Studenten demonstrieren für Palästina. Vor allem aber gegen Israel. Dass die Agitation von den Hochschulen ausgeht, ist bezeichnend, wenn man weiss, was in den Geisteswissenschaften gelehrt wird.
Scheinbar, also nicht wirklich, ist schon alles von fast jedem gesagt – über den nahezu globalen neuen Juden- und Israelhass unserer Tage. Mir scheint, dass Ergänzungen notwendig sind.
Besonders auffallend ist die Vorreiterrolle des Wissenschafts- und Kulturbetriebes. Das überrascht viele. Warum eigentlich? Nichts ist neu daran. Die Überraschung beruht auf einem fundamentalen, zwar wohlwollenden und vom Geist der an sich segensreichen Aufklärung geformten, doch ganz und gar naiven Missverständnis über Wesen und Wirkung von Bildung: dass nämlich mehr Bildung zugleich höhere Moral und mehr Menschlichkeit ermögliche. Unheilige Einfalt. Besonders bezüglich der Geisteswissenschaften, also der «weichen Fächer». So werden sie vom Volksmund zu Recht genannt.
Schon der Physiker und Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), ein brillanter und zugleich alles andere als weicher Schriftsteller, verhöhnte in seinen «Sudelbüchern» vor allem seine geisteswissenschaftlichen Professorenkollegen als «gelehrte Barbaren».
Der ehemalige Präsident der in Baltimore beheimateten Johns Hopkins University Steven Muller (1927–2013) fügte seiner Studentenkritik ein selbstkritisches Professoren-Wir hinzu: «Wir bilden intelligente Barbaren aus.» Er kannte nicht die amerikanischen und europäischen Studenten von heute und gewiss nur wenige der 2023/24 aktiven Professoren, doch er kannte seine Pappenheimer. Die professoralen ebenso wie die studentischen.
Denken schliesst Gewalt nicht aus
Die wilden, teilweise auch mit Gewalt verbundenen Demonstrationen und Agitationen von Studenten und der sie anfeuernden oder verteidigenden Professoren – die von aussen dazustossenden Krawallmacher beiseite – sind kein Zufall. Auch nicht an den sogenannten Eliteuniversitäten. Schon gar nicht, wenn man Inhalt und Personal der jeweiligen Curricula in den weichen Fächern kennt.
Dort und auch bei uns an Europas «Elite»-Universitäten zählen in den weichen Fächern Bekenntnisse mehr als Kenntnisse. Das gilt besonders für Kenntnisse über Anders- und Querdenker im eigentlichen Sinne des Wortes. Wer sie kennt oder gar versteht, gilt unreflektiert und reflexhaft als Gegner oder gar Feind. Wie die antijüdischen und antiisraelischen «Schlachten» an westlichen Universitäten zeigen, ist der Weg vom Gewaltgedanken zur Gewalttat nicht weit. Denken und Gewalt, so die Schulweisheit, schlössen einander aus. Mitnichten. Oft waren und sind die Denker Brandstifter.
Sprechen wir von tatsächlichen Denkern, die ihr Denken auf Wissen basieren? Zweifel sind erlaubt. Zuverlässige Umfragen unter den antiisraelischen Studenten der amerikanischen «Elite»-Universitäten deckten auf: Brüllend fordern sie ein von den Juden Israels befreites Palästina «vom Fluss bis zum Meer», wissen aber nicht, dass dabei Jordan und Mittelmeer gemeint sind.
Dass Bildung und Moral, mit oder ohne akademische Titel, keine Einheit bilden, müsste eigentlich jeder wissen, der auch nur über geringes Geschichtswissen verfügt.
Viele wissen, was sie tun
Bildung immunisiert auch nicht gegen den Zeitgeist beziehungsweise ideologische oder kulturelle Moden. Ganz im Gegenteil. Forschungen zur historischen Demoskopie im 19. und 20. Jahrhundert belegen: Seit dem 19. Jahrhundert ist die Verführbarkeit des Geistes ein Kennzeichen der bürgerlichen Kultur. Der Philosoph Helmuth Plessner hat das bereits in den 1930er Jahren festgehalten.
Die Unmoral der in weichen Fächern Bestgebildeten trifft heute, wie seit je, Juden so sehr wie Nichtjuden, aber Juden ganz besonders. Man denke an die begnadeten Antisemiten Martin Luther und den deutschen Historiker Heinrich von Treitschke oder an die Vertreibung jüdischer Professoren durch ihre hochgebildeten Kollegen (aller Fakultäten) ab April 1933. Mit und ohne Bezug zu den Juden initiierte der vorzüglich gebildete Stalin, auch Mao oder Pol Pot, millionenfache Morde.
