aber ist das wirklich realistisch?
Einsatz der «Dicken Bertha»?
Schon jetzt ist offensichtlich, dass die Sparpläne auf Widerstand im Parlament und in der Bevölkerung stossen. Sowohl das linke wie das extrem rechte Lager haben die Massnahmen scharf kritisiert. Für die linke Opposition sind die geplanten Kürzungen im öffentlichen Dienst und bei den Sozialleistungen ein rotes Tuch. Und auch das Rassemblement national (RN) hält den Haushaltsentwurf für sozial unausgewogen. Die Partei von Marine Le Pen versteht sich als Anwältin der «kleinen Leute».
Barniers Mitte-rechts-Koalition aus Anhängern des Präsidentenlagers und Konservativen verfügt über keine Mehrheit im Parlament. In der extrem polarisierten Nationalversammlung muss der Premierminister für jedes Gesetzesvorhaben wahlweise auf die Linken oder die Lepenisten zugehen. Täte sich die Opposition zusammen – was angesichts der fundamentalen politischen Differenzen unwahrscheinlich ist –, könnte sie die Regierung jederzeit stürzen.
Die grösste Ablehnung erfährt Barnier von den Linken, die ihn bereits mit einem gescheiterten Misstrauensvotum zu Fall bringen wollten. Das RN wiederum liegt in Lauerstellung und duldet den konservativen Premierminister nur, solange sich der Partei keine besseren Optionen bieten.
Barnier kann allerdings auf den umstrittenen Verfassungsartikel 49.3 zurückgreifen, der es der Regierung ermöglicht, Gesetze ohne parlamentarische Abstimmung zu verabschieden. Kritiker bezeichnen das Instrument als «Dicke Bertha», dies in Anspielung auf die schweren deutschen Kanonen aus dem Ersten Weltkrieg. Kommt 49.3 zum Einsatz, ist die Empörung in der Öffentlichkeit immer gross.
Barnier soll sich von seinem Kabinett grünes Licht für den Einsatz der «Dicken Bertha» geholt haben. Die ohnehin angespannte Stimmung im Land dürfte das allerdings weiter verschärfen.
Neue Proteste programmiert
In der Bevölkerung sind in jedem Fall neue Proteste programmiert. Schon die jüngste Rentenreform war auf massiven Widerstand gestossen. Laut Umfragen lehnen zwei Drittel der Franzosen die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre weiterhin ab. Das Linksbündnis Nouveau Front populaire hatte sich sogar die Rückkehr zur Rente mit 60 in ihr Programm geschrieben und damit bei den Wahlen im Juli reüssiert.
Wahrscheinlich ist, dass die Regierung einige der geplanten Kürzungen abschwächen wird. Die Gratwanderung besteht darin, zumindest die Neuverschuldung zu begrenzen, mit den Steuererhöhungen gegenüber den Unternehmen nicht das Wirtschaftswachstum zu gefährden und zugleich soziale Spannungen zu vermeiden. Das gleicht in der Tat einer Himalaja-Überquerung ohne Handschuhe.
Ob das reicht, um den Verfall der französischen Kreditwürdigkeit zu bremsen, ist eine andere Frage. Ende Oktober senkte die globale Rating-Agentur Moody’s Frankreichs Bonitätsausblick von «stabil» auf «negativ» herab. Die schlechten Bonitätsnoten machen es für die Regierung derweil noch teurer, neue Kredite aufzunehmen und so den bestehenden Schuldenberg zu refinanzieren.
Diesen Dienstag wird das Parlament über einen neuen Haushaltsentwurf abstimmen, der durch zahlreiche Änderungsanträge der Linken stark überarbeitet wurde. Er hat nur noch wenig mit dem ursprünglichen Sparprogramm der Barnier-Koalition gemein und wird deswegen von der Regierung und ihren Unterstützern in der Assemblée nationale als «steuerliches Chaos» abgelehnt. Sollte der Entwurf abgelehnt werden, würde er nicht in der überarbeiteten Form, sondern in seiner ursprünglichen Fassung direkt an den Senat weitergeleitet.
Nimmt der Senat den Entwurf an, geht dieser zur finalen Abstimmung zurück zur Nationalversammlung – wo ihn die Opposition wohl ablehnen wird und die Regierung dann vom Verfassungsartikel 49.3 Gebrauch machen könnte.