Wladimir Putin hat eine mächtige Invasionsarmee in die Ukraine einfallen lassen, doch erweist sie sich als unfähig, einen Sieg zu erringen. Allerdings kann der Diktator im Kreml auch damit leben, denn der Krieg frisst sich durch alle Werte und Gewissheiten.
Als Wladimir Putin in den letzten Minuten des Jahres 1999 zum amtierenden Präsidenten Russlands ernannt wurde, brachte er einen Trinkspruch zum Jahreswechsel aus: «Friede jeder russischen Familie!» Putins Ansprache richtete sich an die Bürger eines Landes im Krieg: Im August 1999 hatte der Zweite Tschetschenienkrieg begonnen, und die Worte des Präsidenten konnten als direktes Versprechen verstanden werden.
Doch der Krieg gegen Tschetschenien, der im Verborgenen geführt wurde und sich in einen Anti-Guerilla-Feldzug, in eine Operation zur Unterdrückung der Bevölkerung verwandelt hatte, entlud sich in Terroranschlägen und Überfällen und endete de iure erst im Frühjahr 2009 mit der Aufhebung des «Anti-Terror-Regimes», ging aber de facto weiter.
So befand sich Russland während der ersten beiden Amtszeiten Putins ununterbrochen im Krieg. In regelmässigen Abständen erfolgten offizielle Erklärungen, dass man die endgültige Kontrolle über das tschetschenische Territorium erlangt und die tschetschenischen Verbände endgültig zerschlagen habe, und dieser Schwebezustand, die Ungewissheit über das Ende des Krieges wurde zu zynischer Routine.
Die russländischen Bürger, die Putin ein Mandat für eine möglichst rasche militärische Lösung der tschetschenischen Unabhängigkeitsfrage erteilt hatten, gewöhnten sich daran, in diesem Zustand des Nichtfriedens zu leben, im opaken Zeitrahmen eines Krieges, dessen Ende in immer weitere Ferne rückte. Sie gewöhnten sich daran, dass die Gegengewalt in Form von Terroranschlägen bis tief in das russische Kernland schwappte; sie lernten, sich moralisch taub zu stellen, die Kriegsverbrechen und das Verbrecherische dieses Krieges per se zu ignorieren.
Resistent gegen Erfolglosigkeit
2008 griff Russland Georgien an. 2014 annektierte es mit militärischen Mitteln die Krim und drang in die Ostukraine ein, wobei es leugnete, selber wirklich beteiligt zu sein. 2015 folgte die Operation in Syrien zur Unterstützung des Regimes von Bashar al-Asad, 2022 die umfassende Invasion in der Ukraine. Die 25 Jahre von Putins Herrschaft haben alles andere als den versprochenen Frieden gebracht.
Russland hat sich in einen Aggressor verwandelt, der das Völkerrecht missachtet. Es hat eine Kriegswirtschaft und eine autoritäre Gesellschaft etabliert, die von militaristischer Rhetorik und revanchistischem Ressentiment durchdrungen ist. Wirklich unzweifelhafte, symbolisch bedeutsame Erfolge hat seine Aggression dabei nicht zu verzeichnen. Als Erfolg konnte lediglich die rasche Annexion der Krim verbucht werden, welche Putins Rating auf einen Spitzenwert ansteigen liess.
Man könnte sagen, das russische politische Modell ist gegen diese Erfolglosigkeit militärischer Unternehmungen resistent, weil es eine umfassende emotionale Mobilisierung der Bevölkerung gar nicht ernsthaft voraussetzt. Es fehlt der reale Zusammenhang zwischen Krieg und persönlichem Schicksal, massenhafte Opferbereitschaft ist gar nicht nötig. Wichtiger sind rhetorische Einbindung, Loyalität, Mitwirkung über die Medien, Anpassungsbereitschaft, die Akzeptanz der Kriegssituation als alternativlos («wir waren gezwungen»). Deshalb lösen der Sturz des Asad-Regimes und der Abzug der russischen Truppen aus Syrien nach neun Jahren Krieg kein tieferes Gefühl einer Niederlage aus (derweil es de facto eine solche ist): Im Paradigma des Opportunismus existieren keine Niederlagen, nur sich verändernde Umstände.
