Die integrative Schule ist gescheitert. Es ist unverständlich, dass sie von einer Bildungselite weiterhin propagiert wird.
In der Schweiz gibt es seit Jahrzehnten viele Reformen im Bildungssystem, die allesamt von einer technokratischen Elite ausgetüftelt wurden – und bis heute mit Verve verteidigt werden. Diese Bildungselite hat die Deutungshoheit und wie eine Monstranz ihre Losung vorträgt: Neu ist immer besser. Es wird am System «geschräubelt», um es zu modernisieren (wie das dann gerne genannt wird), weil man damit angeblich der Realität gerecht werde.
Es interessiert die Macher offenbar wenig, was die Neuerungen den Schülern genau bringen – und auch nicht, was die Lehrer davon halten. Dass viele Praktiker eine gegenteilige Meinung vertreten, verkommt deshalb oft zur Randnotiz. Niemand weiss, was eine solche Reform wirklich bewirkt hat. Es gibt kaum statistisch haltbares Material dazu. Warum auch? Wer seine Projekte untersuchen lässt, dem droht allenfalls ein wenig schmeichelhaftes Resultat.
Das beste schlechte Beispiel dafür ist die integrative Schule. Sie sollte dafür sorgen, dass jedes Kind bestmöglich betreut wird. Chancengerechtigkeit war das Schlagwort. Kein Stigma mehr für die Schwächeren, keine Ausgrenzung. Alle zusammen in einer Regelklasse? Klang wunderbar, fair, divers, fortschrittlich. Die stärksten Schüler helfen ihren Gspänli, man bringt sich gemeinsam vorwärts, der Lehrer unterrichtet nicht mehr hauptsächlich, sondern coacht, begleitet.
Erschreckende Resultate
Die Wahrheit ist eine andere. Das vielleicht eindrücklichste Bild lieferte eine Basler Lehrerin, die der Sendung «Reporter» des Schweizer Fernsehens die Realität – die alle, die wollten, schon kannten – erstmals auch in Farbe und Ton bekanntmachte: Es herrsche Überforderung, ständige Unruhe, Verzweiflung bei den Pädagogen. Auf der Wandtafel wurden, primarschulgerecht, alle achtzehn Schüler der Klasse aufgezeichnet und dazu mit farbigen Magneten dargestellt, wie viele von ihnen mindestens ein sogenanntes Sondersetting erhalten.
Das erschreckende Resultat: Nur ein einziges Kind ging ganz normal in die Schule, also ohne zusätzliche Massnahmen, die Hälfte der Klasse hatte mindestens zwei solcher Sondersettings – manche noch mehr.
Es gilt, anzumerken, dass es sich um eine Primarschule in einer strukturschwachen Gegend mit hohem Migrationsanteil handelt, aber das Phänomen tritt überall auf. Es überrascht nicht, dass die Leistungen der Schweizer Schüler insgesamt wenig erbaulich sind. Ein Viertel der 15-Jährigen kann nicht richtig lesen. Schreiben muss derart altmodisch sein, dass viele Schüler kaum mehr von Hand schreiben können. Mittlerweile mehren sich sogar an den Universitäten die Klagen, dass Prüfungen kaum korrigierbar seien, weil die Professoren nicht verstünden, was die Studenten sagen wollten.
In der Mathematik ist es zwar leicht besser, aber auch dort erreicht ein Fünftel das Mindestmass nicht (ebenso in den Naturwissenschaften). Im internationalen Vergleich ist die Schweiz zwar – je nach Fach: oberes – Mittelmass, aber nur, weil die anderen Länder noch viel schlechter geworden sind.
