Im Jahr nach der Wahlniederlage verbucht der Freisinn wieder Erfolge und kämpft gegen seine eigenen Strukturen.
1848 war für den Freisinn das beste Jahr der Geschichte. Er hatte einen Krieg gewonnen, die Verfassung geprägt, stellte alle sieben Bundesräte und die Parlamentspräsidenten, im Parlament hatten die Freisinnigen die absolute Mehrheit.
2023 war für den Freisinn das schwächste Jahr der Geschichte. Bei den eidgenössischen Wahlen schrumpfe sein Wähleranteil unter 15 Prozent, die zur Mitte mutierte CVP holte erstmals mehr Sitze im Nationalrat. Der Parteipräsident Thierry Burkart sagte: «Wir haben nach wie vor einen gewissen Selbstzerstörungsdrang.»
Ein paar Monate später verlor die FDP vier Sitze im Urner Kantonsparlament, drei in St. Gallen, einen in Schwyz. «Niederlage um Niederlage – so wird der Freisinn zur 10-Prozent-Partei», titelte das «St. Galler Tagblatt».
Im Dezember 2024 steht die FDP dort, wo sie 1848 angefangen hatte – an der Spitze der Institutionen. Die Aargauerin Maja Riniker wird Nationalratspräsidentin, der Ausserrhoder Andrea Caroni Ständeratspräsident, Karin Keller-Sutter Bundespräsidentin. Drei Freisinnige übernehmen die drei höchsten Ämter, die das Land zu vergeben hat, 176 Jahre nach der Staatsgründung und ein Jahr nach dem schlechtesten Wahlergebnis der Geschichte. Eine Partei kurz vor der Selbstzerstörung?
Öffentliche Selbstkritik
Noch im Jahr vor den Wahlen war die FDP von Sieg zu Sieg geeilt. In Solothurn holte sie ihren zweiten Regierungssitz zurück, in Neuenburg eroberte sie einen dritten Sitz und damit die absolute Mehrheit in der fünfköpfigen Regierung. Im Walliser Kantonsparlament holte sie einen zusätzlichen Sitz, in Freiburg zwei.
Dann kam der Ukraine-Krieg, die Credit Suisse kollabierte. Die Umfragewerte der FDP kamen ins Rutschen. Von 16,1 Prozent im Oktober 2022 sanken sie bis Juli 2023 auf 14,6 Prozent. In den Analysen nach den Wahlen hiess es, die Listenverbindungen mit der SVP hätten die Stammwähler verprellt, zudem sei die FDP-Klientel zu männlich und überaltert, der Liberalismus überhaupt aus der Mode. In Zeiten von Krisen und Kriegen wendeten sich die Menschen dem Staat zu, sie wollten Sicherheit statt Freiheit, höhere Renten statt tiefere Steuern.
Kurz nach den Wahlen übte Burkart in einem bemerkenswerten Interview mit CH Media öffentlich Selbstkritik. «Es ist heute nicht mehr möglich, Föderalismus in Reinkultur zu leben, wenn man bei nationalen Wahlen Erfolg haben will. Andere Parteien machen das besser, sie führen viel zentraler», sagte er. Es war auch ein Signal an die eigenen Leute: Es muss etwas passieren.
Heute sagt Burkart: «Der 23. Oktober 2023 war für uns kein Weckruf, wir wussten ja vorher bereits um die Notwendigkeit von Strukturreformen und dass wir die Positionen klären und noch mehr schärfen müssen. Wir wussten, dass wir verlieren werden.»
Keine Floskeln mehr
Im Frühjahr 2024 holte Burkart den Ex-Journalisten Jonas Projer als neuen Generalsekretär. Der Ton wurde direkter, boulevardesker, die Medienmitteilungen griffiger: «Bundesrat Jans, bitte aufwachen!», «Vincenzo Mascioli, neuer Asylchef des Bundes: Hier ist Ihr Pflichtenheft», «Aufgepasst! Mitte-links plant einen Frontalangriff auf das Portemonnaie.» Nebensätze und Floskeln wie «Die Partei hat zur Kenntnis genommen» wurden aus dem Repertoire gestrichen.
Im Juni präsentierte die Parteileitung ein Bildungspapier: weniger Bürokratie, mehr Unterricht, Rückkehr zum Leistungsprinzip, zu Anstand und Respekt. Burkart gab Interviews, die Medien berichteten, die Debatte war lanciert. Die Partei baute eine «Toolbox zur Rettung der Volksschule» auf, in den Kantonen reichten Parlamentarier über dreissig politische Vorstösse ein.
Im Oktober verabschiedeten die FDP-Delegierten ein Positionspapier zur illegalen Migration mit 95 Prozent Zustimmung. Die Parteileitung lancierte eine Petition gegen die vom Bundesrat geplante Vorsorgesteuer auf die dritte Säule. Innert weniger Tage kamen 43 000 Unterschriften und mehrere zehntausend Franken an Spendengeldern für die Kampagne zusammen.