Tatsächlich unternimmt Putin viel, um eine wirkliche Masseneinberufung, die direkte Rekrutierung breiter Bevölkerungsschichten für den Krieg zu vermeiden. Im Rahmen der «Putinomics», wie man das nach dem Februar 2022 entstandene militarisierte Wirtschaftsmodell nennen könnte, sind es die Leben von vielfach marginalisierten Bevölkerungsgruppen, mit denen der Krieg bezahlt wird.
In Putins überzentralisiertem Staat sind die peripheren Regionen, deren Ressourcen vom Zentrum ausgebeutet werden, zur Armut verdammt. Und die dort lebenden Menschen werden ebenfalls zu einer Ressource, zu Kanonenfutter bei einem akzeptablen Preis, weil das der einzige Weg zum Wohlstand ist, den die Putinomics ihnen offerieren. Diese Menschen könnten theoretisch protestieren, aber in der Praxis wählen sie die materiell begünstigte Anpassung und ziehen für Geld in den Krieg.
Daneben holt sich Putins Staat die Ressourcen für den Krieg aus den Gefängnissen. Den Strafgefangenen wird versprochen, sie könnten ihre «Schuld sühnen», ihnen werde vergeben und sie könnten die Freiheit erlangen. Verbrecher, echte und vorgebliche, stehen ein für jene, die Putin aus den Reihen der freien Bürger rekrutieren müsste.
Und schliesslich gibt es die Mobilisierten, die unbefristet zu dienen haben, bis Putin eine Rotation oder das Ende des Krieges verkündet. Sie sind eine Art Sondersteuer, eine Naturalsteuer für den Kriegsbedarf, die Putin der russischen Gesellschaft einmalig auferlegt hat, keine Anleihe, sondern eine echte Steuer, denn diese Menschen wird Putin möglicherweise nicht zurückerstatten.
Der Aggressor als Opfer
Aus diesen drei Quellen schöpfend, führt Putin einen Angriffskrieg, der allerdings keine absolut definierten und erklärten Ziele hat (es sei denn, man betrachtet die Propaganda über die «Entnazifizierung» der Ukraine als solche). Einen Krieg, in dem sich der Aggressor rhetorisch zum Opfer erklärt, das sich verteidigt. Eben diese Position des sich Verteidigenden – die Nato hat uns bedroht, wir waren gezwungen, wir kämpfen gegen ganz Europa – lässt viel mehr Spielraum für das, was Putin der Öffentlichkeit letztlich als positives Ergebnis präsentieren kann.
Der Sieg sieht für den Aggressor (der Fremdes erobert) und für den Verteidiger (der Eigenes verteidigt) diametral unterschiedlich aus. Putin, der die Ukraine und den Westen zu den Verursachern des Krieges erklärt, bedient sich keiner offen expansionistischen Rhetorik (Eroberung von Lebensraum oder Weltrevolution), sondern eher einer Rhetorik, die den Schutz der Souveränität behauptet. Das erlaubt ihm für den Fall, dass er seine Eroberungsziele nicht oder nur teilweise erreicht, das als «Sieg der Verteidigung» auszugeben, als Gewinn von Sicherheitsgarantien. So wie es die UdSSR nach dem Winterkrieg von 1939/1940 gegen Finnland machte, als Finnland zwar Gebiete einbüsste, aber als Staat überlebte und die in Moskau gebildete und von Otto Kuusinen angeführte rote Marionettenregierung am Ende nicht gebraucht wurde.
Überdies hat die russische Aggression einen Nebeneffekt: Die russischen Gefallenen an der Front verschaffen Putin unerwartete und indirekte politische Vorteile. Um Clausewitz zu paraphrasieren, erweist sich die Politik hier als Fortsetzung des Krieges.
Die russische Aggression gegen die Ukraine hat in Europa und der Welt einen politischen Wandel ausgelöst, sie hat die politische Landschaft radikalisiert und nach rechts verschoben. Wladimir Putin dürfte kaum mit einem solchen Effekt gerechnet haben, als er den Angriff befahl. Sein Krieg des Jahres 2022 sollte ein kurzer Krieg werden, kein Krieg, sondern eine Art Spaziergang, an dessen Ende die Kapitulationserklärung der Ukraine stehen sollte. So kurz, dass der Westen keine Gelegenheit zu einer koordinierten Reaktion haben würde und mit der Tatsache einer neuen Realität, neuer Grenzen konfrontiert wäre.