Wissen die sich bildenden oder selbst die gebildeten Barbaren der antijüdischen Demonstrationen, dass die Hamas in ihrer Charta dazu aufruft, jeden Juden, wo und wann auch immer, zu ermorden? Die wenigsten wissen es. Manche allerdings wissen es sehr wohl.
Meine quantitative Auswertung von Berliner und anderen deutschen Bestausgebildeten, also Hochschullehrern, die sich Anfang Mai 2024 namentlich und öffentlich mit den antijüdischen Demonstranten solidarisierten, zeigt ein deutliches Übergewicht an Islamwissenschaftern, Arabisten, Migrationsforschern, Philosophen, Soziologen, Ethnologen, Historikern oder Politikwissenschaftern – also Lehrenden weicher Fächer. Im Klartext: Was wir zurzeit erleben, ist die Selbstenttarnung der weichen Wissenschaft als willfährige Dienstmagd von Ideologie und Politik.
Der ethische Offenbarungseid
Die Massen der gegen Juden und Israel Demonstrierenden wiederholen, geradezu papageienhaft, die Parolen der BDS-Bewegung. Der BDS-Ausgangspunkt war eine Art Bürgerinitiative. Ihr Gründer war Omar Barghouti. Seine ganze Familie ist seit je im militärischen und im zivilen Widerstand gegen Israel aktiv. Die Bewegung verlangt den Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegenüber israelischen Institutionen. Auch im Wissenschafts- und Kulturbetrieb. Im Geist des Israel- und Judenhasses eine absolut folgerichtige, weil absolute Absicht. Im Sinne des eigenen Geisteslebens führt sie allerdings zur selbstverschuldeten Verflachung und Verdummung.
Warum? Weil die multinational-jüdisch-israelische Kultur- und Wissenschaftswelt zur internationalen Spitze gehört. Auch Antisemiten könnten aus der jüdischen Weltgeschichte lernen. Wer seinen Staat durch Vertreibung oder Mord judenrein umgestaltet, schadet nicht nur den Juden, sondern auch sich selbst. Jüngstes Beispiel Deutschland: Mit Juden bis 1933 die führende Wissenschafts- und Kulturmacht, figurierte es ohne oder mit nur ganz wenigen Juden unter «ferner liefen».
Nach dem Geist zur Moral. Über die Moralität von Individuen und Kollektiven ist ein Konsens in offenen Gesellschaften kaum erwartbar. Natürlich auch nicht über Juden und Israel. Pauschal «gegen Israel und Juden» zu sein, ist jedoch sowohl dumm als auch unmoralisch. Wenn dieses heute weltweit bekundete Bekenntnis zugleich eine unverhüllte Solidarisierung mit (Hamas-)Terroristen bedeutet, spreche man nicht über «Moral». Wer es trotzdem wagt, sagt eigentlich: «Verbrechen ist Moral.» Der ethische Offenbarungseid.
Wissenschaft und Kultur sind die Quellen, aus denen Politik, Medien und Gesellschaft schöpfen. Was in Wissenschaft und Kultur moralisch oder unmoralisch, faktengesättigt oder faktenfrei geboten wird, konsumieren und multiplizieren Medien, Politik und «die» Gesellschaft. Die hier beschriebenen Rahmenbedingungen und Abläufe erklären, weshalb Medien und Politik, zumindest juden- und nahostpolitisch, nicht besser sein können als diejenigen, die «es» angeblich «am besten wissen». Ohne die Selbstbefreiung der weichen Wissenschaften von den selbstgewählten Denk- und Wissensscheuklappen wird es juden- und nahostpolitisch keine Wende geben.
Jüdische Antisemiten
NGO aus der ganzen Welt unterstützen BDS. Zunächst vor allem die Ford-Stiftung. Ihr Gründer war der weltberühmte Autobauer Henry Ford, ein bekennender Antisemit. Seit 2011 ist der Rockefeller Brothers Fund Hauptgeldgeber. Dieser finanziert über pseudohumanistische Organisationen auch die Terrororganisationen Hamas und Volksfront für die Befreiung Palästinas. Kurzum: Hier kann man lernen, wie man international erfolgreiche Propaganda organisiert.
Nicht nur Nichtjuden, Muslime und Araber- oder Islamfreunde demonstrieren gegen Zionismus und Israel, sondern auch eine jüdische Minderheit. Deren Vertreter demonstrieren letztlich gegen sich selbst, weil sie, wie Juden seit eh und je, von aussen meistens in die jüdische «Schublade» gesteckt werden.
