Die Unzufriedenheit mit der deutschen Regierung bringt neue Parteien hervor und macht Alternativen zu den etablierten Kräften stärker. Die Parteienlandschaft wandelt sich stark. Ein Überblick.
Sarah Wagenknecht und Hans-Georg Maassen haben mehr gemeinsam, als man meinen würde. Beide halten die derzeitige deutsche Regierung für eine Katastrophe und sind für steile Thesen bekannt. Seit Januar verbindet die ehemalige Fraktionschefin der deutschen Linkspartei und den einstigen Chef des deutschen Inlandgeheimdienstes eine weitere Gemeinsamkeit: Beide gründen eine eigene Partei. Das Bündnis Sahra Wagenknecht steht schon in den Startlöchern, die Umwandlung von Maassens Werteunion vom Verein zur Partei ist beschlossene Sache und soll diesen Monat vollendet werden.
Abgeschlossen ist die Weitung des deutschen Parteienspektrums damit nicht. Mit der Demokratischen Allianz für Vielfalt und Aufbruch (Dava) erscheint eine islamische Partei auf der Spielfläche. Die Zeiten für neue Parteien sind günstig, weil die deutsche Regierung aus SPD, Grünen und FPD nicht aus der Krise kommt und ihre Mehrheit in den Umfragen längst verloren hat. Davon profitieren auch die Freien Wähler, eine Partei aus Bayern, deren Ambitionen über die Grenzen des süddeutschen Bundeslands hinausgehen. Welche Chancen haben Bündnis Wagenknecht, Werteunion, Dava und die Freien Wähler?
Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)
Sahra Wagenknecht will ihre neue Partei als Alternative zur deutschen Regierung und zur AfD verkaufen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) soll für pragmatische Politik stehen, die sich nicht von Ideologie leiten lässt und vor allem an den Interessen der deutschen Bürger orientiert ist. Diese sieht sie in der Ukraine-Frage und der Migrationskrise verletzt. Im Kölner Karneval wird sie auf einem der Motivwagen anders dargestellt: als politische Verrenkungskünstlerin, die einen Spagat zwischen dem ganz linken und dem ganz rechten Lager versucht.
Die wahre Ausrichtung ihrer Partei dürfte irgendwo zwischen der Selbstwahrnehmung und dem karnevalistischen Blick liegen. Das BSW ist einerseits antikapitalistisch, aber auch gegen die gegenwärtige Migrationspolitik. Es könne also am linken und am rechten Rand Stimmen ziehen und habe daher gute Chancen, sagte Werner Weidenfeld, Professor für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Gespräch mit der NZZ. Das Bündnis kommt in den jüngsten Umfragen aus dem Stand auf mehr als 7 Prozent und wäre damit im nächsten Bundestag vertreten.
Die Parteigründung Mitte Januar sei überraschend gut verlaufen, sagt Frank Decker, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn und Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Er sieht gute Chancen für das Bündnis und rechnet damit, dass es für die AfD zum grösseren Problem werde. Auch diese Annahme schein sich derzeit demoskopisch widerzuspiegeln. Der lange Höhenflug der AfD ist gestoppt, jüngst musste sie in den Umfragen rund 2,5 Prozentpunkte einbüssen.
Dies könnte an den deutschlandweiten Massendemonstrationen gegen Rechtsradikale liegen, aber auch daran, dass das BSW für die AfD zur dauerhaften Konkurrenz werden dürfte. Wer die zügellose Migrationspolitik der deutschen Regierung genauso ablehnt wie Waffenlieferungen an die von Russland überfallene Ukraine, hat jetzt eine Option zur AfD.
Werteunion
Schwerer dürfte es die Werteunion haben. Wie der Name andeutet, ist sie Fleisch vom Fleische der CDU. Die Werteunion versteht sich als Heimat für enttäuschte Mitglieder der Unionsparteien CDU und CSU. Dort gab und gibt es Konservative, die den Linkskurs der ehemaligen Parteichefin und deutschen Kanzlerin Angela Merkel ablehnten und es kaum aushalten, dass die CDU bis heute nicht mit dieser Ära bricht.
Zupass kommt der Werteunion, dass laut Umfragen viele Deutsche die von Merkel geprägte Migrationspolitik mittlerweile skeptisch sehen, sich mehr Sicherheit im öffentlichen Raum wünschen und kein Vertrauen in die sogenannte Energiewende haben. Ob sich diese Bürger für die Werteunion erwärmen können, ist aber fraglich.
