Sport wird zum Zwang, und niemand schaut hin. Weil Hilfsangebote fehlen, versucht ein Betroffener, die Sucht allein zu überwinden.
Die Erschöpfung bricht an einem Julimorgen über Adrian Badertscher herein. Nur noch eine kurze Joggingrunde vor der Arbeit, sagt er sich. Badertscher, damals 32 Jahre alt, Hobbysportler, will am Berner Hausberg Gurten joggen gehen, durch dichten und steilen Wald. So wie fast jeden Tag.
Badertscher ist ein schneller Läufer. Normalerweise schafft er zehn Kilometer in weniger als vierzig Minuten. Doch an diesem Morgen ist alles anders. Der Körper rebelliert, die Beine widersetzen sich dem Kopf. Nur langsam spazieren geht noch. Die körperliche Leere ist plötzlich grösser als das Getriebensein.
Badertscher sucht sich professionelle Hilfe. Die Ärzte diagnostizieren eine Erschöpfungsdepression. Burnout. Er wird vier Monate krankgeschrieben, danach reduziert er das Arbeitspensum, erlernt Strategien, um mit dem Druck im Job besser umzugehen. Doch die Anspannung bleibt, er fühlt sich schlecht. Er ahnt, dass sein eigentliches Problem ein anderes ist.
Erst Jahre später wird er den Grund für seine Erschöpfung erfahren. Es war nicht die Arbeit, die ihn ins Burnout getrieben hat.
Es war seine Sucht nach Bewegung.
Sportsucht ist kaum erforscht
Sport war für Badertscher jahrelang ein Zwang, ein Tag ohne Bewegung fühlte sich für ihn wie verschwendet an. Wenn er in einem Tempolauf einen Kilometer langsamer als in vier Minuten lief, zweifelte er an seinem Selbstwert. Irgendwann verlor er das Gefühl für seinen Körper. Er joggte und bikte bei Schnee, Regen, Hitze, bei Erschöpfung und Müdigkeit. Statt mit Alkohol betäubte er die innere Unruhe mit Sport, seiner persönlichen Droge.
Die Sportwissenschafterin Flora Colledge forscht an der Universität Luzern zu Sportsucht, sie spricht lieber von Bewegungssucht. Sie sagt: «Grundsätzlich gilt: Je sportlicher, desto gesünder sind wir.» Sport stärkt nachweislich Körper und Psyche. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass er Depressionen vorbeugen und diese lindern kann. Sportsüchtige haben jedoch eine zwanghafte Beziehung zum Sport entwickelt, die körperliche Aktivität ist ihr Lebensmittelpunkt. So wird der Sport zum Problem.
Sportsucht ist wenig erforscht, sie wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch nicht als offizielle Krankheit anerkannt. Colledge ist überzeugt, dass Sportsucht zu den Verhaltenssüchten zählt, genauso wie Glücksspielsucht oder Computerspielsucht. Sie sagt: «Bewegungssüchtige sehen im Sport die einzige Lösung für Stresssituationen, machen trotz negativen Folgen weiter. Das macht eine Suchterkrankung aus.»
Colledge befasst sich mit der primären Bewegungssucht, der Verhaltenssucht. Sie geht von 1200 Personen in der Schweiz aus, die daran leiden und nirgendwo professionelle Hilfe erhalten. Zwar treiben auch Menschen mit Essstörungen exzessiv Sport, der Treiber ist bei ihnen aber die Gewichtsreduktion, das Hauptproblem das gestörte Essverhalten. Diese Personen werden in Kliniken für Essstörungen betreut.
Die Bewegung bestimmt den Selbstwert
Badertscher gehört zu den wenigen Betroffenen, die öffentlich über ihre Sportsucht sprechen. Für ihn ist es schwierig, sich Gehör zu verschaffen, ernst genommen zu werden – und die eigene Erkrankung zu verstehen. Wenn Badertscher von seiner Sportsucht erzählt, macht er teils minutenlange Pausen, ringt um die richtigen Worte. Die Erinnerung ist verschwommen. Er sagt: «Ich fühlte mich wie ferngesteuert. Ich war nicht mehr Herr über mich.»
Er tut sich schwer damit, klar benennen zu können, wann die Sucht begonnen hat. Er sei langsam hineingerutscht, sagt er. Vor zehn Jahren begann er, mehr Sport zu treiben. Er joggte mehrmals pro Woche, fuhr Rennrad und Mountainbike, unternahm Skitouren. Er wurde fitter, schlanker, muskulöser. Sport gab ihm ein Gefühl der Kontrolle. Er wollte mehr davon.
Am meisten Sport trieb Badertscher im Jahr 2018, bis zu fünfzehn Stunden waren es wöchentlich. Damals passte die Bewegung in den Alltag, machte ihm noch Freude. Er sagt: «Nicht die Menge des Sports ist entscheidend, sondern die Motivation. Man kann nur eine Stunde Sport pro Tag machen und trotzdem einen Zwang verspüren.»
Die Sportwissenschafterin Colledge bestätigt das. Sie hat sich auf extreme Triathlons spezialisiert, absolviert die Ironman-Distanz mit zusätzlichen Schwierigkeiten wie vielen Höhenmetern oder Kälte. Und trotzdem, sagt sie, sei sie nicht sportsüchtig: «Ich trainiere auf ein Ziel hin und gönne mir Erholungstage. Sportsüchtige tun das nicht.»
