Insta-poetry
Die Poeten aus dem Netz: Lyrik ist bei jungen Menschen so beliebt wie schon lange nicht mehr.
Die Zahl der Personen, «die einen neuen, einigermassen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen», bezifferte Hans Markus Enzensberger in einem Essay 1989 auf +/–1354. Als «Enzensbergersche Konstante» ist die Zahl bekannt, weil es ziemlich sicher weder 1989 noch sonst jemals mehr Menschen gab, die ernsthaft Lyrik lasen. Lyrik ist die unpopulärste literarische Gattung. Auf dem Buchmarkt machen Gedichtbände unter 1 Prozent aus. Doch der Buchmarkt ist nicht mehr das Mass aller Dinge, wenn es um die Popularitätswerte von Poesie geht. Referenzmedium ist heute Instagram.
Ausgerechnet auf der Bild- und Videoplattform bricht sich seit zehn Jahren eine Lyrikrevolution Bahn, gepflastert mit Canva-Kacheln und vom gattungsbezeichnenden Hashtag #instapoetry gezäunt. Eine wachsende weltweite Öffentlichkeit frönt dort hingerissen Dichtkunst wie dieser: «There will be people / in this life / who will cut you open / just to see / what you are made of . . . / show them / it’s love.»
Verfasserin der Zeilen ist Donna Ashworth, «author and lover of words». Ihre 1,6 Millionen Instagram- und Facebook-Fans lieben ihre mit Schreibmaschine auf schweres Papier getippten und abfotografierten Mutmachverse, die die 48-Jährige aus den schottischen Bergen auch per Video in einfachstem, noch an norwegischen Fjorden verständlichem Englisch mit Ringlichtschein in den Augen einspricht: «What if you realize, too late, that your cellulite and tummy rolls were adorable actually and should never ever have been enough to stop you having fun?»
Während die Unesco die Lyrik am 21. März wieder mit dem Welttag der Poesie vor dem Aussterben retten will, warnte der «Guardian» im Januar schon vor dem Gegenteil: vor «alarmierend» hohen Lyrikabverkäufen im Land von Lord Byron und Sylvia Plath – durch Donna Ashworth, die zurzeit erfolgreichste zeitgenössische Dichterin Grossbritanniens. Acht Bände füllen ihre Instagram-Trostgedichte bereits, fünf davon hielten sich Ende 2023 unter den Top 20 der britischen Lyrik-Besteller. Der jüngste, «Wild Hope», erschien im Herbst. Im Januar stand er immer noch auf Platz 2 der Bestsellerliste der «Sunday Times».
Um fair zu bleiben, Dehnungsstreifen («mother nature’s paint brush») sind nicht das vorherrschende lyrische Motiv in diesem Fach. Populär wurde Instapoetry ursprünglich als Ausdrucksform marginalisierter Sprechergruppen. Ziemlich genau rückdatierbar hat die Verslawine 2015 die Punjabi-Kanadierin Rupi Kaur losgetreten, die ihre Gedichte zunächst unbemerkt von einer grösseren Öffentlichkeit auf Tumblr veröffentlicht hatte, aber dann über Nacht zum Instagram-Star wurde.
Die Plattform hatte aus diffus gebliebenen Gründen ein Bild von Kaur gelöscht, auf dem sie sich mit Menstruationsblut im Schritt ihrer Jogginghose zeigte. Auf der Welle des davon ausgelösten Aufschreis gewann Kaur 4,5 Millionen Instagram-Follower und verkaufte ihren ersten, kurz zuvor im Selfpublishing erschienenen Gedichtband sowie einen zweiten 8 Millionen Mal in 42 Sprachen. Vor Kaur hatte als Branchenerfolg gegolten, wenn der letzte, postum erschienene Lyrikband von Sylvia Plath 15000 Käufer fand.
Kaurs neustes Buch heisst «Healing Through Words». Damit greift sie schon im Titel die meiststrapazierte Vokabel der Instapoetry auf. Immerzu geht es um «Heilung» für eine junge Generation, die sich offenbar als Schmerzzentrum versteht: Heilung von emotionalen Wunden, die Eltern, Partner, eine unsensible Mitwelt schlagen, von Traumen im Allgemeinen und Depression, von Gender und Race – aber erstaunlich wenig von Class.
Hier würde doch die Text-Bild-Schere zu weit aufgehen, inszeniert eine Rupi Kaur sich doch in jedem zweiten Posting in barockem Ornat als fünfte Kardashian. Zu noch mehr Glamour hat es bisher nur die Dichterin Amanda Gorman gebracht, die bei Joe Bidens Inauguration «The Hill We Climb» rezitierte und heute Instagram-Poetin mit 3,7 Millionen Fans ist, Modell der Prada-Sommerkollektion 2024 und Oktober-Girl im Pirelli-Kalender.