Der Parteigründer Hans-Georg Maassen ist zwar einigen Deutschen ein Begriff, weil er seinen Posten als Präsident des Inlandgeheimdienstes im Streit räumen musste. Vergleichbar mit der Popularität von Wagenknecht sind seine Bekanntheit und seine Reputation aber kaum. «Der einfache Bürger auf der Strasse kennt Maassen doch gar nicht. Er konnte seine Vergangenheit als Chef des Verfassungsschutzes nie ablegen und ist keine charismatische Figur wie Sahra Wagenknecht», meint der Politologe Weidenfeld.
Ein anderes Problem benennt der Politikwissenschafter Decker: Wenn Wähler von CDU und CSU die Werteunion wählen, würden sie die beiden Parteien schwächen und damit das Gegenteil dessen erreichen, was sie eigentlich wollen: eine konservative Politik. Er traut der Partei nicht zu, die 5-Prozent-Hürde zu nehmen, die über den Einzug ins deutsche Parlament entscheidet. Dies liege auch an der AfD, die sehr ähnliche Positionen wie die Werteunion vertrete, allerdings radikaler, was in dem Fall von Vorteil sei.
Freie Wähler
Deutlich weiter sind die Freien Wähler. Sie stellen im Bundesland Bayern einen Teil der Landesregierung und sitzen auch in Rheinland-Pfalz im Landtag. Gegründet hat sich die Partei bereits im Jahr 2009. Die Frage ist nun, ob die Freien Wähler bei der nächsten Bundestagswahl ins deutsche Parlament einziehen werden. Die Ursprünge der Partei liegen in der Kommunalpolitik, doch den Parteichef Hubert Aiwanger zieht es in den Bundestag.
Der Politologe Decker sieht dies genauso skeptisch wie sein Berufskollege Weidenfeld. «Die Freien Wähler verkörpern eine bestimmte Art von bayrischem Selbstbewusstsein. Sie leben von der Stärke in Bayern, von den besonderen Gegebenheiten dort», sagte Weidenfeld. Diese Eigenschaften seien aber nahezu nutzlos, um in ganz Deutschland Wähler vom eigenen Programm zu überzeugen. Programmatisch ähneln die Freien Wähler der mehr oder weniger konservativen CSU, mit der sie in Bayern gemeinsam die Landesregierung stellen.
Der Parteichef Hubert Aiwanger ist leicht rechts der Mitte zu verorten und für derbe Rhetorik bekannt. Aiwanger kommt aus der Landwirtschaft. Er verkörpert einen heimatverbundenen, streitlustigen Konservativen mit starker Abneigung gegen alles, was als politisch korrekt oder «woke» gilt. Das kommt in manchen Wählerschichten sicherlich bestens an, ob es am Ende für den Bundestag reichen wird, ist aber offen.
Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (Dava)
Die neue Unbekannte im deutschen Parteienspektrum trägt den Namen Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (Dava). Es handelt sich dabei um eine muslimische Gruppierung, die ein wenig an die Muslimpartei aus Michel Houellebecqs Roman «Unterwerfung» erinnert. Darin gelingt es den französischen Muslimen, Frankreich in eine islamische Republik umzuwandeln.
Im Roman geschieht dies mit finanzieller Hilfe aus Saudiarabien – die Dava scheint hingegen mit der AKP des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verbandelt zu sein. Verbindungen gibt es vor allem zum Moscheenverband Ditib, der von der türkischen Religionsbehörde Diyanet kontrolliert wird.
Schon im Juni möchte die Dava bei der Wahl des EU-Parlaments antreten, was den Vorteil hat, dass dort keine 5-Prozent-Hürde gilt. In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime, das Wählerpotenzial ist also da. Inhaltlich sieht sich die Partei als Interessenvertretung aller Muslime in Deutschland, da diese systematisch diskriminiert würden.
Als Spitzenkandidat tritt der Rechtsanwalt Fatih Zingal aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen an, sein Vize ist der Arzt Ali Ihsan Ünlü, der laut der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» ein erfahrener Ditib-Funktionär ist. In der deutschen Öffentlichkeit sind beide völlig unbekannt.