Badertscher trainierte allein, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Während der Pandemie pendelte er jeden Tag von Bern nach Chur. Die Tage waren lang, aber auf den Sport konnte Badertscher nicht verzichten. Er stand teilweise um 4 Uhr 30 auf, ging eine halbe Stunde laufen, machte ein kurzes Krafttraining, dann ging er auf den Zug. Oder holte die Bewegung am Abend nach.
Der Sport, der ihn einst geerdet hatte, wurde zum Stressfaktor. Badertscher kam nicht mehr zur Ruhe. Bei der Arbeit dachte er an den Sport, er war nervös und angespannt. Das Verlangen nach dem Suchtmittel dominierte seine Gedanken. Fachleute sprechen vom sogenannten Suchtdruck.
Badertscher funktionierte damals nur noch, Leichtigkeit und Freude waren aus seinem Leben gewichen. Rückblickend spricht er von «völliger Erschöpfung», einem «Hamsterrad», aus dem er sich selbst nicht befreien konnte. Sein Umfeld sorgte sich um ihn, war aber gleichzeitig überfordert. Eine Beziehung konnte er nicht eingehen, zu getrieben fühlte er sich.
Rückfälle gibt es immer wieder
Drei Jahre sind vergangen seit jenem Julimorgen, an dem die Erschöpfung Badertscher aus dem Strudel der Sucht gerissen hat. Es ist einer der letzten Sommertage des Jahres. Badertscher spaziert durch den Gurtenwald, wo er früher einen grossen Teil seiner Freizeit verbracht hat.
Er ist braungebrannt, trägt eine Sportbrille, um den Hals baumelt ein südamerikanischer Talisman. Er wirkt nachdenklich, aber gelöst. Der Abstand zum alten Leben tut ihm gut. Er hat im Winter einen Neuanfang gewagt, kündigte seine Stelle als Wirtschaftsinformatiker, ist ins Berner Oberland gezogen. Nun lebt er von seinen Ersparnissen. Er versucht, die Sportsucht zu überwinden – ein schwieriger und einsamer Weg.
Badertscher ist dankbar für die psychologische Unterstützung, die er auf seinem Weg erhalten hat. Doch um sein eigentliches Thema, die Sportsucht, ging es in den Sitzungen nie. Ein blinder Fleck im Gesundheitssystem. Er sagt: «Wir lernen zu leisten, doch wann lernen wir, gut für uns selbst zu sorgen?»
Die Sportwissenschafterin Colledge sagt: «Bewegungssüchtige erhalten kaum Unterstützung. Erst wenn Bewegungssucht als psychische Störung anerkannt wird, gibt es Therapieplätze für sie.» Mit ihrer Grundlagenforschung will sie die Datenlage verbessern. Und so die Krankheit sichtbarer machen.
Badertscher hilft sich selbst. Er hat deutschsprachige Fachliteratur zum Thema Sportsucht und Persönlichkeitsentwicklung verschlungen, einen Blog und einen Podcast gestartet. Irgendwann will er andere Betroffene coachen. Noch aber versucht er zu verstehen, wie er in die Sucht geraten ist.
Mittlerweile weiss er, dass er mit dem Sport ein geringes Selbstwertgefühl kompensieren wollte. Er sagt: «Ich definierte meinen Selbstwert über das Lauftempo.» Dass er so leistungsfixiert war, führt Badertscher auf seine Kindheit zurück. Er ist auf einem Bauernhof im Emmental aufgewachsen, bereits als kleiner Bub half er auf dem Hof mit. Ihm wurde vorgelebt, dass harte Arbeit Lob und Anerkennung bringt. Für sich selbst zu sorgen, hatte er nie gelernt. Badertscher sagt: «Eine Sucht ist immer auch eine Sehnsucht.»
Mitte 30 muss Badertscher nun lernen, was Selbstliebe bedeutet. Er hat Hobbys entdeckt, bei denen die Leistung nebensächlich ist. Er meditiert, backt Brot, spielt einmal pro Woche Volleyball, wandert. Er schläft mehr, nimmt sich Zeit fürs Nichtstun. Strukturen und Pausen helfen ihm, das richtige Mass an Bewegung zu finden. Er erlaubt sich bis zu fünf Stunden Ausdauertraining pro Woche, in diesem Zeitfenster darf die Leistung im Vordergrund stehen. Bei Skitouren oder beim Mountainbiken schaut er meistens nicht mehr auf die Uhr.
Sein Ziel ist es, irgendwann wieder einen normalen Alltag zu führen, einen guten Umgang mit der Sucht zu finden. Ein unbeschwertes Verhältnis zur Bewegung werde er wohl nie wieder zurückbekommen, sagt er. Rückfälle gibt es immer wieder. Kürzlich hat er sich dabei ertappt, dass er eine Zeitlang den Bewegungsdrang mit stundenlangen Spaziergängen kompensierte. Und ist er in den Bergen unterwegs, vergleicht er die Aufstiegsgeschwindigkeit manchmal mit früheren Läufen. «Das ist nicht zielführend», sagt er.
Denn er weiss: Früher war er zwar schneller, aber heute ist er ausgeglichener.