Wie die «zivilisierten Westjuden», die sich gegenüber den Nazi-Barbaren zu lange sicher wähnten. Sie meinten (und hofften), der NS-Judenhass richte sich «nur» gegen die orthodoxen, vormodernen Ostjuden. Diese wiederum verliessen sich auf «Gottes Hilfe». Spätestens in Auschwitz erkannten beide: Für Judenhasser sind alle Juden gleich. Der angepasste ebenso wie der widerspenstige Jude, der moralische «Judenrat» ebenso wie der unmoralische und auch der Kapo im KZ.
Die jüdischen Mit- und Vorläufer der antijüdischen Demonstrationen von heute erliegen dem gleichen, vom Prinzip Hoffnung abgeleiteten Denkfehler wie die Kulturjuden im 19. Jahrhundert. Selbst grosse Geister wie Ludwig Börne und Heinrich Heine mussten ihn leidvoll erkennen: Sie hatten gedacht, die Taufe sei das Eintrittsbillett für die europäische Kultur. Irrtum.
Ebenso heute: Jüdischer Juden- und Israelhass à la Judith Butler, Deborah Feldman oder Susan Neiman scheint wie, ist aber eben nicht die Eintrittskarte für den westlichen Wissens- und Kulturbetrieb. Sollten sie mit ihren Mitstreitern obsiegen, wird man sich ihrer entledigen. Denn dann hat der Jud seine für die Nichtjuden segensreiche Arbeit vollbracht. Der Jud kann gehn. «Jud bleibt Jud», heisst es in Max Frischs Stück «Andorra». «Tut nichts, der Jude wird verbrannt!», sagt der Patriarch von Jerusalem in Lessings «Nathan der Weise». Feldman und ihresgleichen wissen nicht, was sie tun.
Unbestreitbar zählen, besonders in den USA, doch auch in Westeuropa, Juden zu den gegen Israel demonstrierenden Massen. Folglich, so das willkommene Alibi der nichtjüdischen Juden- und Israelhasser, könne ihr Anliegen nicht antisemitisch sein. Korrekt? Man schaue beidseits. Jenen Nichtjuden sind ihre jüdischen Mitstreiter, zumindest zeitweise, ein nützliches und daher willkommenes Alibi. Sie wären dumm, darauf zu verzichten.
Was der Westen nicht verzeiht
Die Rolle jüdischer Antizionisten hat Tradition und signalisiert zugleich Emanzipation. Tradition, weil der Zionismus bis zum Holocaust von der Mehrheit der säkularen und orthodoxen Juden abgelehnt wurde. Von den Orthodoxen aus religiösen Gründen, von den Säkularen, weil sie überbeflissen beweisen wollten, was sie tatsächlich waren – und auch heute sind: loyale Bürger ihres jeweiligen Staates.
Akkulturiert, engagiert, gebildet, deshalb wirtschaftlich erfolgreich und somit keine Soziallast. Der ideale Citoyen – trotz der Verbundenheit der meisten Diasporajuden mit Israel. Denn diese Verbundenheit bedeutet nur selten Einwanderung nach Israel, sondern ist eine Art Lebensversicherung für den Fall der Fälle.
Solange Israel im eigenen Land und international beliebt war, hielt der Honigmond zwischen Juden und Nichtjuden in den USA und im Westen an. Das hat sich seit Mitte der siebziger Jahre und danach noch stärker geändert.
Zum einen sind die Juden, das traditionelle Opfervolk, anders als die Nachfahren der «Tätervölker» nach dreitausend Jahren Diskriminierungen und erst recht nach dem Holocaust wehrhaft. Zum anderen beschritt Israel ab 2001 in einer wie auch im Westen ideologisch eher antikapitalistischen und zunehmend leistungsfeindlichen Gesellschaft unter der Regie von Netanyahu als Finanz- und dann Ministerpräsident den Weg zu Turbokapitalismus und Hochleistungsgesellschaft. Unverzeihlich. Noch unverzeihlicher: Israels Wissenschaft und Wirtschaft boomte. Die Strafe wieder einmal: Neid.
Zudem interpretierte und dirigierte die Netanyahu-Koalition bis zur Blutorgie der Hamas die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative anders als der westliche Konsens. Der Streit schwappte von Israel über auf den Westen, wo das Problem nicht einmal ansatzweise erkannt und noch weniger benannt wurde: ob und inwieweit sich in einer Demokratie die Rechtsprechenden über die gesetzgebende Gewalt hinwegsetzen könnten.
Weh dem, der erfolgreich ist!
Die Antwort ist diffiziler, als der aufgeheizte israelische und internationale Disput suggerierte, denn die Knesset (Parlament) wird direkt vom Souverän (Volk) gewählt. In Israel, anders als in vielen westlichen Demokratien, kooptiert sich die Judikative aber weitgehend selbst. Ohne direkte oder indirekte Volkswahl und demokratische Kontrolle.
