Daniela Ryf vertraute stets ihrer Intuition, eine Eigenschaft, die im Spitzensport mehr und mehr verlorengeht. Aber sie war gerade deswegen im Triathlon mehrere Jahre lang das Mass der Dinge.
Im August musste Daniela Ryf alle Hoffnungen begraben, bis zum grossen Saisonziel fit zu werden. Die Ironman-Weltmeisterschaften in Nizza würden ohne sie stattfinden, eine Verletzung am Steissbein hatte sie ausgebremst. «Dann versuchen wir es eben nächstes Jahr wieder», habe ihr der Trainer Brett Sutton gesagt. Aber Ryf widersprach ihm: «Nein, das war’s.»
Wieder einmal folgte die beste Triathletin der letzten Dekade ihrer Intuition. Wieder einmal tat sie nicht das, was andere von ihr erwarteten, sondern das, was sich für sie richtig anfühlte. Allzu verlockend wirkte nicht nur für den Coach Sutton die Option, weiter um den sechsten Ironman-Weltmeistertitel zu kämpfen, mit dem Ryf zu drei der grössten Legenden des Sports aufgeschlossen hätte, zu den Stars Dave Scott, Mark Allen und Natascha Badmann. Ein sporthistorischer Moment schien bis zuletzt in Reichweite. Aber Ryf entschied aus freien Stücken, sich von dem Ziel zu verabschieden.
«Die Zahl der Titel bedeutet mir nichts», sagt die Schweizerin an einem Gespräch im Dezember. «Viele Leute vergessen sowieso, wie oft ich gewonnen habe.» Ihr ist es wichtig, die Dinge zu relativieren: 2012, nach enttäuschend verlaufenen Olympischen Spielen, hätte sie schon einmal fast aufgehört. Dann wäre sie kein einziges Mal Weltmeisterin geworden.
Mittlerweile ist die Steissbeinverletzung auskuriert, und Ryf macht oft bereits wieder zweimal pro Tag Sport. Ein Arzt erklärte ihr, dass es zwar für den Körper nicht zwingend sei, so intensiv abzutrainieren. Aber für den Kopf eben doch. «Es ist fast ein bisschen wie eine Sucht», gesteht sie. Sie sei die Endorphin-Ausschüttungen gewohnt. Immerhin: Weil sie bereits nicht mehr ganz so fit sei, genüge ihr nun eine halbe Stunde Jogging, um jenen Glückszustand zu erreichen, der sich früher erst nach eineinhalb Stunden hartem Training einstellte.
Ein gesundes Leben neben dem Spitzensport geführt
Für den Triathlon ist Ryfs Rücktritt eine Zäsur. Heute dominieren Athletinnen und Athleten die Szene, die das ganze Jahr lang alles dem Sport unterordnen. Der norwegische Star Kristian Blummenfelt gönnte sich nicht einmal nach seinem Olympiasieg im Jahr 2021 Ferien, er lebt an 365 Tagen pro Jahr für den Triathlon. Auch Ryf begab sich vor wichtigen Rennen in einen Tunnel, auch ihr Leben bestand dann für mehrere Monate nur noch aus Training, Essen und Schlafen. Aber vorher und nachher gönnte sie sich stets Auszeiten. Mehrwöchige Ferien sowie ein Freundeskreis, mit dem sie nie über Triathlon sprach: All das war für sie selbstverständlich. «Sonst hätte ich meine Karriere nie so lange durchziehen können», sagt Ryf.
Nicht nur die Kunst, ein Leben neben dem Spitzensport zu führen, unterscheidet sie von der Generation Blummenfelt. Ryf vertraute mit ihrem Trainer Sutton auch bei der Trainingsgestaltung auf die Intuition. Das Duo verkörperte noch jenen Pioniergeist, der den Triathlon in seiner Entstehungsphase ausmachte. Jenen einst typischen, fast anarchischen Individualismus, der originelle Methoden hervorbrachte. Heute haben Athletinnen und Athleten das Zepter übernommen, die sich auf Labormessungen und Erkenntnisse aus Studien verlassen. So ist es nur konsequent, dass die Ansätze der Weltbesten austauschbarer werden.
