Nach dem Massaker der Hamas nahmen die antisemitischen Vorfälle in der Schweiz zu. Viele Juden fragen sich, wie lange sie hier noch sicher sind.
Es war ein kühler Novemberabend, als Unbekannte sich dem jüdischen Friedhof in Basel näherten. Vor der Aussenmauer machten sie halt. Die Nacht war dunkel, die Strasse leer. Niemand war zugegen, als die Spraydosen geschüttelt wurden. Das «Free Palestine» platzierten sie gut sichtbar, gleich neben dem Friedhofseingang. Ellenlange, schwarze Buchstaben.
Wie ein Brandmal prangten diese am nächsten Morgen auf der brüchigen Friedhofsmauer. Bilder des Graffito zirkulierten bald in den sozialen Netzwerken. So erfuhr ich davon. Was ich verspürte, war Trauer, Wut. Aber auch Ohnmacht. Ich fragte mich, was dieser Übergriff für die Zukunft jüdischer Menschen in der Schweiz bedeute. Diese herrischen Buchstaben, auf dieser Friedhofsmauer. Hinter ihr liegen meine Grosseltern begraben.
Wenn ich an meine Grosseltern denke, dann denke ich an ihr Wohnzimmer. Darin standen mintgrüne Möbel und Bücherregale, die bis zur Decke ragten. Erinnerungen an meine Grossmutter habe ich keine. Die letzten Jahre ihres Lebens hatte sie mit einer schweren Krankheit gerungen. Als sie ihr erlag, war ich kaum zwei Jahre alt. Mein Grossvater hingegen lebte bis ins hohe Alter. Er war ein tüchtiger Mann. Geboren 1917 als Sohn eines polnischen Immigranten, wuchs er in Basel in einfachen Verhältnissen auf. Als erstes Mitglied seiner Familie besuchte er das Gymnasium, später die Universität. Bald machte er sich in Basel als Anwalt einen Namen.
Mein Grossvater arbeitete viel. Pausen gönnte er sich nur selten. Dann verbrachte er jeweils Zeit mit der Familie. Seine Grosszügigkeit war einzigartig, sein Wissen ebenso. Wann immer ich ihn in Basel besuchte, fand ich ihn im Wohnzimmersessel wieder, ein dickes Buch in seinem Schoss. Er sprach stets langsam, wählte seine Worte mit Bedacht. Über seine Gefühle sprach er jedoch kaum. Ich schätzte und bewunderte meinen Grossvater. Gleichzeitig fühlte ich mich ihm nicht gewachsen. Allzu oft drückte ich mich vor Gesprächen mit ihm.
Ein Schlachtruf auf der Mauer
Als mein Grossvater starb, lebte ich vorübergehend im Ausland. Erst nach seinem Tod wurde mir bewusst, dass ich es versäumt hatte, mich ernsthaft mit ihm und seinem Leben auseinanderzusetzen. Auf seiner Beerdigung weinte ich viel. Ein paar Wochen später stand ich mit meinem Vater im leeren Wohnzimmer in Basel. Wir räumten Bücher in Kartonkisten. Dabei fiel uns ein Ordner in die Hände. Darin waren vergilbte Briefe abgelegt. In den Briefen bemühte sich mein Grossvater um Einreisepapiere für die USA. Das Jahr war 1942.
Der jüdische Friedhof in Basel liegt an der Theodor-Herzl-Strasse. Benannt ist sie nach dem Begründer des politischen Zionismus. Unter dem Eindruck des Judenhasses im Europa des 19. Jahrhunderts hatte Herzl es sich zur Aufgabe gemacht, Jüdinnen und Juden aus aller Welt eine nationale Heimstätte zu sichern. Dort sollten sie in Frieden leben können, frei von Ausgrenzung und Verfolgung. Sein Ziel war klar: Zion – zu Deutsch Jerusalem.
Herzl kämpfte unablässig für die Rückkehr des jüdischen Volkes in seine historische Heimat. Der erste Zionistenkongress fand dann auch unter seinem Vorsitz statt – nicht wie geplant in München, sondern in Basel. Die Veranstaltung wurde zum Meilenstein. In Basel erhielt die zionistische Bewegung entscheidenden Aufwind. Auch wenn es noch Jahrzehnte dauern würde: Der Weg zur Staatsgründung Israels war geebnet.