Nach der Lancierung des Migrationspapiers wurde Burkart vorgeworfen, die Themen wahltaktisch auszuwählen. Er widerspricht: «Es geht hier um echte Probleme, welche die Menschen bewegen und die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen definitiv überfordern. Wir wollen jene Leute erreichen, die eine klare bürgerliche Politik wollen – bürgerlich in dem Sinn, dass wir die Bürgerinnen und Bürger vor noch mehr Übergriffen auf ihr Portemonnaie und ihr tägliches Leben schützen. Darauf hat unsere Basis gewartet.»
Als flankierende Massnahme setzt die Partei regelmässig Spitzen gegen die SVP. Mitte November sagt Burkart im Interview mit der NZZ: «Die SVP macht mir grosse Sorgen. Sie setzt neuerdings auf die Rezepte der Linken.» Als der Bundesrat die Neutralitätsinitiative der SVP zur Ablehnung empfiehlt, folgt postwendend der Beifall aus der FDP-Zentrale: «Die Totengräber der Neutralität laufen auf.»
«Kampfesbereit und voller Vorfreude»
Der Freisinn kämpft nicht nur gegen die Konkurrenz und den Zeitgeist, sondern auch gegen seine eigenen gewachsenen Strukturen. Keine andere Partei hat einen derart rückständigen Apparat wie die FDP, in keiner anderen Partei hatten die kantonalen Sektionen so viel Macht. Noch in den Wahlen 2023 erfuhr die Parteizentrale zum Teil aus der Presse, in welchen Kantonen sich FDP-Ständeratskandidaten zurückziehen.
Einzelne Sektionen kannten bis vor wenigen Jahren kaum verbindliche Strukturen. FDP-Mitglied war, wer sich zum liberalen Gedankengut bekannte – unabhängig davon, ob er ein Amt hatte, Mitgliederbeiträge bezahlte oder sonst etwas für die Partei leistete. Straffe Strukturen waren vielen Freisinnigen suspekt.
Auch technologisch wurde der Rückstand immer grösser. Die Datenbank für die Mitgliederverwaltung stammt aus dem Jahr 2007, vor der Zeit von Smartphones und Social Media. «Technologisch hatten wir mehrere Jahre Rückstand auf die SP», sagt Burkart. «Diese Partei ist auf einem ganz anderen Niveau als alle anderen.»
Lange Zeit konnte sich der Freisinn diese Nachlässigkeit leisten. In vielen Kantonen war die Partei die dominierende Kraft, die Wahlerfolge kamen auch ohne professionelle Adressverwaltungssysteme und Social-Media-Verantwortliche. Im Oktober 2023 wurde klar: Man hat sich die Nachlässigkeit zu lange geleistet.
Diesen November bekamen die FDP-Mitglieder Post von der Parteizentrale. Es war ein Aufruf, für eine neue Datenbank zu spenden. 50 Franken für die Datenmigration von fünfzig Parteimitgliedern, 100 Franken für die Schulung einer Ortspartei, 1000 Franken für die Programmierung einer neuen Schnittstelle. Die Partei soll ein «zeitgemässes Werkzeug» für die Mobilisierung, für Unterschriftensammlungen, Abstimmungen und Wahlen beschaffen können. Im Brief steht: «Die FDP braucht Ihre Hilfe. Wir sind kampfesbereit und voller Vorfreude, der linken Kampagnenmaschine entgegenzutreten.»
Knapp am vierten Sitz vorbei
Mitten im Umbau verbucht die Partei wieder Wahlerfolge. Im August flog sie aus dem Schaffhauser Stadtrat, holte dafür einen Regierungssitz. Im September kam ein Sitz im Kantonsrat hinzu. Im Oktober gewann sie einen Sitz im Aargauer Grossrat, vor einer Woche im Berner Stadtrat, verpasste aber die Wahl in die Stadtregierung.
Im bernischen La Neuveville drängte ein 24-jähriger Freisinniger die Gemeindepräsidentin von La Neuveville aus dem Amt, im Stadtparlament holte die FDP fünf zusätzliche Sitze und stellt neu 14 der 35 Mitglieder. In Burgdorf siegte sie in einer Kampfwahl gegen die SVP und zog wieder in den Gemeinderat ein. In Saanen und in Langenthal verbuchte die FDP Sitzgewinne. In Rüschegg verpasste die FDP um Haaresbreite einen vierten Sitz in der siebenköpfigen Exekutive.
Am 4. Dezember werden Riniker und Caroni in ihren Wohnorten empfangen, am 19. Dezember reist Keller-Sutter mit dem Extrazug nach Wil. Die FDP-Festredner werden an die Staatsgründer erinnern, an die Zeitlosigkeit des Liberalismus, an die ewig sich erneuernde Kraft des Freisinns.