In dem Land herrscht eine Mischung aus Pessimismus und grimmiger Entschlossenheit. Aber eine zentrale Frage droht die Ukrainer zu spalten.
Vielleicht bietet das Hundekostüm ja etwas Schutz gegen die minus 23 Grad in Kiew. Sonst ist eher schwer zu verstehen, weshalb der junge Mann sich am Unabhängigkeitsplatz so verkleidet hat. Zwar ist der Sprengstoffhund namens Patron seit 2022 ein Held, dessen Taten jedes Kind kennt. Doch Kiew im Krieg ist nicht Disneyland. Es fehlen die Touristen, die dem Schausteller Geld für ein Selfie zahlen.
Die paar Passanten ignorieren ihn. Sie haben andere Gedanken wenige Tage nach dem heftigsten Raketenangriff seit langem. Andere konzentrieren sich auf das riesige Fahnenmeer hinter dem verkleideten Mann, das für die Kriegstoten aufgestellt wurde. Die Menschen kommen her, um zu trauern, der patriotische Touristenkitsch wirkt deplatziert.
Die Fast-Normalität von Kiew
Die Szene wirkt leicht surreal – und doch bezeichnend für die Stimmung im Land. Es ist leicht, ihre Trostlosigkeit als Sinnbild der schwierigen Lage an der Front zu werten, wo die Ukraine unter starkem russischen Druck steht. Sie zeigt aber auch, wie gross die Gegensätze zwischen den Lebenswelten im Land geworden sind. Wenn nicht gerade Marschflugkörper auf die Metropolen fliegen, wirkt der Krieg weit weg.
Als es einige Tage später etwas wärmer wird, scheint die Normalität noch stärker zurückzukehren. Es ist ein Prozess, der seit vielen Monaten andauert. Nicht nur in Kiew, sondern auch in frontnahen Städten sind Restaurants und Kinos wieder offen, an den Plakatsäulen hängt neue Werbung. Die Wirtschaft ist nach dem Einbruch von 2022 im letzten Jahr um fast 5 Prozent gewachsen.
Die staatlichen Einheitsnachrichten kümmern sich immerhin darum, dass der Krieg medial in den Wohnzimmern präsent bleibt. Aus den Grenzorten flimmern zwar Bilder von verwundeten Zivilisten über den Bildschirm. Dazwischengeschnitten sind aber kurze Dokumentarfilme über militärische Erfolge: die überraschende Befreiung der Region Charkiw 2022 und die Rückeroberung der Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Damals schien es, als könnten die Ukrainer durch höhere Motivation und eine überlegene Taktik die Regeln des Abnützungskrieges ausser Kraft setzen.
Für 2023 versprach Präsident Selenski die Rückholung aller verlorenen Gebiete. Doch die lange angekündigte Gegenoffensive, unterstützt durch westliche Waffen und Ausbildung, kam rasch ins Stocken. Starke russische Verteidigungslinien, Drohnenangriffe und endlose Minenfelder rieben die Ukrainer auf. Die Hilfe des Westens hat sich seither deutlich verringert. Sein Land habe die Chance auf einen Sieg verpasst, sagt ein Offizier des Militärgeheimdienstes. Nun müsse die Ukraine aufpassen, dass sie den Krieg nicht verliere.
Die Armee bildet eine eigene Sphäre
Die Männer an der Front wissen, wie schwierig sich die Aufgabe gestaltet. Hunderttausende von Armeeangehörigen schultern die Verantwortung für ihr Land seit fast zwei Jahren. Man trifft sie bei Eiseskälte in hölzernen Bunkern, einfachen Bauernhäusern und schlammigen Schützengräben. Immerhin funktionieren die Öfen, die Kälte ist das kleinste Problem.
Doch die Soldaten kämpfen mit knappen Ressourcen, einem Mangel an Ausbildung und der eigenen Erschöpfung. Dass die Ukrainer dennoch praktisch alle russischen Angriffe zurückschlagen, lässt sich nur durch die grimmige Entschlossenheit der Kämpfer erklären. Sie wissen, dass die Brutalität des Gegners keine Alternative zum Widerstand zulässt.