Die Unbekannten, die sich am Friedhof in Basel vergangen haben, scheinen mit jüdischer Geschichte vertraut gewesen zu sein. Das Strassenschild, das die Friedhofsmauer ziert, haben sie mit schwarzer Farbe übermalt, Herzls Namen durchgestrichen. Darunter haben sie ein weiteres Graffito angebracht. Es lautet: «Zionismus = Terror». Eine Gleichung, die es in sich hat. Sie soll wohl implizieren, dass die Bestrebung nach einer jüdischen Heimstätte eine Form von Terrorismus sei. Dem israelischen Staat wird so kurzerhand die Legitimität entzogen. Er verkommt zum rechtswidrigen Konstrukt.
Das erste Graffito, also «Free Palestine», kann in diesem Kontext denn auch bloss als Schlachtruf verstanden werden: als Aufforderung zur Tilgung des jüdischen Staates. Eines Staates, in dem Menschen leben. Wo es Buchhandlungen gibt und Tattoo-Studios. Wo Kinder auf Gehsteigen herumrennen und Hunde auf grünen Wiesen.
Wie dieser Prozess der Auslöschung ablaufen würde, bleibt dabei offen. Vielleicht würde man ja bloss die Grenzen niederreissen. Millionen von jüdischen Israeli wären dann ihrem Schicksal überlassen. Oder man möchte sie gleich aus ihren Häusern zerren, sie in Busse packen und Güterwaggons. Sie zurückverfrachten in die Diaspora, aus der sie vor Generationen geflohen waren, weil sie in Deutschland und Polen nicht sicher leben konnten, in Äthiopien und Libyen, in Jemen, dem Irak.
Meine Grosseltern hatten Glück
Als in Europa der Krieg ausbrach, waren meine Grosseltern bereits ein Paar. 1940 heirateten sie in der Basler Synagoge, kurz danach rückte mein Grossvater beim Luftschutz ein. Als meine Grosseltern 1941 ihr erstes Kind erwarteten, war die Schweiz von den Achsenmächten umzingelt. Niemand wusste, ob und wann die deutschen Truppen einfallen würden. Und was die Folgen für die jüdische Bevölkerung wären. Auch hierzulande gab es Menschen, die mit den Nationalsozialisten sympathisierten.
Meine Grosseltern betätigten sich während der Kriegsjahre in der jüdischen Gemeinde. Es gab Flüchtlingsfamilien zu versorgen. Dann die Schliessung der Grenzen 1942 – verfolgte Jüdinnen und Juden kamen keine mehr ins Land. Verzweifelte Botschaften erreichten Basel von Verwandten aus Frankreich und Polen. Meine Grosseltern überlegten sich die Flucht ins Ausland. Die Gründung des israelischen Staates lag noch in weiter Ferne – einen sicheren Hafen für jüdische Menschen gab es nicht. Die USA schienen jedoch sicher genug. Weshalb mein Grossvater sich um Einreisepapiere bemühte.
Doch seine Bestrebungen verliefen im Sand. Er war ein junger Anwalt, seine Kundschaft noch bescheiden – die finanziellen Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel erfüllte er nicht. So verharrten meine Grosseltern vor Ort. Die Koffer blieben dennoch gepackt. Im Fall der Fälle galt es zu fliehen, egal, wohin. Die Nachrichten von den Verwandten aus Frankreich und Polen wurden spärlicher. Dann die Briefe aus den Lagern. Von einigen sollten es die letzten bleiben.
Meine Grosseltern hatten Glück gehabt: Die Schweiz war eine Insel der Sicherheit geblieben. Die Jahre nach 1945 waren eine Zeit der Sprachlosigkeit. Erst jetzt wurde das ganze Ausmass der Judenvernichtung für meine Grosseltern greifbar. Nach der Staatsgründung Israels 1948 erwogen sie die Emigration. Doch zu sehr hingen sie an ihrem Leben in der Schweiz. Meine Grosseltern entschieden sich, in Basel zu bleiben. Der Judenhass schien seinen Zenit überschritten zu haben – europaweit rückte er in den Hintergrund. Mein Grossvater kniete sich in die Arbeit, meine Grossmutter widmete sich dem Haushalt. Sie zogen eine Familie gross, bekamen Enkelkinder. Es war eine Zeit des Neubeginns, der Hoffnung.
