Die Suche nach den Gründen illustriert das Problem der modernen Medizin mit dem Körper der Frau. Eine Spurensuche im Universitätsspital Basel.
Thierry Girard öffnet die grosse Chromstahltüre zum Anästhesiesaal im Westflügel des Universitätsspitals Basel und zieht ein Bett auf Rollen samt liegender Patientin hinein. «Guten Morgen!», sagt Girard, Chefarzt und stellvertretender Leiter der Anästhesiologe, «haben Sie auch ein Geburtsdatum?»
Die Patientin lacht, dann lacht auch Girard – ein Moment der Heiterkeit in einem Raum, in dem sich sonst alles nach Stress anfühlt: Piepsgeräusche von unzähligen Maschinen, grelles Licht von der Decke, vier Menschen auf engstem Raum, die mit schnellen Bewegungen die Anästhesie für die Patientin vorbereiten und dabei trotz der kalten Raumtemperatur so wirken, als würden sie schwitzen.
Girard legt der Patientin eine gewärmte Decke auf Beine und Füsse, dann will er ihr ein Pflaster mit Elektroden auf die Stirn kleben, muss vorher aber einen Teil ihres Make-ups entfernen. Sie hat sich schön gemacht für ihre Operation, eine Unterbindung.
Sobald das Pflaster angebracht ist, erscheint auf einem der Monitore eine neue Kurve: Hirnströme. Daran ist ablesbar, wie aktiv das Frontalhirn der Patientin ist, also wie stark bei Bewusstsein sie gerade ist. Im Moment liegt der Wert noch bei 94 von 100, «hellwach», sagt Girard zufrieden.
Anästhesie beginnt innerhalb von Sekunden
Dann geht alles schnell. Ein Pfleger sticht in eine Vene im linken Handrücken der Patientin und hängt eine Infusion an die Leitung. Er sagt ein paar kurze Worte zu ihr, dann drückt er eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase und öffnet die Leitungen zu den Medikamenten.
Innerhalb von Sekunden schliesst die Patientin die Augen, die Kurve, die die Hirnströme misst, fällt von etwa 90 auf etwa 40. «Und schon ist sie weg», sagt Girard.
Die Anästhesieärztin prüft, ob die Patientin tatsächlich nicht mehr atmet. Jetzt fliessen neben dem Narkotikum auch ein Schmerzmittel und ein Muskelrelaxans durch die Infusion, eine Substanz, die dafür sorgt, dass die Muskeln der Patientin komplett erschlaffen, damit sie sich später, unterm Messer, auch ja nicht bewegt.
Der Pfleger stellt sich neben den Kopf der Patientin und sagt: «Ich werde Sie jetzt intubieren.» Er spricht laut und langsam, so als könnte sie ihn trotz Narkose noch irgendwie hören, und führt der Frau erst ein V-förmiges Instrument in den Rachen, das er kurz danach mit einem Plastikrohr ersetzt. Darüber wird er sie in den kommenden zwei Stunden Operation mit Sauerstoff versorgen.
Bewusstsein während der Narkose kann Todesangst auslösen
Dass die Frau vom ganzen Trubel um sie herum etwas mitbekommt, ist höchst unwahrscheinlich. Von tausend Menschen, die sich einer Anästhesie unterzögen, erinnerten sich einer oder zwei an Dinge, die während der Operation gesagt würden, heisst es in Fachkreisen. Awareness nennt man das im Jargon, Bewusstheit, wo eigentlich keine sein sollte.
Die Betroffenen haben zwar keine Schmerzen, dafür sind die Anästhesiemittel heute zu gut. Aber wer wie bei einer Anästhesie ein Muskelrelaxans erhält und seine eigene Operation bewusst miterlebt, müsse wohl Todesängste aushalten, sagt Girard, schliesslich könne man nicht selbständig atmen und fühle sich eingesperrt im eigenen Körper. Deshalb leiden rund 70 Prozent aller Personen, die während einer Anästhesie Bewusstsein erleben, später an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Nun zeigte eine Studie jüngst, dass Frauen wesentlich häufiger von Awareness betroffen sind als Männer. Eine Metastudie dazu hat über 60 Studien aus 20 Ländern zusammengefasst, in denen Daten von über 53 000 Patientinnen und 45 000 Patienten analysiert wurden. Daraus ergibt sich, dass Frauen ein um 38 Prozent erhöhtes Risiko für Awareness haben im Vergleich zu Männern. Anders ausgedrückt: Auf 10 Männer, die Awareness erleben, kommen fast 14 Frauen.
Awareness wird nach der Operation nicht abgefragt
Zurück im Westflügel des Universitätsspitals Basel. Chefarzt Girard geht nicht davon aus, dass die Patientin das Personal hören kann, das jetzt um sie herumwuselt, zwei Ärztinnen, die die Wirkung der Medikamente anhand von Puls, Blutdruck, Atmung und Hirnströmen überwachen, und ein Pfleger, der die Patientin auf ein aufblasbares Kissen bettet, damit sie während der Operation möglichst bequem liegt.
«Dass wir trotzdem mit der Patientin sprechen, ist eher Anstand», sagt Girard, «da liegt ja nicht irgendwas, sondern ein Mensch.» Obwohl Girards Team jährlich Tausende von Anästhesien durchführt, hat er es noch nie erlebt, dass ihm eine Patientin oder ein Patient von Awareness berichtet hat. Allerdings, sagt er, werde dies nach den Operationen nicht standardmässig abgefragt. Ganz ausschliessen kann er es also nicht.