Interessanterweise war Ryf gelegentlich ihrer Zeit voraus, ohne es zu ahnen. Bereits vor zehn Jahren erhöhte sie die Menge der Kohlenhydrate, welche sie stündlich in Rennen konsumierte, massiv. Das half ihr, Energietiefs zu vermeiden. «Mir war nicht bewusst, dass andere das nicht machen», sagt sie heute. Mittlerweile ist ein regelrechter Hype um das Mantra entstanden, sich in Wettkämpfen bis zu 120 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde zuzuführen. Sportler und Trainer vermarkten das Konzept als innovativ. Und Ryf wundert sich: «Ich machte das schon damals, aber wieso hätte ich es der Konkurrenz erzählen sollen?»
Ohnehin wehrt sie sich gegen das Zerrbild, sie und Sutton hätten in ihrer Zusammenarbeit gar keine wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt. Sieben Jahre lang habe sie ihr Velo permanent im Windkanal aerodynamisch optimiert. Sie habe damit auf 180 Kilometer hochgerechnet 25 Minuten gewonnen, glaubt Ryf. Andernfalls wäre kaum erklärbar, dass sie auf Hawaii, der Geburtsstätte des Langdistanz-Triathlons, weiterhin den Streckenrekord auf dem Rad-Abschnitt hält.
Im Frühjahr 2021 trennte sich Ryf vorübergehend von Sutton. Sie entschloss sich zu diesem Schritt, nachdem sie während der Pandemie monatelang an Suttons damaligem Wohnort in St. Moritz hatte trainieren müssen, während an anderen Orten die meisten Hallenbäder geschlossen waren – die Zusammenarbeit war ihr allzu intensiv geworden. Die Saison 2021, in der sie sich vor allem selbst trainierte, verlief in der Folge enttäuschend. Dennoch sagt Ryf, aus ihrer Sicht sei das Experiment aufgegangen, immerhin habe sie 2022 nochmals die Ironman-WM gewonnen.
Andere Athletinnen hätten sich in ihrer Situation einen neuen Coach gesucht. Ryf überlegte sich das ebenfalls, wie sie heute verrät. Doch für sie kam kein Kandidat infrage, der gleichzeitig mindestens eine ihrer Gegnerinnen betreut, dadurch schrumpfte die Auswahl. Sie sagt: «Wenn ich in den Wettkampf starte, gehe ich gegen meine Konkurrentinnen in den Kampf.» Wer so denkt, kann keine Trainingsgemeinschaften mit Ebenbürtigen bilden.
Es gibt im modernen Triathlon Beispiele, dass Kooperationen auf höchstem Niveau funktionieren. Der deutsche Trainer Dan Lorang betreut erfolgreich mehrere Spitzenathletinnen. Aber er gehört zur neuen Generation, die auf nüchterne Datenanalysen setzt – mit Ryfs emotionalerer Herangehensweise hat das immer weniger zu tun.
Die zweite Karriere nimmt bereits Fahrt auf
Wenn die Schweizerin ihre beruflichen Perspektiven schildert, wird deutlich, wie konsequent sie sich bereits vom Leistungssport gelöst hat. Ab Februar wird sie auf Teilzeitbasis für eine Firma arbeiten, an der sie Anteile hält. Mit der Trainings-App Humango wird sie Freizeitläuferinnen und -läufer auf einen Halbmarathon vorbereiten, mit Red Bull den Wings for Life World Run vorantreiben, und auch bei der Fitness-App Muuvr will sie sich stärker engagieren als bisher. Ausserdem plant Ryf mit ihrer Stiftung 2025 eine Bike-Safari in Kenya und einen «Ride & Vino»-Event in Graubünden. Einen neuen Partner im Ernährungsbereich gibt es auch noch. «Es sind viele Sachen», sagt Ryf. «Manchmal explodiert der Kopf fast.» Sie ist im neuen Leben angekommen.
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