Die Angst wächst
Hoffnung kommt, und sie geht. Der 7. Oktober des letzten Jahres war ein Wendepunkt. Nicht nur aufgrund des mörderischen Massakers, das im Süden Israels begangen wurde. Die Welle des Hasses, die in den Folgewochen über Jüdinnen und Juden weltweit hereinbrach – auch sie sucht ihresgleichen. Von versuchten Brandanschlägen auf Synagogen über physische Attacken zu Einschüchterungen und Schmierereien. In keiner Zeit nach der Shoah haben Jüdinnen und Juden in der Diaspora mehr um ihre Sicherheit gefürchtet. Auch hier in der Schweiz.
Die Welle ist mittlerweile wieder abgeebbt. Die Welt dreht sich weiter. Was jüdischen Menschen bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack. Sowie eine Frage. Nämlich, wie lange man hier noch sicher ist. Die Frage hallt in den Gängen der Gemeindehäuser nach – Familien brüten darüber beim Abendbrot, junge Menschen in den Cafés. So wie bereits Generationen vor ihnen über ihr gebrütet haben. Derweil drücken sich Menschenmassen durch die Strassen, skandieren «Free Palestine» in die kalte Winterluft. Und Jüdinnen und Juden tauschen nervöse Blicke aus, rätseln, was wohl damit gemeint sei.
Dabei ist vielen jüdischen Menschen bewusst, dass die Gründung Israels auch Wunden hinterlassen hat. Bis heute sind sie nicht verheilt. Palästinenserinnen und Palästinenser haben ein gutes Leben verdient, in einem eigenen Staat. Wie jüdische Menschen auch. Denn als staatenloses Volk waren Jüdinnen und Juden stets auf die Gunst anderer angewiesen. Schutz erhielten sie oft nur bedingt und wenn, dann auf Raten. Bis sie doch wieder an den Pranger gestellt wurden, wenn nicht gleich zu Tode geprügelt. Oder man ihre Synagogen schändete. Oder ihre Friedhöfe.
Der Koffer war stets bereit
Es dauerte eine Weile, bis ich mich dazu überwinden konnte. Doch neulich besuchte ich den Friedhof in Basel. Als ich in die Theodor-Herzl-Strasse einbog, blieb ich stehen. Von den Graffiti war auf der Aussenmauer nichts mehr zu sehen. Auch das Strassenschild war ausgewechselt worden. Unter dem wolkenverhangenen Himmel sah die Mauer bleich und brüchig aus. Alles war beim Alten, irgendwie.
Als ich mich durch das Tor auf den verregneten Vorhof drückte, kam mir ein Text meines Grossvaters in den Sinn, der mir vor einiger Zeit in die Hände gefallen war. Darin zeichnete er Gedanken zu seinem 85. Geburtstag auf. Als er auf die Heimat zu sprechen kam, drückte er seine Wertschätzung aus. Seine Ahnen hatten in Polen noch in grosser Armut gelebt. In der Schweiz konnte er ein erfolgreiches Geschäft aufbauen, ein erfülltes Leben führen.
Und dennoch: Mein Grossvater hatte die Lektion der Geschichte gelernt. Er war sich bewusst, dass die Situation für Jüdinnen und Juden sich jederzeit verschlechtern könnte. Egal, wie etabliert sie waren. Egal, wo sie lebten. Die Koffer in seinem Kopf blieben zeitlebens gepackt.
Vor dem Grab meiner Grosseltern machte ich halt. Ich hielt einige Minuten inne. Dann hob ich einen Kiesel auf und platzierte ihn auf dem Grabstein. Es ist ein jüdischer Brauch – zum Gedenken an die Verstorbenen. Ich blickte über den Friedhof. Niesel fiel auf Parkbänke, auf kahle Bäume. Ich knöpfte meinen Mantel zu und machte mich auf den Weg. Auf der Heimreise dachte ich an meine Grosseltern. Bald aber driftete ich ab. Ich versuchte mir die Generationen vorzustellen, die vor ihnen gekommen waren. Diese unwahrscheinliche Kette von Menschen. Der Kiesel soll auch ihnen gelten. Im Andenken an Vorfahren, die Jahrhunderten getrotzt haben. Möge ihre Erinnerung ein Segen sein.