Doch die Ukraine leistete tapferen Widerstand, und die «militärische Spezialoperation» wuchs sich zu einem Krieg aus, grösstenteils einem Stellungskrieg. Der russländische Angreifer kann sich auf der Karte des Kriegsschauplatzes keiner grossartigen Erfolge rühmen. Die Verluste an Truppe und Gerät sind hoch, für die Einnahme von Ortschaften wie Bachmut opfert die Militärführung Tausende von Menschenleben. Dafür hat sich der Begriff «Fleischsturm» eingebürgert.
Doch diese Art, Krieg zu führen, die anschaulich demonstriert, zu welchen Opfern Putin bereit ist, die auf Einschüchterung beruht und den Einsatz permanent steigert, hat auch noch andere Dividenden erbracht, die sich am besten durch die Erfolge der AfD und der Linken bei der deutschen Bundestagswahl illustrieren lassen. Beide Parteien sprechen sich gegen eine Verstärkung der Waffenlieferungen an die Ukraine und für Frieden um den Preis der Gerechtigkeit aus.
Beide vertreten innenpolitisch in vielen Punkten gegensätzliche Standpunkte, aber gleichzeitig sind beide Nutzniesser der russischen Aggression, sie kritisieren die Nato, der sie einen wesentlichen Teil der Verantwortung für den russischen Angriff zuschieben, und propagieren so die konzeptionelle Logik Moskaus.
So erweist sich Russlands Krieg, indem er ökonomische Probleme verursacht, die Gesellschaft polarisiert, Ängste aus der Zeit des Kalten Krieg wiedererweckt, politische Turbulenzen schürt und die Einheit der EU untergräbt, als eine Art seismische Waffe, so wie sie in Fantasy-Romanen beschrieben wird. Für diesen Krieg sind dem Kreml nicht die Siege an der Front wichtig, sondern das demonstrative, ständige Schüren der kriegerischen Auseinandersetzungen, die ständigen Nachrichten über all die kleinen russischen Geländegewinne, über die Erfolge der massiven russischen Raketen- und Drohnenangriffe, darüber, dass die Ukraine immer mehr westliche Hilfe benötigt. Auf diese Weise wird der Mythos von der militärischen Unnachgiebigkeit und dem stählernen Kampfeswillen der Russen reaktiviert, mit denen man sich besser arrangieren sollte, als es zu einem direkten Konflikt kommen zu lassen.
Verrat an der Ukraine
Es ist noch nicht absehbar, wohin die Diplomatie Donald Trumps genau führen wird. Aber schon jetzt ist ihre Wirkung die einer nuklearen Explosion der Unmoral. Der Versuch, die klare Unterscheidung von Täter und Opfer verschwimmen zu lassen, einen Teil der Schuld auf die Ukraine abzuwälzen, auf die Methode der Erpressung zu setzen und Russland rasch wieder den Status eines vertragsfähigen Partners zu gewähren – all das ist bereits ein grosser Sieg für Putin, sowohl symbolisch als auch praktisch. Leider wird dies in Russland wenn nicht die direkte Unterstützung für den Krieg verstärken, so doch die Überzeugung, recht zu haben – auch in der Vorstellung, dass in der Welt das Gewaltrecht des Stärkeren herrsche.
Der Krieg mag eingefroren werden können, aber er wird nachwirken, seine zerstörerische Resonanz wird anhalten und die politische Architektur Europas und der Welt unterminieren. Vermutlich lässt sich nicht einmal vorhersagen, wie weit dieser Prozess gehen wird. Denn es gibt vorerst keine überzeugende, wirksame Antwort auf die Frage, was man mit einem atomar bewaffneten Diktator machen soll.
Und wenn die Ukraine nach all den Versprechungen der letzten Jahre, nach dem Budapester Memorandum, das sich als nutzlos erwiesen hat, gezwungen werden sollte, gegen ihre eigenen Interessen Frieden zu schliessen, wird dies unweigerlich ein Sieg des Bösen sein, der kommende Generationen demoralisieren und die Positionen zynischer Machtpolitiker stärken und das Putin-Regime zu weiteren Aggressionen verleiten wird.
Sergei Lebedew, Jahrgang 1981, gehört zu den bedeutenden Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Er lebt in Deutschland. Soeben hat er bei Rowohlt herausgegeben: «Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg». – Aus dem Russischen von Andreas Weihe.