Wirklich überraschend ist das nicht, wenn man sich die heutige Volksschule anschaut. Das ist, salopp gesagt, keine Schule mehr. Sondern eine Therapieanstalt. Befürworter der integrativen Schule sagen es selbst: Jedes Kind muss diagnostiziert werden, um es «bestmöglich» zu betreuen. Das führt dazu, dass der Lehrer keine Autorität mehr ist. Die Kinder werden für schlechtes Betragen nicht mehr vor die Türe geschickt, sondern in ein separates Zimmer – betreut von einer weiteren Lehrerin. Man nannte das zuerst soft «Schulinsel». Heute ist es ein «erweiterter Lernraum». Statt einer Bestrafung klingt das wie die Belohnung für einen Hochbegabten, der seine Aufgabe bereits gelöst hat.
Farben statt Noten
Obwohl: Eine solche Klassifizierung in gute und schlechte Schüler ist wahrscheinlich bereits heikel. Denn jedes Kind habe ja Talente, die individuell gefördert werden müssten, sagen die Reformer. Darum ergeben auch Noten keinen Sinn mehr. Aber offenbar helfen Farben. In den heterogenen Regelklassen bekommen schwache Schüler einen «Nachteilsausgleich», ein weiteres Modewort. Mehr Zeit für einen Test. Vorlesen der Aufgabe. Weniger Fragen. Oder weniger schwierige. Manche erhalten überhaupt keine Bewertung mehr, sondern eine Bestätigung: dass sie auch im Unterricht dabei waren («besucht»). Dafür sollen sie «selbstorientiert» lernen, damit sie «resilient» werden, und das «altersdurchmischt»: Das bedeutet, gerade für überforderte Schüler, nur noch mehr Stress. Solche Schwierigkeiten werden bagatellisiert – oder gleich ganz ignoriert.
Was soll daran integrativ und im angedachten Sinn sogar förderlich sein? Kinder wissen ganz genau, wo sie gut und wo sie schlecht sind. Keines freut sich im Skirennen über die Goldmedaille, wenn es den letzten Platz belegt. Trotzdem hat man heute das Gefühl, alle gleich auszeichnen zu müssen. Das ist nicht Chancengerechtigkeit, sondern eine selbstgerechte Inszenierung: Das Vorgaukeln von Fairness für alle zeigt die Ungerechtigkeit in Wahrheit umso brutaler auf. Die guten Schüler tragen mittlerweile einen Gehörschutz, damit sie sich konzentrieren können. So gross ist die Unruhe in vielen Klassenzimmern, was unvermeidbar ist, wenn nebst der Lehrerin noch eine Assistentin, noch ein Heilpädagoge und noch eine Logopädin im selben Raum unterrichtet, begleitet, coacht.
Zusätzlich sorgen auch Sondersettings ausserhalb des Unterrichts für Unruhe. Psychomotorik, zusätzliche Deutschförderung, ein Time-out: Immer wieder müssen Kinder lektionenweise die Regelklasse verlassen, um danach wieder zurückzukehren. Denken sie dann wirklich, dass sie gleich gut sind (oder behandelt werden) wie die anderen? Der renommierte Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach sagte in der NZZ, dass solche Lernformen den Schwächeren sogar schadeten. Es ist schwer verständlich, warum viele Lehrerverbände an diesem System, das viele Verlierer kennt, festhalten wollen.
Unbestritten ist nämlich, dass es in jeder Klasse einen Kipppunkt gibt: Gibt es zu viele verhaltensauffällige Kinder, leidet die Leistung von allen. Dieser Kipppunkt liegt bei 15, eher 20 Prozent. Das bedeutet: Wären von zwanzig Kindern vier in einem getrennten Unterricht besser aufgehoben, scheitert das integrative System.
«Anleitung, Üben, Korrektur»
Der nationale Lehrerverband mag nun, wie immer, einwenden, dass es einfach mehr Geld für mehr Ressourcen – Lehrer, Therapieangebote, Räumlichkeiten – brauche: Aber das ist eine Forderung, die gleich doppelt entlarvend ist: Erstens zeigt sie, dass die offiziellen Auskunftspersonen die Kinder weniger unterrichten und mehr behandeln wollen. Und zweitens ist der Glaube, dass mehr Geld die Probleme löst, ein zweifelhafter: Das Bundesamt für Statistik wies für 2021 aus, dass der Personalbedarf pro Schüler knapp 15 000 Franken im Schnitt betrug – 50 Prozent mehr als am Anfang dieses Jahrtausends. Das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) hat zudem nachweisen können, dass mehr Geld nicht zu klügeren Schülern führt. Das heisst nicht, dass sich Investitionen in das Bildungssystem nicht lohnten, aber für eine erfolgreiche schulische Karriere ist das Geld nicht entscheidend.