Ausserdem hat sich Israel besonders in der Netanyahu-Ära zunehmend in Richtung einer jüdischen Theokratie entwickelt. Demografisch wurde Israels Orthodoxie inzwischen so gewichtig, dass politisch niemand an ihr vorbeikann, der eine Koalition bilden will. Weltpolitisch ist Israels Theokratisierung im Westen, besonders im eher a- und antireligiösen Wissenschafts- und Kulturbetrieb, ein Affront.
Einerlei. Netanyahu ist derzeit – zu Recht oder nicht – weltweit noch verhasster als Israel. Zugleich wird Israel überall mit Netanyahu gleichgesetzt. Das bedeutet: Hass auf Israel. Zunehmend auch unter Juden. Ja, Israels Uhren gehen anders, aber sie gehen demokratisch.
Nicht übersehen sollte man, dass der Kultur- und Wissenschafts-Antisemitismus seit dem 20. Jahrhundert auch eine Art Vatermord ist. Die bedeutenden jüdischen Dichter, Denker und Wissenschafter sind Legion. Weil die jüdische Gemeinschaft bereits vor rund zweitausend Jahren eine Art allgemeiner Schulpflicht etablierte. Westeuropa begann damit um 1800. Jahrtausendelanges Geistestraining fördert und bewirkt gute und beste Geistesleistungen.
Spitzenleistungen und -ergebnisse werden in der Regel von denen anerkannt und bewundert, die nicht in direkter Konkurrenz zum Leistungsträger stehen. So gesehen ist der Spruch «Nur tote Juden sind gute Juden» nicht so platt-polemisch wie es scheint, denn tote Juden sind keinem Lebenden Konkurrenz. Weh dem erfolgreichen Juden (und Nichtjuden!), der als Wettbewerber gesehen wird oder tatsächlich einer ist.
Neid und Hass
Womit wir beim «Postkolonialismus» wären, der neuen Heilslehre der Israel- und Judenhasser. Auch da schimmern in der postkolonialen Welt sowie bei ihren akademischen und kulturaktivistischen Blechtrommlern Neid und Hass auf den konkurrierenden Leistungsträger durch – Israel. Legitimationsbasis ist die Legende, der jüdische Staat sei Produkt, Folge und Speerspitze des nur angeblich beendeten, natürlich westlichen Kolonialismus.
Kontrafaktisch wird bewusst unterschlagen, dass Israel im Befreiungskampf der Zionisten gegen die britische Mandats-, richtiger: Kolonialmacht in Palästina in den Jahren 1944 bis 1948 war. Bis 1952 versuchte London über seinen damaligen Vasallen sowie bis 1958 Jordanien und der Irak Israel zu delegitimieren und zu eliminieren.
Israel ist kaum älter als alle postkolonialen Staaten Afrikas. Israel ist wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell höchst erfolgreich. Welcher postkoloniale Staat Afrikas ist es?
«Alle Befreiungen, die die Moderne seit ihrem Beginn hervorgebracht hat, haben sich – früher oder später – ins Gegenteil verkehrt», schreibt Christoph Menke in seiner lesenswerten «Theorie der Befreiung». Auf den Schwarzen Kontinent trifft diese bittere These leider besonders zu. Die postkolonialen Völker Afrikas taumelten von der kolonialistischen in die eigenstaatliche Ausbeutung.
George Orwell lässt grüssen
Der Vorwurf des Postkolonialismus ist ein Instrument des ideologischen Weisswaschens dieser Ausbeutung. Teil zwei der Tragödie: Westliche Entwicklungsmillionen zementieren die Ausbeutung der Afrikaner durch Afrikaner. Teil drei: Westliche sowie einheimische, privilegierte Akademiker liefern im Namen des Antikolonialismus die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung für die Ausbeutung der Afrikaner durch Afrikaner. George Orwell lässt grüssen: «Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.»
Juden und Nichtjuden sei ins Stammbuch geschrieben: Der jetzt wieder offen ausgebrochene, «wissenschaftlich» unterfütterte Juden- und Israelhass ist Beginn (oder Fortsetzung?) des selbstverschuldeten wissenschaftlichen und kulturellen und dadurch auch wirtschaftlichen Niedergangs juden- und israelfeindlicher Gesellschaften beziehungsweise von Gesellschaften, die diesen Psychoterror lautstarker Minderheiten dulden. Der Westen geht nicht unter, aber er schafft sich ab.
Ich bleibe Optimist. Die Juden haben den mörderischen und selbstmörderischen Hass ihrer Feinde seit dreitausend Jahren überlebt. Sie werden ihn weiter überleben.
Der Historiker Michael Wolffsohn ist Autor der Bücher «Eine andere Jüdische Weltgeschichte» und «Wem gehört das Heilige Land?».