Allerdings hat Girard gute Argumente dafür, dass seine Patientinnen und Patienten den Stress ihrer Operation nicht mitbekommen. Er zeigt auf eine Medikamentenspritze mit milchiger Flüssigkeit: Propofol. Das Narkosemittel, mit dem in Basel laut Schätzung Girards rund 80 Prozent aller Anästhesien geschehen, wird der Patientin in diesem Operationssaal kontinuierlich in die Vene gespritzt. In anderen Ländern wird Propofol nur für den Start der Narkose verwendet, danach wird auf ein Anästhesiegas umgestellt. Bei der Umstellung von Propofol auf Gas kann es zu einem Abfall der Anästhesietiefe kommen. Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit für eine Awareness.
Ein Algorithmus bestimmt die Menge des Anästhetikums
Bei der Patientin im Westflügel wird die kontinuierliche Abgabe von Propofol sogar dann aufrechterhalten, als sie vom Anästhesiesaal in das Operationszimmer geschoben wird. In welcher Menge Propofol verabreicht wird, bestimmt am Universitätsspital Basel ein Algorithmus. Er berechnet, wie viel Mittel die Patientin braucht, um eine vom Anästhesieteam eingestellte Zielkonzentration zu erreichen, wobei ihr Gewicht und ihr Alter in die Berechnung einfliessen. Eine kleine Pumpe, die durch den Algorithmus bedient wird, schüttet das Medikament automatisch in der richtigen Menge aus.
Das Geschlecht ist dem System zwar ebenfalls bekannt. Aber eine Nachfrage beim Entwickler des Algorithmus ergibt, dass zwischen Patientinnen und Patienten keine Unterschiede bei der Dosierung gemacht werden.
Die Patientin im Westflügel schläft trotzdem stabil. Das zeigen ihre Hirnströme, die vom Pflaster auf der Stirn abgegriffen werden. Diese Überprüfung der Anästhesietiefe sei in Basel Standard, sagt Girard, aber an vielen anderen Orten werde darauf verzichtet, aus Kostengründen.
Trotz den Kosten stehe die Methode in Basel nicht zur Debatte, sagt Girard. «Wir brauchen die Kurve mit den Hirnströmen als Sicherheit dafür, dass die Patientin wirklich tief schläft. Darauf zu verzichten, wäre am falschen Ort gespart.»
In den 1980er Jahren wurden die meisten Medikamente nicht an Frauen getestet
Dann verlässt er den Saal, tauscht seinen sterilen OP-Anzug gegen ein weisses Arzt-T-Shirt und nimmt Platz in seinem Büro. Dort kommt er nochmals auf die Metastudie zu sprechen: «Sie zeigt einmal mehr, dass es nicht ok ist, Medikamente nur an jungen Männern zu testen.»
Propofol, das Narkosemittel, ist schon seit den 1980er Jahren im Umlauf. Damals war es normal, dass neue Substanzen kaum an Frauen getestet wurden. Die Schweizer Zulassungsstelle Swissmedic lässt im Austausch mit der NZZ durchschimmern, dass sie nicht wisse, ob Frauen für die Zulassungsstudien von Propofol rekrutiert worden seien. Auch eine Recherche in den Publikationen der Zulassungsstelle in den USA ergibt keinerlei Hinweise darauf, dass Frauen bei der Entwicklung des Medikaments berücksichtigt worden wären. Jedenfalls wurden die Daten in den Zulassungsstudien nie nach weiblich und männlich aufgeschlüsselt.
Frauen wurden lange kaum in Medikamententests aufgenommen, weil Forschende ungeborenes Leben schützen wollten. Weil bei Frauen nie zu hundert Prozent ausgeschlossen werden konnte, dass sie schwanger waren, wurden sie kaum für klinische Studien rekrutiert. «Eben falsch», sagt Girard, «man schützt Schwangere ja nicht, wenn man nichts über sie weiss.»
Andererseits wurden Frauen nicht für Medikamententests rekrutiert, weil befürchtet wurde, ihr Monatszyklus würde die Interpretation der Studienresultate verzerren. Das Resultat: Noch heute weiss man bei den wenigsten Medikamenten, ob ihre Wirkung von Zyklushormonen beeinflusst wird.
Verändern Geschlechtshormone die Wirkung des Anästhetikums?
Das kritisieren auch die Autorinnen der Metastudie. Sie werfen die Frage auf, ob Geschlechtshormone wie Progesteron einen Einfluss auf die Wirkung von Anästhesiemedikamenten haben könnten. Dies suggerieren jedenfalls Tierversuche, die allerdings nicht mit Propofol, sondern mit einem Narkotikum in Gasform gemacht wurden, schreiben die Autorinnen. Weitere Studien mit Mäusen lassen vermuten, dass auch Testosteron einen Einfluss haben könnte.
Dann wird Girard nachdenklich: «Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass viele männliche Ärzte ihren Patientinnen von sich aus weniger Medikamente verabreichen als ihren Patienten», sagt er. Dies wohl aus Angst, Frauen hätten sonst weniger Kreislaufstabilität, schliesslich verlangsamt Propofol den Herzschlag und senkt den Blutdruck. Eine Überdosierung kann also tödlich sein. Nun zeige die Studie aber, wie wichtig es sei, dass Frauen die empfohlene Dosis erhielten, sagt Girard, «mindestens das».
Für die Patientin im Westflügel geht der Morgen gut zu Ende. Nach der rund zweistündigen Operation öffnet sie schon wenige Minuten nach dem Abbruch der Propofol-Infusion die Augen und wird in den Aufwachraum gefahren. Nun ist sie sterilisiert, so wie sie es sich gewünscht hat. Ob sie während der Anästhesie eine Awareness erlebt habe, wird sie nicht explizit gefragt.
Zum Glück ist dies sowohl bei Frauen wie auch bei Männern äusserst selten.
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