Ein solches Argumentarium gilt dem Bildungsestablishment aber als ewiggestrig. Diese Geisteshaltung ist deswegen auch an den pädagogischen Hochschulen (PH) dominant. Die Lehr- und Lernforscherin Esther Ziegler hat das Problem der PH in der NZZ auf den Punkt gebracht: «Man soll nicht mehr frontal unterrichten, soll weniger vorzeigen und erklären. Auch korrigieren ist ein Stück weit verpönt. Stattdessen sollten die Kinder selbstorganisiert arbeiten, in ihrem Tempo. Das führt dazu, dass sie ihre Aufgaben mit ihren Banknachbarn lösen. Vieles läuft über Abschreiben.» Kinder brauchten jedoch «Anleitung, Üben, Korrektur».
Das sind unerlässliche Grundkompetenzen. Aber zu langweilig für die Ausbildner? Heute definiert sich die Schule über Frühfranzösisch, teilautonome Schulen, selbstorientiertes und altersdurchmischtes Lernen, Output-Orientierung. Das klingt alles schön, aber gebracht hat es nichts. Die Leistungen werden immer schlechter, die Bürokratie ufert dafür aus. Weil verkannt worden ist: Die Schule kann man nicht von aussen entwickeln, das tun die Pädagogen, von Generation zu Generation, mit neuen Ideen, Absichten und Konzepten. Das sagen erfahrene Praktiker schon lange. Aber bei Reformen werden ausgerechnet die Lehrer oft gänzlich aussen vor gelassen.
Die angehenden Lehrer an den PH sollten wieder mehr auf ihre erfahrenen Kollegen hören. Wer noch ein Lehrer-Semi absolviert hat (und somit weiss, wie sich die Reformen ausgewirkt haben), stimmt wohl nicht zu, wenn an den PH gelehrt wird, dass Autorität etwas Schlechtes sei – was passiert, wie ein Lehrer in dieser Zeitung anschaulich erklärt hat.
Doch die Hochschulen sind nicht nur Hort des links-progressiven Denkens, sondern sie nivellieren auch das Ausbildungsniveau nach unten. Oft lehren berufsfremde Dozenten, die Zulassungsbedingungen werden wegen zu weniger Lehrer immer mehr gelockert. Dabei ergab eine Untersuchung, dass es gar keinen Mangel gäbe, würden alle Teilzeitlehrer ihr Pensum um nur 10 Prozentpunkte erhöhen. Auch die Präsenzpflicht wird gelockert. Es muss der Verdacht erlaubt sein, dass der Leistungsgedanke in dieser Ausbildung nicht mehr viel zählt und in den Klassenzimmern nicht mehr verbreitet wird. In der immer noch meritokratischen Gesellschaft kommt für die Schüler nach einer oftmals leistungsfreien Laufbahn (spätestens) dann der Schock, wenn sie ins Berufsleben eintreten oder studieren wollen.
Nüchtern betrachtet, ist die Sache klar: Es braucht die endgültige Abkehr von der integrativen Schule. Die Reform mag gut gemeint gewesen sein, aber sie hat die Schüler schlechter gemacht, die Lehrer zusätzlich belastet, ein Unterrichten ist so kaum möglich. Das hat – mit reichlich Verspätung – auch die Politik gemerkt. In verschiedenen Kantonen wird das Ende des Experiments gefordert. Nebst der SVP tut dies nun auch die FDP. Das ist ein Anfang.