Die Front hat eine verschworene Gemeinschaft geschaffen, deren Verbindung zum Rest des Landes zunehmend prekär wirkt. «Wir haben hier in der Armee unsere eigene gesellschaftliche Sphäre», so bringt es ein Offizier auf den Punkt. Was das Hinterland denkt und was es antreibt, interessiert hier wenig. Aus Ignoranz oder Selbstschutz?
Front und Hinterland, Schützengräben und Innenstädte wirken jedenfalls wie zwei Welten, die umso stärker auseinanderdriften, je länger der Krieg dauert. Oft genug erzählen die Kämpfer, dass sie sich selbst im Urlaub zu Hause nicht mehr wohlfühlten. Die Parallelrealität der Front hat sie in sich aufgesogen.
Der Staat braucht mehr Soldaten
Die Brüder, Schwestern und Freunde der Armeeangehörigen kennen deren Lebensumstände, oft aber nur vermittelt durch Telefongespräche und seltene Besuche, bei denen vieles nicht gesagt wird. Die Solidarität bleibt derweil gross: So erzählt ein Kiewer in seinem Wohnzimmer, wie er Drohnen zusammenbaut. Kulturschaffende fahren Pick-up-Trucks an die Front. Andere schicken ihren Verwandten Schutzwesten. Auch mit jedem Liter Benzin gehen ein paar Rappen an die Armee: «Auge um Auge», lautet das Motto einer Tankstellenkette, die mit einer grossen Hilfsorganisation zusammenarbeitet.
Dies heisst allerdings nicht, dass die Ukrainer selbst in den Kampf ziehen wollen. Vielmehr ist die Aufstellung dringend benötigter zusätzlicher Einheiten zu einer hoch umstrittenen Frage geworden. Der Gesellschaftsvertrag, wonach jeder und jede tut, was er oder sie kann – als Soldat, Freiwillige oder IT-Spezialist –, gilt nur noch beschränkt. Ohne neue Kämpfer drohen Rückschläge an der Front. Die Regierung legte jüngst ein neues Gesetz vor, das eine Mobilisierung ab 25 statt 27 Jahren und harte Strafen für die Wehrdienstverweigerung vorsah. Nach Tumulten im Parlament zog sie es vorläufig zurück.
Dabei ist allen klar, dass das Rekrutierungswesen reformiert werden sollte. Vom Militärdienst wegzukommen, ist mit etwas Geld kein Problem. Die Militärkommissariate sind notorisch korrupt und die Leute zahlungsbereit. Das führt zu paradoxen Situationen: So gesteht im Gespräch sogar ein gestandener, äusserst patriotischer Soldat an der Front, dass er seinen Sohn durch regelmässiges Schmiergeld davor bewahrt, eingezogen zu werden. Gedankliche Parallelwelten gibt es sogar im Kopf ein und derselben Person.
In speziellen Telegram-Gruppen warnen sich die Leute gegenseitig vor Razzien der Militärbehörden, die junge Männer direkt von der Strasse in Busse zerren und zur Armee bringen. Viele verstecken sich, laut der BBC sind 20 000 illegal über die Grenze geflohen. Die Gesellschaft sieht dies als Kavaliersdelikt: Jüngst erklärten sieben von zehn Befragten, sie hielten Korruption für das grösste Verbrechen. Nur 2,3 Prozent sagten das Gleiche über die Wehrdienstverweigerung.
Die Ukrainer sollen Verantwortung übernehmen
In einem klugen Artikel wertet die Soldatin und Aktivistin Lesia Litwinowa diese Haltung als Symptom des Misstrauens der Gesellschaft gegenüber einem lange als feindselig wahrgenommenen Staat. Nun aber müssen ihn die Ukrainer gegen einen Nachbarn verteidigen, der ihm und damit auch ihnen das Existenzrecht abspricht. «Alle müssen Verantwortung übernehmen», schreibt Litwinowa. Es ist eine neue Rolle, mit der sich viele schwertun.
Und doch bleiben die Ukrainer als Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden. Denn auch wenn der Krieg in Kiew weit weg wirkt, stehen nur die Soldaten zwischen dem Kiewer Mann im Hundekostüm und den russischen Invasoren. Die Ukrainer wissen das natürlich besser als alle Beobachter. Es auch zu spüren, wird aber mit jedem Monat schwieriger, den sie in parallelen Realitäten verbringen.