So bricht Instapoetry eben mit germanistischen Normen, Reimschemen und poetischen Metren genauso wie mit dem Klischee vom armen Dichter. Kaum eine Poetin oder ein Poet, die oder der unter dem «Link in Bio» nicht noch Jutebeutel, Grusskarten oder Wandteppiche mit Versen verkauft. Als inoffizielle Richtschnur für ein gelungenes Gedicht kann gelten: Es sollte auf eine Kaffeetasse passen.
Ungeschlagen ist in dieser Disziplin der Schweizer Martin Fontanellaz. Als @schere_stein_herz beackert der 31-jährige Sozialpädagoge aus dem Kanton Bern mit seiner Lyrik planmässig, wie er sagt, die noch unterbesetzte Nische «Bad Romance». Und zwar nicht in der Lingua franca Englisch, sondern auf Deutsch. Für seine 4130 unglücklich verliebten Follower dichtet er beispielsweise: «Es wäre hart, dich zu verlieren, / jedoch würde ich im Gegenzug / vielleicht meine Würde wieder / finden.» Oder: «Hast dir einfach / mein Herz gekrallt, / ohne mir deins zu geben.» Reduzierter geht es nicht. Fast möchte man mit Stefanie Sargnagel fragen: «Ab wann / geht eigentlich / 1 Text / als Gedicht / durch?» Aber vielleicht wäre das zu spiessig gedacht.
Eine erste akademische Auseinandersetzung mit Instapoetry kam 2022 zu dem interessanten Ergebnis, dass sich auf dem Gebiet der Lyrik eventuell schlicht wiederholt, was vor Jahrzehnten schon in der Musik geschah: Damals, so schreibt Niels Penke von der Uni Siegen, habe sich die Pop-Musik bildungsvergessen, bewusst antielitär von vorgängigen Formen der Musikkultur abgespalten. Pop ergänzte das Audioelement dabei um eine visuelle Dimension – den Star in seiner ganzen Körperlichkeit, Poster, Musikvideos und Plattencover – und um eine soziale Dimension, nämlich das Fantum in seiner Bindung zum Star.
Instapoetry könnte nun als eine Art Pop-Lyrik den Weg wiederholen, indem sie sich ebenso bildungsvergessen, ja nachgerade antigermanistisch von der klassischen Dichtung abspaltet. Auch sie ergänzt den Text um einen «Bildapparat», bestehend aus Fotos, Grafiken und Videos rund um den Dichterstar, der wie ein Musiker im Erfolgsfall mit Lesungen auf Tournee geht.
Das Ganze noch erweitert um eine soziale Dimension, die es so in der Lyrik alter Schule auch noch nicht gab: das Fantum in der Social-Media-Community, die ohne Bühnengraben mit ihren Stars kommuniziert. Rupi Kaur und Martin Fontanellaz müssen täglich mit ihren Followern interagieren, weil der Algorithmus sonst ihre Gedichte herabstufte und sie im Orkus verschwänden.
Nicht nur für Marco Berg, den Co-Präsidenten des Schweizer Verbandes Pro Lyrica, ist Instapoetry eine «phantastische Demokratisierung» – weg von den Schleusenwärtern des elitären Kulturbetriebs, den Feuilletons, den Buchpreisjurys und den wenigen Verlagen, die überhaupt noch Lyrik ins Programm nehmen. Nicht solche geschlossenen Zirkel entschieden hier, was veröffentlicht werde und was nicht, sondern «die Leute». Abertausende könnten so begeistert werden.
Ist der Untergang des Abendlandes nah, wenn «die Leute» in demokratischer Abstimmung statt nach Plath nach nachdenklichen Sprüchen mit Bildern verlangen? Wahrscheinlich nicht. Ob der Algorithmus einer privatwirtschaftlich kontrollierten Social-Media-Plattform den Lyrikerinnen und Lyrikern langfristig als Gatekeeper aber besser bekommt als der elitäre Kulturbetrieb, ist nicht so sicher. Relevant ist für den Algorithmus nur, was populär ist. Härter wählte nicht einmal Marcel Reich-Ranicki aus. Für die Enzensbergersche Konstante bieten sich damit stabile Perspektiven. Egal, wie viel Lyrik ihren Weg künftig noch von Instagram in die Buchläden findet, einen neuen, einigermassen anspruchsvollen Gedichtband werden +/–1354 Personen in die Hand nehmen.